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Chemische Unterhaltungen: Zauberhafte Silberbäumchen aus der Petrischale

Mit Strom und Silbernitrat-Lösung wachsen in einer Petrischale gleich zwei sehr ähnlich wirkende Bäumchen heran. Doch bei genauerem Hinsehen unterscheiden sie sich fundamental.
Blick auf ein verzweigtes Bäumchen aus Silber in pink gefärbter Lösung
In einer bunt gefärbten Elektrolyt-Lösung erscheinen die filigranen Silberbäumchen spektakulär.

Bei der Elektrolyse einer Silbernitrat-Lösung scheidet sich an der Kathode elementares Silber ab. Führt man diesen Versuch in einer Petrischale mit einer punktförmigen Kathode durch, bilden sich ästhetische Silberbäumchen, die sich immer weiter verästeln. Solange man mit gering konzentrierten Elektrolyt-Lösungen arbeitet, entsteht gleichzeitig auf der Anodenseite Wasser oder das jeweilige Anodenmaterial oxidiert. Erhöht man jedoch die Elektrolytkonzentration und verwendet ein inertes Anodenmaterial wie Graphit oder Platin, lässt sich Unerwartetes beobachten: An der Anode bildet sich ebenfalls ein fraktales, verzweigtes Bäumchen. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Um das scheinbar doppelte Silberbäumchen zu erzeugen, baut man zunächst den Versuch entsprechend der Abbildung unten auf. Man schaltet die Bleistiftminen unter Verwendung der Krokodilklemmen als Minus- und Pluspol und schließt den Stromkreis. In die Petrischale gibt man eine Silbernitrat-Lösung von der Konzentration 1 mol/Liter. Bei einer Gleichspannung von zehn Volt wird dann für etwa zehn Minuten elektrolysiert.

Versuchsaufbau | für die Elektrolyse einer Silbernitrat-Lösung, c(AgNO3) = 1 mol/l, links Anode, rechts Kathode.

Bereits zu Beginn der Elektrolyse sind an der Kathode (Minuspol) silbrig glänzende Fraktale zu erkennen, die in Richtung der Anode wachsen. An der Anode hingegen entstehen schwarze, metallisch glänzende Fraktale und breiten sich tafelförmig in Richtung Kathode aus.

Kristallbäumchen | 1) Silberbäumchen (Kathode); 2) Silberbäumchen bei zirka 50-facher Vergrößerung; 3) Ag7NO11-Bäumchen (Anode); 4) Ag7NO11-Bäumchen bei zirka 50-facher Vergrößerung.

An der Kathode werden bei dem Versuch Silber(I)-Ionen zu elementarem Silber reduziert:

Kathode: Ag+ (aq) + e → Ag (s)

Das ist bei der Elektrolyse einer Silbersalz-Lösung, die man hier durchführt, nichts Überraschendes. Unerwartet ist dagegen, dass an der Anode ein schwarzer Feststoff entsteht. Er lässt sich vereinfacht mit der Summerformel Ag7O11 beschreiben. Bei dieser komplexen Verbindung handelt es sich um Mischkristalle aus Trisilbertetraoxid (Ag3O4) mit einem Anteil Silbernitrat, in Summe: Ag+I(Ag+IIAg2+IIIO4)2NO3. Wie Röntgenstrukturanalysen gezeigt haben, ist in dem Komplex jedes Ag2+- und jedes Ag3+-Ion von einem Quadrat aus vier Sauerstoff-Atomen umgeben. Solche AgO4-Einheiten sind über gemeinsame Ecken und Kanten dreidimensional miteinander vernetzt und lassen sich als Trisilbertetraoxid mit zweiwertigen und dreiwertigen Silberionen charakterisieren: Ag+IIAg2+IIIO4.

Bei den gegebenen Versuchsbedingungen werden Silber(I)-Ionen aus der Silbernitrat-Lösung zu Silber(II)- und Silber(III)-Ionen oxidiert. Außerdem entstehen Oxonium-Ionen, welche sich mittels eines Indikators nachweisen lassen:

Anode: 7 Ag+ (aq) + NO3 (aq) + 24 H2O (l) → [Ag+(Ag+IIAg2+IIIO4)2NO3](s) + 16 H3O+ (aq) + 10 e

Das oxidierte Silber wächst an der Anode in verzweigten Strukturen, die sich immer mehr verästeln. Voraussetzung dafür ist die gute elektrische Leitfähigkeit der Verbindung Ag7NO11. Deshalb werden die Silber(I)-Ionen nicht ausschließlich an der Elektrode oxidiert, sondern auch an den schon bestehenden Dendriten. An der Kathode ist das gleiche Phänomen für das wachsende Silberbäumchen verantwortlich: Elementares Silber leitet elektrischen Strom ebenfalls gut, so dass sich an der Kathode ein weiteres Fraktal bildet. Die verzweigte baumartige Struktur entsteht, weil die Silber-Ionen in zufälligen Bewegungen durch den Elektrolyten wandern, während das Produkt (Silber beziehungsweise Ag7NO11) regelmäßig abgeschieden wird.

Nach der Elektrolyse lässt sich an der Anode ein weiteres interessantes Phänomen beobachten: An den dort entstandenen Fraktalen bilden sich Gasbläschen, die besonders unter einem Stereomikroskop gut zu erkennen sind. Mit der Zeit zerbrechen die Fraktale und liegen dann nur noch in Bruchstücken vor.

