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  • Diskussion erfordert Spielregeln

    03.05.2007, Johann Bahr, Wien
    Das Streitgespräch zwischen Religion und Wissenschaft wird so lange fruchtlos bleiben, als davon ausgegangen wird, dass die beiden inkompatible Alternativen wären, die um die exklusive Gunst des Laien buhlen. Das mag in früheren Zeiten auch gestimmt haben, ist aber inzwischen ein Anachronismus. Dass die beiden Institutionen in letzter Zeit ihre selbstgesteckten Abgrenzungen gründlich korrigiert haben, ist obigem Laien größtenteils entgangen, weil diese nur in den internen Fachsprachen publiziert sind. Es fehlt an einer klaren Neudefinition der Materie in einer Sprache, die auch interessierte Laien verstehen, deren Sprecherrolle ich mir hier anmaße.

    Der lawinenartige Wissenszuwachs der Neuzeit bringt mit sich, dass der Anteil dessen, was der einzelne davon weiss immer mikroskopischer wird. Wo ist die Zeit eines Faust geblieben, dessen Wissensdurst noch grösser sein konnte als das ihm zur Verfügung stehende allgemeine Wissen! Der Mensch von heute leidet darunter, dass er immer weniger von dem begreifen kann, was zu seinem Leben gehört, und was er folglich eigentlich wissen sollte. Und was liegt näher, als diese Wissenslücken nach mittelalterlicher Manier mit Glauben zu füllen: glauben heisst zwar nichts wissen, aber wenn wissen immer mühsamer und aussichtsloser wird, ist glauben allemal bequemer und vollständiger. Damit verursacht die Wissenschaft genau jene Volksverdummung, die zu beseitigen sie eigentlich angetreten ist: anstatt das glauben allmählich abzulösen, wird paradoxer weise das wissen mehr und mehr durch glauben substituiert, und die Esoterik wird ein immer gefragterer Markt.

    Indem unsere Bildung immer mehr darauf angewiesen ist, vernünftig nachvollziehendes Verstehen durch blind vertrauendes Glauben zu substituieren, steigt naturgemäss die Gefahr, dass sich dazwischen auch Unvernünftiges einschwindelt. Dazu kommt, dass mit „Glauben“ auch ein Religionsbekenntnis bezeichnet wird, was zu peinlichen Missverständnissen führen muss. So verwechseln viele Menschen das komplexe Wissensgebäude der universitären Wissenschaft mit den Weisheiten einer Religion und meinen, damit einen vollwertigen Ersatz für ihr natürliches Religionsbedürfnis gefunden zu haben. Dass universitäre Wissenschaft dazu keineswegs geeignet bzw. gedacht ist, sollte diesen Menschen endlich klar gemacht werden, selbst wenn sie dies oft gar nicht wahrhaben wollen.

    Das religiöse Glaubensbekenntnis wird von manchen „Gläubigen“ (zumindest vielen „liberalen“ Katholiken) als eine Art Selbstbedienungsladen interpretiert, aus dem man sich die Rosinen zusammenklaubt, an die man intuitiv glauben möchte. Und da es hier nun einmal mehrere widersprüchliche Traditionen gibt, und diese zum Teil auch offensichtlichen wörtlichen Unsinn mitschleppen, muss man ohnehin selektieren und uminterpretieren, und nirgendwo ist konkret definiert, was davon nun noch absolut wahr zu bleiben hat; also muss und darf man sein Wunschdenken austoben. Und indem die Wissenschaft zugibt, nur unwidersprochene Hypothesen anzubieten, wird dort die Wahlfreiheit des Glaubens oder Ignorierens gerne analog gehandhabt: schliesslich wäre sie ja auch nichts anderes als ein modernes Substitut der Religion. Dass dort seriösere Regeln gelten und eben keine kryptisch umdeutbaren Argumentationen erlaubt sind wie in den archaischen Religionen, muss diesen Menschen erst einmal vermittelt werden.

