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Quantengravitation: Zurück zu den Wurzeln

Lösung des größten physikalischen Problems der Gegenwart?
Drehen wir die Uhr doch einfach ein halbes Jahrhundert zurück. Damals nämlich ist eine Idee aufgetaucht, die heute eines der größten wissenschaftlichen Rätsel lösen könnte – die Frage, wie sich Gravitation und Teilchenphysik in einem konsistenten Modell miteinander vereinen lassen.

Lösung des größten physikalischen Problems der Gegenwart? | Die Lie-Gruppe E8 – eine mathematische Struktur mit besonderen Symmetrieeigenschaften, die hier grafisch visualisiert wurde – könnte helfen, Teilchenphysik und Gravitation in einer vereinheitlichen Theorie zusammenzufassen.
Tatsächlich hoffen einige Forscher derzeit, dass der Blick zurück zu den Ursprüngen ihnen den Weg in die Zukunft ebnet. Schon im Juli hatten sich Mathematiker und Physiker an der Banff International Research Station (BIRS) getroffen, einer mathematischen Forschungseinrichtung im kanadischen Alberta, um eine Rückkehr in das goldene Zeitalter der Teilchenphysik zu diskutieren. In den 1960er Jahren war der Physiker und Nobelpreisträger Murray Gell-Mann darauf gestoßen, dass sich Elementarteilchen je nach ihrer Masse, Ladung und anderen Eigenschaften in eine bestimmte Ordnung bringen lassen; das Ergebnis entspricht dann so genannten Lie-Gruppen, komplexen mathematischen Strukturen mit ganz besonderen Symmetrieeigenschaften. Als Gell-Mann bekannte Elementarteilchen in der Lie-Gruppe SO(3) zusammenstellte, fand er zudem heraus: Noch war ein Platz frei – offenbar musste ein weiteres, bislang unbekanntes Teilchen mit bestimmten Eigenschaften existieren. Und siehe da: Kurze Zeit später wurde es tatsächlich nachgewiesen und auf den Namen Omega-Minus getauft.

Alles nur eine Frage der Zeit?

Diese Strategie half Forschern in den folgenden Jahrzehnten, das Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu entwickeln. Dieses beruht auf einer Kombination dreier Lie-Gruppen, in denen alle bekannten Elementarteilchen und drei der Fundamentalkräfte – nicht aber die Gravitation – miteinander verknüpft sind. Alles sah danach aus, als ob es nur eine Frage der Zeit sei, bis Physiker eine übergreifende Lie-Gruppe finden würden, in der schließlich auch die Schwerkraft ihren Platz fände.

Doch ihre Bemühungen scheiterten. Denn jedes Mal sagte die Theorie plötzlich Phänomene voraus, die in der Natur noch nicht beobachtet wurden, sagt Roberto Percacci von der International School for Advanced Studies im italienischen Triest – etwa den Zerfall von Protonen. Als in den 1980er Jahren andere Kandidaten für eine vereinheitlichte Theorie der Physik wie etwa die Stringtheorie populär wurden, verlor der Ansatz weiter an Glanz.

Percacci ließ sich nun dennoch von ihm inspirieren. Gemeinsam mit Fabrizio Nesti von der italienischen Università degli Studi di Ferrara stellte er am BIRS eine große Lie-Gruppe namens SO(11,3) vor. Sie enthält neben Elektronen, Quarks, Neutrinos und ihren Verwandten – den Fermionen – auch die Gravitation. Noch kann ihr Modell zwar nicht das Verhalten von Photonen oder anderen kraftübertragenden Teilchen erklären, doch Percacci ist davon überzeugt, dass er auf dem richtigen Weg ist.

Einer seiner Fans ist A. Garrett Lisi, ein unabhängiger Forscher, der an der University of California in San Diego seinen PhD in Physik erhielt. Lisi brachte es im Jahr 2007 zu Schlagzeilen, als er versuchte, eine "Theorie von Allem" in die Lie-Gruppe E8, die komplexeste und eleganteste ihrer Art, einzubetten (siehe Die Zähmung der widerspenstigen E8, SdW 6/2007, S. 94).

Lisi sei es gewesen, so Greg J. Zuckerman, E8-Experte an der Yale University in Connecticut, der das Interesse der Mathematiker an diesem Zugang wieder erweckt habe. Er habe gezeigt, wie man "mit einem allgemeiner gültigen Ansatz zu den Lie-Gruppen zurückkehren könne, um die Gravitation mit dem Standardmodell zu vereinigen".

