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Früh übt sich

Wie alt waren Sie, als Sie anfingen zu denken? Drei oder vier Jahre? An frühere Eindrücke können Sie sich wohl kaum erinnern. Dabei fangen Babys unmittelbar nach der Geburt an zu lernen. Und denken bereits lange, bevor sie richtig sprechen können.

Seit rund 70 Jahren schon ergründen vor allem Psychologen die Denkfähigkeit von Säuglingen. Sabine Pauen von der Universität Heidelberg legt mit "Was Babys denken" nun eine Zwischenbilanz dieser Forschungsarbeit vor, die den gegenwärtigen Stand des Wissens anschaulich und kurzweilig vermittelt.

Das Fundament für unser Denken wird während der embryonalen Entwicklung gelegt: So kommen Babys mit vielen Milliarden Nervenzellen auf die Welt, die sogleich anfangen, die eingehenden Informationen zu verarbeiten. Hören, Sehen oder Riechen: All diese Sinneserfahrungen bedingen, dass sich Neurone verknüpfen und sich das Denken differenziert entwickelt.

Nach drei, vier Monaten fangen Babys an, Kategorien zu bilden. Sie unterscheiden unbelebte Objekte von Tieren oder Menschen. Ihr Wissen wächst ständig. Immer besser grenzen sie Qualitäten und Quantitäten voneinander ab – und erfüllen so die Voraussetzungen für mathematisch- physikalisches und soziales Denken. Pauen nennt hier zwei Dinge, die das Lernen und Denken der Kleinen ausmachen: ihre Fähigkeit zu abstrahieren und zu differenzieren.

Doch wie untersucht die Wissenschaft eigentlich die Denkfähigkeit von Probanden, die noch gar nicht sprechen können? Ein großes methodisches Problem, gibt Pauen unumwunden zu. Einige Forschungsergebnisse seien daher auch umstritten. So setzen Wissenschaftler beispielsweise den Zeitpunkt, ab dem das Gehirn die Außenwelt repräsentiert, unterschiedlich an. Bei den meisten Tests ist man zudem auf den optischen Sinn der Kleinen angewiesen. Doch dieser ist bei der Geburt noch nicht voll entwickelt.

"Was Babys denken" ist geschrieben aus dem Blickwinkel einer Psychologin. Pauen greift daher auch immer wieder auf Jean Piaget (1896 – 1980) zurück, jenen bedeutenden Genfer Entwicklungspsychologen, der Kinder zu "Konstrukteuren der eigenen Wirklichkeit" erklärte. Dabei wurden die Entwicklungsschübe im Säuglingsalter von der Forschung lange unterschätzt. Im Gegensatz zu Piaget vertreten die meisten Forscher heute die Ansicht, dass Denken nicht so sehr durch eigene motorische Aktivität erwacht, sondern durch Wahrnehmung und Verarbeitung von Sinnesreizen.

Für eine allgemeine Theorie der geistigen Entwicklung ist es im Moment zu früh. Dazu weiß man noch zu wenig über die Entwicklung der verschiedenen Hirnareale. Geeignete methodische Ansätze zu entwickeln und mit detaillierten Verhaltensanalysen zu verknüpfen, lautet die Herausforderung für die Zukunft.

Ein Hinweis scheint noch angebracht: Die Psychologin und zweifache Mutter Pauen hat keinen Ratgeber für ehrgeizige Eltern verfasst. Sie bleibt bei den Fakten. Sie schreibt engagiert und sachlich – und distanziert sich gleichzeitig von übertriebener Genies-in-Windeln-Euphorie. Eine wohltuende Ausnahme!

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  • Quellen
Gehirn und Geist 03/2007

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