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Poincarés Vermutung

Selten macht ein mathematisches Problem derartige Schlagzeilen. Dass eine prominente Vermutung ein Jahrhundert lang den Bemühungen der größten Meister trotzt, ist schon ungewöhnlich; dass aber derjenige, der es endlich geschafft hat, Ruhm, Ehre und die attraktivsten Stellenangebote schlicht ablehnt, löste ein gewaltiges Medienecho aus (Spektrum der Wissenschaft 10/2006, S. 108). Donal O’Shea, Mathematikprofessor am Mount Holyoke College in Massachusetts, erzählt nun nicht nur die Geschichte von Grigorij Perelman, sondern auch die Mathematik dazu. Es ist ein Meisterwerk geworden.

Die titelgebende Vermutung des französischen Mathematikers Henri Poincaré (1854 – 1912) ist eines der sieben Jahrtausendprobleme, auf deren Lösung das Clay Mathematical Institute im Jahr 2000 ein Preisgeld von je einer Million Dollar ausgesetzt hat. Es geht darum, ob und wie wir eine Frage nach der möglichen Gestalt unseres Universums im Rahmen der Topologie anhand einfacher Kriterien beantworten können (Spektrum der Wissenschaft 9/ 2004, S. 86). Topologie ist das Teilgebiet der Mathematik, das Objekte nicht anhand von Größen wie Winkeln oder Längen beschreibt, sondern die "stetigen Verformungen" untersucht, mit denen ein Objekt in eine andere Gestalt überführt werden kann, ohne es dabei zu "beschädigen", also zum Beispiel zu zerreißen oder Teile davon zusammenzukleben.

Zwei Kapitel über den Löser des Problems bilden den Rahmen des Buchs: Zu Beginn beschreibt der Autor, wie Grigorij Perelman 2003 bei einem Vortrag in Cambridge (Massachusetts) seinen Beweis der Poincaré-Vermutung der Öffentlichkeit vorstellte. Am Ende steht ein Kapitel über den Internationalen Mathematikerkongress in Madrid 2006, zu dem Perelman nicht erschien, weil er es ablehnte, dort mit der Fields-Medaille, dem "Nobelpreis für Mathematiker", ausgezeichnet zu werden.

In einer ersten Rückblende erklärt der Autor, welche dreidimensionalen Mannigfaltigkeiten (das sind die Gegenstände der Vermutung) es überhaupt gibt und was genau Poincaré vermutete. Die dafür notwendigen Begriffe führt er geschickt und anschaulich ein, indem er zunächst die Frage nach der Gestalt der Erdoberfläche abhandelt, also seit wann wir Menschen überhaupt wissen können, dass wir auf der Oberfläche einer Kugel leben und nicht etwa auf einem Zylinder oder einem Torus.

Damit hat O’Shea die Reiseroute abgesteckt und stellt in der zweiten Rückblende wichtige Mathematiker und ihre revolutionären Ideen vor, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. In den individuellen Schicksalen und Biografien ihrer Entdecker verleiht der Autor den mathematischen Theoremen ein persönliches Gesicht.

Er beginnt bei dem antiken Mathematiker Euklid und seinen "Elementen". Ausgehend von den überlieferten Rechenregeln der Babylonier formulierte Euklid klar die zu Grunde liegenden Definitionen und trennte Axiome und Postulate – also die Grundannahmen und Forderungen, die man ohne Nachweis als wahr annimmt – von mathematischen Sätzen, die aus diesen abgeleitet werden. Mit dieser enormen Abstraktionsleistung schuf Euklid die Grundlage für die Mathematik der folgenden Zeit.