Viele scheuen vor Oktonionen zurück

Andere bringen Lisis Überlegungen ebenfalls voran, modifizieren sie aber. Zum Beispiel betrachten sie Lie-Gruppen nicht als Behälter für Kräfte und Teilchen. Der Mathematiker Tevian Dray und die Physikerin Corinne Manogue nehmen die Gruppen stattdessen lieber auseinander und untersuchen einen ihrer mathematischen Grundbausteine: ein achtdimensionales Zahlensystem, das als Oktonion bekannt ist. (Zum Vergleich: Zahlen, die in unserem Alltag vorkommen, besitzen eine einzige Dimension; komplexe Zahlen, die aus Real- und Imaginärteil bestehen, immerhin schon zwei. Oktonionen sind so genannte hyperkomplexe Zahlen.)

Viele Mathematiker scheuen vor Oktonionen zurück, erklärt Dray, der ebenso wie Manogue an der Oregon State University forscht, weil sie manchen wichtigen Gesetzen der Algebra nicht gehorchen. Das führt dazu, dass je nach der Reihenfolge, in der man mathematische Operationen auf sie anwendet, unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Diese unschöne Eigenschaft haben die beiden nun aber in einen Vorteil verkehrt und benutzen sie, um die seltsamen Eigenschaften bestimmter Partikel zu erklären. Beispielsweise ergibt sich die überraschende so genannte Linkshändigkeit von Neutrinos – Impulsrichtung und Spinorientierung sind bei ihnen entgegengesetzt – aus Oktonionen auf ganz natürlichem Weg.

Zudem erscheinen sie wie maßgeschneidert, um Berechnungen in zehn Dimensionen durchzuführen, sagt Dray. Das macht sie möglicherweise für Stringtheoretiker nützlich. Die nämlich behaupten, unser Universum enthalte zusätzlich zu den drei Raum- und der einen Zeitdimension sechs weitere Dimensionen. Dann aber müssen sie erklären, warum die postulierten Extradimensionen nicht beobachtbar sind: Sie seien kompaktifiziert, also zu extrem winzigen Gebilden "aufgerollt". Ein bestimmtes Oktonion, so haben Dray und Manogue herausgefunden, kann dieses "Aufrollen" nun auf ganz einfache Weise beschreiben.

"Allmählich bekommen wir erste Eindrücke von den Eigenschaften, die eine vereinheitlichte Theorie besitzen muss", sagt Dray, legt aber auch Wert auf die Feststellung, dass ein künftiges, voll funktionsfähiges Oktonion-Modell noch für viel Arbeit sorgen wird. Ermutigend sei indessen, dass die zahlreichen Fortschritte anderer Forscher mit unterschiedlichen Ansätzen darauf hinweisen, dass Lie-Gruppen der richtige Weg sind. Auch Mathematiker mit entsprechender Expertise wie etwa Jeffrey Adams von der University of Maryland haben sich anregen lassen, mit Physikern zusammenzuarbeiten. Ihr Optimismus ist groß: "Ich wäre ziemlich enttäuscht", sagt Adams, "wenn nicht irgendetwas in dieser Art funktionieren würde."

Könnte es die vorausgesagten Teilchen tatsächlich geben?

Skip Garibaldi hingegen, Mathematiker an der Emory University in Georgia, hält die auf E8 zurückgehende Nostalgie für eine Fehlentwicklung. Gemeinsam mit Jacques Distler von der University of Texas in Austin hat Garibaldi gezeigt, dass Lisis Theorie die Existenz von Teilchen voraussagt, deren Wechselwirkungen gewissermaßen spiegelbildlich zu denen gewöhnlicher Fermionen sind. Doch gäbe es solche Partikel tatsächlich, hätten sich ihre Effekte höchstwahrscheinlich längst in Experimenten bemerkbar gemacht. "Es gibt keinen Weg, die Schwerkraft in die E8-Gruppe zu packen", sagt er, "ohne dass man dann etwas vorhersagt, was experimentell praktisch längst ausgeschlossen ist."

Lisi hält die Spiegelfermionen ebenfalls für ein Problem. Doch die Arbeit an der E8-Theorie sei schließlich längst nicht abgeschlossen. Zudem könnten die Partikel der Aufmerksamkeit der Teilchenphysiker auch deshalb entgangen sein, weil sie schwerer als gedacht sind. Sogar im LHC könnten sie auftauchen.

Für Zuckerman ist es ebenfalls noch zu früh, um zu entscheiden, ob der Weg zurück zu den Wurzeln sich am Ende auszahlen wird. Aber er spricht zweifellos für viele Kollegen, wenn er sagt: "Was zu diesem Thema derzeit veröffentlicht wird, ist einfach sehr, sehr aufregend."

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