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Besserwisserei: Warum halten wir uns im Nachhinein für schlauer?

Wir können die Zukunft schlechter vorhersagen, als wir glauben. Grund dafür ist eine verbreitete Denkfalle namens »Rückschaufehler«.
Zwei Hände halten eine Kristallkugel.
Der Blick in die Kristallkugel gelingt uns oft gar nicht mal so gut.

Natürlich sind wir hinterher schlauer, denn aus Erfahrung wird man bekanntlich klug. Allerdings glauben wir im Nachhinein oft, schon zuvor gewusst zu haben, wie es kommen wird. »War ja klar«, tönen viele, sobald das Desaster eingetreten ist. Als man es noch hätte abwenden können, waren die Hellseher jedoch ziemlich still. Auch nach dem unerwarteten Ausgang eines Fußballspiels will ein Großteil das Resultat längst geahnt haben. Ebenso ist das Wahlergebnis – und sei es noch so abwegig – für die Mehrheit angeblich keine Überraschung. Sicher, der ein oder andere möchte sich nur wichtig machen, viele sind aber wirklich davon überzeugt, die Zukunft treffend vorhergesagt zu haben, obwohl das gar nicht stimmt. Hinter dieser Art der Besserwisserei steckt ein bekanntes psychologisches Phänomen: der »Rückschaufehler«.

1998 ließen Psychologen der Universität Leipzig 56 Deutsche eine Prognose für das Ergebnis der Bundestagswahl abgeben. Vier Monate nach der Wahl wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erneut befragt. Sie konnten sich nicht mehr genau an ihre ursprüngliche Prognose erinnern und näherten sie tendenziell dem tatsächlichen Ergebnis an. Um das Ausmaß des Rückschaufehlers genau zu beziffern, bitten Forscher und Forscherinnen Versuchspersonen meist, eine Zahl zu schätzen. Sie stellen ihnen Fragen wie »Wie lang ist die Donau?«. Dann verraten sie für einen Teil der Fragen die richtige Lösung, in diesem Fall 2857 Kilometer. Mit etwas zeitlichem Abstand sollen sich die Versuchspersonen wieder an ihre ursprüngliche Annahme erinnern. Hier zeigt sich stets, dass Menschen diese besser in Erinnerung haben, als sie eigentlich war. Hielten sie die Donau zum Beispiel anfangs für nur 1200 Kilometer lang, meinen sie nun, damals 1800 Kilometer getippt zu haben. Bei den Fragen, zu denen keine Lösung gegeben wird, kommt es nicht zu einer solchen Verzerrung. Selbst Fachleute auf einem Gebiet unterliegen in derartigen Untersuchungen der Täuschung. Zwar sind ihre anfänglichen Schätzungen präziser – schließlich haben sie mehr Vorwissen –, doch in der Rückschau rutschen auch sie näher an die Wahrheit heran.

Wir alle tappen hin und wieder in diese Denkfalle. Es gibt kaum psychologische Merkmale, die sich klar mit einem größeren Hang zum Rückschaufehler in Verbindung bringen lassen. Eine gewisse Rolle scheinen eine geringere Intelligenz zu spielen sowie der Wunsch, sich positiv darzustellen. Allerdings sind die wissenschaftlichen Befunde hier nicht eindeutig. Das einzige Merkmal, das die Anfälligkeit für den Rückschaufehler sicher beeinflusst, ist das Alter: Kinder und ältere Menschen fallen der kognitiven Verzerrung eher anheim.

Der Rückschaufehler scheint nicht auf bewussten, willentlichen Prozessen zu basieren. Selbst Warnungen vor ihm oder finanzielle Anreize können ihn nicht verhindern. Damit konfrontiert, sind sich die meisten Versuchspersonen gar nicht im Klaren darüber, dass das neu erworbene Wissen ihre Erinnerungen verfälscht hat. Es scheint sich um ein grundsätzliches Problem bei der Verarbeitung von Informationen und deren Speicherung im Gedächtnis zu handeln.

Eine Prognose erfolgt immer unter Unsicherheit. Wird das Ergebnis bekannt, speichern wir die neuen Fakten zusammen mit allem ab, was wir bisher darüber wissen. Später, wenn wir uns daran erinnern wollen, was wir ursprünglich vermutet haben, können wir die Quellen der einzelnen Informationen nicht mehr gut auseinanderhalten. Sie vermischen sich in unserem Kopf. Und so nutzen wir alle vorhandenen Daten zur Rekonstruktion der ursprünglichen Schätzung, auch das nachträglich erworbene Wissen. Der Rückschaufehler ist in unzähligen Experimenten untersucht worden und hat sich als äußerst hartnäckig erwiesen. Bislang ist keine Methode bekannt, wie man ihn verlässlich vermeiden kann.

Aber ist das schlimm? Viele Fachleute sind der Meinung, dass es sich hier um eine Form des adaptiven Lernens handelt: Wir speichern neue und genauere Informationen, wodurch die alten, dürftigen verblassen. Was ist daran auszusetzen? Das ist ein sehr mächtiger kognitiver Prozess, der unsere Evolution maßgeblich begleitet, wenn nicht gar befördert hat. Dass wir uns in manchen Situationen nicht mehr exakt an frühere Aussagen erinnern können, scheint dabei ein eher geringer Nachteil zu sein.

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  • Quellen

Blank, H., Fischer, V.: »Es musste eigentlich so kommen«: Rückschaufehler bei der Bundestagswahl 1998. Zeitschrift für Sozialpsychologie 31, 2000

Guilbault, R. L. et al.: A meta-analysis of research on hindsight bias. Basic and Applied Social Psychology 26, 2004

Hoffrage, U. et al.: Hindsight bias: A by-product of knowledge-updating? Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 26, 2000

Musch, J., Wagner, T.: Did everybody know it all along? A review of individual differences in hindsight bias. Social Cognition 25, 2007

Pohl, R. F.: Der Rückschau-Fehler: Systematische Verfälschung der Erinnerung bei Experten und Novizen. Kognitionswissenschaft 3, 1992

Pohl, R. F., Erdfelder, E.: Hindsight bias. In Pohl, R. F. (Hg.): Cognitive illusions: Intriguing phenomena in thinking, judgment, and memory. Routledge, 2022

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