Vor allem sein "Parallelenpostulat" rief dabei die Kritiker auf den Plan: Es besagt, dass es durch einen Punkt außerhalb einer Geraden genau eine Parallele zu dieser Geraden gibt. Es dauerte mehr als 2000 Jahre, bis János Bolyai (1802 – 1860) ein Modell einer "nichteuklidischen Geometrie" entwickelte, in der das Parallelenpostulat falsch ist. Bolyai war bis an sein Lebensende frustriert, nachdem der "Fürst der Mathematiker", Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855), ihm mitgeteilt hatte, dass seine Ergebnisse zwar korrekt, Gauß aber bereits bekannt seien. Dieser wiederum hatte seine Entdeckung nicht publik gemacht, weil er sich ihrer Sprengkraft bewusst war und keine Revolution auslösen wollte, da er stets um seine Stellung fürchtete.

Die zweite Hauptperson des Buchs ist Bernhard Riemann (1826 – 1866). In seiner Habilitationsvorlesung schuf er die gesamte Geometrie neu, indem er die zu untersuchenden Objekte von ihrer "geometrischen Struktur" (mit Eigenschaften wie etwa der Krümmung) unterschied. Damit lüftete er auch das Geheimnis des Parallelenpostulats: In Riemanns Sprache ausgedrückt gilt es nur in Räumen, deren Krümmung überall gleich null ist.

Zentrale Kapitel des Buchs beschreiben, wie Henri Poincaré im Lauf seiner topologischen Studien seine Vermutung schließlich in der endgültigen Fassung formulierte. Dabei spornte die Rivalität mit Felix Klein (1849 – 1925) beide immer wieder zu Höchstleistungen an, brachte sie aber zugleich auch an die Grenzen ihrer Kräfte.

In diesem Abschnitt wählt der Autor ein recht hohes Tempo und verlangt dem Leser einiges an geometrischem Vorstellungsvermögen ab, um auch bei schwierigeren Themen schnell zu den interessanten Fragen zu gelangen. Hier fühlt man sich von der Vielzahl der neuen Begriffe etwas überrumpelt.

Nun ist die Vermutung jedenfalls formuliert, und wir sind im 20. Jahrhundert angekommen. O’Shea beschreibt, wie zahlreiche bedeutende Mathematiker mit ihren Beweisversuchen scheiterten, dabei aber Verbindungen zwischen der Topologie und anderen Disziplinen der Mathematik, vor allem der Algebra, knüpften. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts rückte William Thurston die Geometrie wieder mehr ins Zentrum der Betrachtungen.

Schließlich endet die Reihe bei Perelman und seinem Beweis der Vermutung. Dieser scheut das Rampenlicht so sehr, dass er seine Ergebnisse nicht in einer Zeitschrift veröffentlichte, sondern sie nur auf einem Preprintserver im Internet zur Verfügung stellte, jede Art von äußerer Anerkennung ablehnte und die Stellenangebote amerikanischer Spitzenuniversitäten ignorierte.

Insgesamt gelingt dem Autor in diesem Buch eine ausgewogene Mischung aus Anekdoten und historischen Schilderungen einerseits und mathematischen Erläuterungen andererseits. Man findet im gesamten Text nicht eine Formel, stattdessen wird der Blick des Lesers stets geschickt auf das Wesentliche gelenkt. Allzu technische Details einiger Begriffe werden aus dem Text ausgeklammert und ausführlich im Anhang erläutert. Dieser enthält neben umfassenden Fußnoten, Quellenangaben und Literaturtipps zum Weiterlesen auch ein Glossar zentraler mathematischer Begriffe, ein Verzeichnis der im Text genannten Personen sowie eine Zeittafel, auf der die Entwicklung der Mathematik in einen allgemeinen historischen Kontext gestellt wird.

Leider hat der Verlag es offensichtlich nicht für nötig befunden, die mathematischen Fachbegriffe von einem Mathematiker übersetzen zu lassen. Infolgedessen leidet der Lesefluss an mehreren Stellen unter unnötig verworrenen Erläuterungen mathematischer Begriffe. Wenn aus den reellen Zahlen gelegentlich "reale Zahlen" werden, traut man seinen Augen kaum. Der Gesamteindruck des Buchs wird dadurch ein wenig getrübt.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft, 10/2007

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