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Reife Leistung!

Die großen Lehrwerke nehmen in der akademischen Ausbildung einen besonderen Platz ein, prägen sie doch das Denken des Studierenden nachhaltig. Leider geht scheinbar – wie vieles – auch die Tradition der großen deutschen Lehrbücher langsam zu Ende. Zu übermächtig scheint die – überwiegend angelsächsische – Konkurrenz. Ein Zeichen der Zeit? "Der Wedler" ist das letzte umfassende originär deutschsprachige Lehrbuch seines Faches. Und es ist beileibe nicht das Schlechteste! Im Gegenteil: Es kann sich ohne erkennbare Anstrengung gegen jeden Mitstreiter behaupten.

Der Aufbau von Gerd Wedlers "Lehrbuch der Physikalischen Chemie" unterscheidet sich in seiner didaktischen Konzeption von den meisten anderen Lehrbüchern des Fachs. Der erste, 230 Seiten umfassend Teil, der sich in sechs thematische Abschnitte gliedert, bildet eine leicht les- und verstehbare Einführung in die "PC", wie das Fach von seinen Adepten wie ihren Zaubermeistern informell genannt wird. Abgekoppelt vom Rest des Werkes könnte es als Taschenbuch ein eigenständiges Dasein als elementare Einführung in die "PC" für Nebenfachstudenten führen (seltsam, dass nach fünf Auflagen scheinbar nie jemand auf die Idee gekommen ist, diese Alternative für diejenigen anzubieten, die das "volle Programm" nicht brauchen oder wollen).

Denjenigen, der weiterlernen will oder muss, machen diese einführenden Kapitel gewissermaßen "schmerzlos" (oder doch fast) mit wichtigen Begriffen und Konzepten des Faches vertraut, bevor die ausführlichen und in große Tiefen vordringen Detaildiskussionen folgen – eine Art Aufwärmprogramm vor dem großen Hindernislauf.

Der Rest des wahrhaftig das Fach vollständig abdeckenden Werkes gliedert sich in vier große, übergreifende Themenbereiche: Chemische Thermodynamik, Aufbau der Materie, statistische Theorie der Materie, Kinetik. Zum guten Schluss fehlen auch ein kurzer Essay über die Entwicklung der Physikalischen Chemie und rund fünfzig Seiten mathematische Anhänge nicht. Gerade diese Anhänge werden erfahrungsgemäß von den nicht immer mit der abstraktesten aller Sprachen auf Du und Du stehenden Aspiranten der Chemie mit Freude und Erleichterung aufgenommen. Auf den knapp tausend Seiten des Haupttextes wird das gesamte Rüstzeug ausgebreitet und ausführlichst erklärt, welches der angehende Chemiker in diesem Fach zu bewältigen hat. Für Nebenfach- und Lehramtsstudenten bietet das Buch einen overkill, auf den man bei Bedarf immer zurückgreifen kann, wenn man es genauer wissen will.

Lehrbücher der Physik und der Physikalischen Chemie gehören oft einer von zwei Kategorien an: solche, die äußerste mathematische Stringenz bei gleichzeitiger Wortkargheit zum Prinzip erklären, und solche, die es dem Benutzer möglichst einfach machen wollen und dann häufig an einem Punkt abbrechen, bevor die Erklärung der Sachverhalte ein wirkliches Verständnis erst ermöglicht. Das hier besprochene Buch hat das Kunststück fertig gebracht, dem Leser die Phänomene, um die sich die "PC" dreht, wirklich verständlich zu machen, ohne dabei im Hinblick auf die in physikalischen Kreisen hochgehaltene Stringenz Abstriche zu machen. Mit dem Instinkt des guten Lehrmeisters versteht es der Autor, Konzepte, die bekannt dafür sind, besonderen Widerstand gegen ihr Erfassen zu leisten, auch besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Natürlich muss niemand – eine Vorstellung, die Studienanfänger oft bei der ersten Begegnung mit diesen Werken arg erschreckt! – am Ende alles auswendig wissen, was in einem großen Lehrbuch steht; je ausführlicher jedoch die Erklärungen und Herleitungen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man es am Ende auch tatsächlich verstanden hat. Das, was als Präzenzwissen dann in Prüfungen tatsächlich gefragt sein kann, findet der Lernende im "Wedler" in Form von schattierten Kästen, die Kernaussagen, Merksätze und wichtige Formeln hervorheben.

Große, umfassende Lehrbücher aus "einem Guß", verfasst von einem einzigen Autor, haben heutzutage beinahe Seltenheitswert; zu diversifiziert sind praktisch alle Wissenschaftszweige, zu rasant ist der Zuwachs neuer Erkenntnisse, die "zur Kenntnis" genommen werden müssen. Ist es Zufall – oder hat es Methode –, dass gerade in der Physikalischen Chemie derartige bewunderswerte Einzelleistungen anzutreffen sind? Das führende angelsächsische Werk, welches in Übersetzung auch bei deutschen Studenten beliebt ist, ist ebenfalls von einem lone rider verfasst worden. Wie das Duell der Giganten ausginge, stellte man sie direkt gegenüber, ist kaum vorauszusagen. Jeder Autor und jedes Buch, so gut es auch immer sein möge, hat seine Stärken beziehungsweise (manchmal unbewusst gesetzte) Schwerpunkte, die dem jeweiligen Autor liegen und Stellen, die mehr Pflicht als Kür sind. Was die wirklich großen Lehrbücher auszeichnet, ist die größtmögliche erreichbare Homogenität und Balance. Der "Wedler" schlägt sich in dieser Beziehung gut und braucht den übermächtigen Kombatanten aus England nicht zu fürchten. In Sachen Kompetenz und Didaktik such das Werk seinesgleichen. Der Käufer schließlich hat wieder einmal die wohlige Qual der Wahl.

Leider hat sich in gewissen Kreisen der deutschen "Academia" die kuriose Ansicht festgesetzt (und wird durch Tradition weitergegeben), dass das Schreiben von Büchern (Lehrbüchern und mehr noch populärwissenschaftlichen) eine Tätigkeit sei, die hinter der Forschung weit zurückstehe. "Der schreibt jetzt auch ein Lehrbuch, dem fällt halt in der Forschung nichts mehr ein", ist ein praktisch wörtliches Zitat, welches ein deutscher C4-Professor einmal in Gegenwart des Rezensenten fallenließ. Glücklicherweise denken (noch!-?) nicht alle so. Gerd Wedler jedenfalls hat seinen Beitrag geleistet. Im Angesicht der Jahr um Jahr aufs neue bescheinigten Bildungskrise im "Land der Dichter und Denker" ein erfreuliches Ereignis!

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