    An obiger Gleichsetzung ist aber primär die Wissenschaft selbst schuld, indem sie dem ungebildeten Menschen ihre Abgrenzung gegen Religion und Metaphysik nicht gebührend verständlich macht. Die komplexe Eigendefinition der Wissenschaft erweckt beim Laien den Eindruck, man müsse erst selber ein Wissenschaftler sein und dessen Sprache sprechen, um zu verstehen, was Wissenschaft ist und wie sie funktioniert. Es wäre höchst an der Zeit, wenigstens die Renovierung der Wissenschaftsdefinition der letzten Jahrzehnte derart publik zu machen, dass ihre internen Regeln auch von skeptischen Laien und Wissenschafts-Verweigerern unmissverständlich nachvollziehbar werden.

    Nachfolgend erlaube ich mir ein Beispiel zu skizzieren, wie eine simple Darstellung der modernen universitären Wissenschaft mittels einer Auswahl von markanten Geboten bzw. Verboten aussehen könnte. Diese Regeln reduzieren sich hier einfach auf eine Liste von disqualifizierenden Argumentationen. Die Ähnlichkeit mit den zehn Geboten der Bibel ist unbeabsichtigt, aber unbestritten: da es wie gesagt primär um die äussere Abgrenzung gegen Verwechslungen geht, genügt es nur den äusseren Umriss bzw. die Eckpunkte abzustecken, wie Wissenschaft nicht argumentiert. Eine Unvollständigkeit bedeutet hier keine Schlampigkeit, sondern Abstraktion auf ein Exzerpt der allerwichtigsten Regeln, sowie die Überschaubarkeit und Merkbarkeit auch für uneingeweihte Laien.

    Arroganz, Diktat
    -1) Besitz der ultimativen Wahrheit, Perfektion, Axiom-Postulat, Überprüfungs-Unmöglichkeit ; Dogma, Zweifelerhabenheit, Veränderungsverbot, Hinterfragungsverbot ehrwürdiger Traditionen
    -2) Autorität oder Tradition als alleinige Legitimation, Machtwort, Majestätsbeleidigung ; institutioneller Anspruch auf übergeordnete autoritäre Kontrolle bzw. Genehmigung
    -3) Elitäre Bevormundung, Bewiesenheits-Suggestion ; Lehrpflicht, willkürliche Bereichs-Sonderregeln

    Magie, Quacksalberei
    -4) Guter/böser Geist, Metaphysik, Wunder ; ignorierte logische bzw. mathematische Unmöglichkeit, Zauberei
    -5) Unnachvollziehbare oder vielfach widerlegte Hypothese als Erklärung, unabgeleitete bzw. unbestätigte Behauptung ; unbeobachtete bzw. unerklärte Annahme, Argument „gesunder Hausverstand“
    -6) Mystik, Jenseits-Geheimnis ; natürliche ultimative Unerklärlichkeit

    Missbrauch, Egoismus
    -7) Moraldiktat, Sakrileg, Tabu, Anstandsbewahrungs-Schweigegebot ; Religions-Substitution
    -8) Forschungsverbot, Erkenntnisunterdrückung ; diktatorische oder suggestive Sprachregelung
    -9) Schein-Statistik, Zitatverfälschung, Betrugsverschleierung, erzwungene Überprüfungsvereitelung ; Nutzungsmonopol-Geheimnis, Regel-Uminterpretation, Traditionslegitimation, eigennützige Manipulation

    Dieses Beispiel ist noch lange kein Postulat, sondern möge eine herzliche Einladung an alle Wissenschaftler und interessierte Laien darstellen, ihre persönlichen Varianten von Minimal-Regeln in diesem Forum zu deponieren, sei es als Ergänzung, Reduktion, Korrektur, Alternative oder Totalablehnung. Ziel dieser Cyber-Diskussion sollte die kollektive Erarbeitung einer allgemein anerkannten Kurzfassung der bislang „ungeschriebenen Gesetze“ der Wissenschaft sein, die auch gänzlich anders orientierte Diskussionspartner nachvollziehen können. Damit sollte sich die meist frustrierende Diskussion mit Religion, Kreationisten, Pseudowissenschaften etc. beleben und entemotionalisieren lassen. Und wer sonst als diese Zeitschrift wäre dazu prädestiniert, solche Regeln zu redigieren und an die Uni-Türen zu nageln!
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