Bildung von Gasbläschen | am Ag7NO11-Bäumchen bei 50-facher Vergrößerung nach der Elektrolyse.

Die Ag7NO11-Struktur ist nämlich thermisch instabil und zerfällt bereits bei Zimmertemperatur langsam in Silber(I)-Ionen, Nitrat-Ionen, Silbermonoxid und Sauerstoff. Letzterer wird in Form von Gasbläschen sichtbar:

Ag(Ag3O4)2NO3 (s) → Ag+ (aq) + NO3 (aq) + 3 Ag+IAg+IIIO2 (s) + O2 (g)

Thermische Untersuchungen haben ergeben, dass dieser Zerfall bei 63 Grad Celsius sehr schnell und stark exotherm, also unter Hitzeentwicklung verläuft. Experimentell lässt sich das zeigen, indem man die Petrischale nach der Elektrolyse auf eine Heizplatte stellt und stetig erhitzt. Innerhalb weniger Minuten sind zahlreiche Sauerstoffbläschen zu erkennen; zudem lässt sich der Zerfall der Dendriten unmittelbar beobachten.

Ag7NO11-Bäumchen sind thermisch instabil | 1) Bäumchen bei Zimmertemperatur direkt nach der Elektrolyse, 2) bei Zimmertemperatur drei Minuten nach der Elektrolyse, 3) und 4) analog bei stetigem Erhitzen auf 63 °C.

Bei der Bildung der Silberoxid-Fraktale entstehen Oxonium-Ionen, die den pH-Wert der Elektrolyt-Lösung senken. Durch einen geeigneten Indikator kann man das während der Elektrolyse nachweisen und so zum einen die stattfindende Reaktion sichtbar machen, zum anderen die Bäumchen farblich in Szene setzen.

Um die Indikator-Lösung herzustellen, gibt man zirka 5 Milliliter einer wässrigen Methylrot-Lösung in eine Petrischale. Mit einer Einmalpipette fügt man vorsichtig so viel Natronlauge (8 Gewichtsprozent NaOH in Wasser) und Schwefelsäure (10 Gewichtsprozent H2SO4 in Wasser) hinzu, dass sich eine orangegelbe Färbung kurz vor dem Umschlagspunkt in den sauren Bereich (roter Farbton) einstellt. Anschließend versetzt man die Silbernitrat-Lösung mit dem Nachweisreagenz und führt daraufhin die Elektrolyse wie oben beschrieben durch.

Auf Grund der geringen Menge an Indikator-Lösung in der Petrischale und der Beleuchtung von oben durch das Stereomikroskop erscheint die neutrale Indikator-Lösung gelb. Bereits zu Beginn der Elektrolyse sieht man, wie sich die Farbe im Anodenbereich von Gelb nach Rot ändert. Dieser Farbumschlag »wächst« mit dem Silberoxidbäumchen mit. Wegen der Beleuchtung und der niedrigen Konzentration des Indikators wirkt die Rotfärbung unter dem Mikroskop pink. Am Silberbäumchen lässt sich hingegen kein Farbumschlag erkennen.

Eine Silbernitrat-Lösung | wird nach der Elektrolyse und dem Entstehen der Metallbäumchen mit Methylrot versetzt. Die unterschiedliche Färbung zeigt die verschiedenen pH-Werte. Links: Ag7NO11-Bäumchen; rechts: Silberbäumchen.

Wie oben dargestellt, entstehen bei der Oxidation der Silber(I)-Ionen als Nebenprodukt Oxonium-Ionen. Letztere lassen sich mit Hilfe des Indikators experimentell nachweisen: Eine wässrige Methylrot-Lösung ist bei pH-Werten über 6,2 gelb, unter pH 4,4 pink. Im Umschlagsbereich dazwischen ist die Indikator-Lösung orangegelb gefärbt.

Wenn man die Elektrolyt-Lösung mit unterschiedlichen Lebensmittelfarbstoffen versetzt, lassen sich spektakuläre Bilder gewinnen: Die Fraktale wachsen vor farbigem Hintergrund. Bei den verwendeten Farbstoffen handelt es sich um Chinolingelb, Azorubin, Indigokarmin und Lissamingrün B. Auch hier erscheinen die Farben wegen der geringen Menge in der Petrischale und der Beleuchtung durch das Stereomikroskop anders, so dass etwa die mit Azorubin eingefärbte Lösung pink statt rot aussieht.

In farbiger Lösung | erscheinen die fraktalen Strukturen spektakulär. 1) Silberbäumchen, Elektrolyt mit Chinolingelb gefärbt; 2) Silberbäumchen, Elektrolyt mit Azorubin gefärbt; 3) Ag7NO11-Bäumchen, Elektrolyt mit Indigokarmin gefärbt; 4) Ag7NO11-Bäumchen, Elektrolyt mit Lissamingrün B gefärbt.

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  • Quellen

Höltkemeier, D., Oetken, M.: Didaktische Überlegungen zur Implementierung diffusionsgesteuerter Wachstumsphänomene in den Chemieunterricht. CHEMKON 10/4, 2003

Standke, B., Jansen, M.: Ag3O4, das erste Silber(II,III)-oxid. Angewandte Chemie 98, 1986

Standke, B., Jansen, M.: Darstellung und Kristallstruktur von Ag3O4. Journal of Solid State Chemistry 67, 1987

Wong, C. H. et al.: A precise redetermination of the crystal structure of Ag7NO11. Journal of Inorganic and Nuclear Chemistry 34, 1972

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