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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Unendlich viele Unendlichkeiten

Bekannt ist: Es gibt unterschiedliche Unendlichkeiten. Aber wie viele genau? Bei der Suche nach der Antwort stößt man an die fundamentalen Grenzen der Mathematik.
Unendlichkeitszeichen
Dass es mehr als eine Unendlichkeit gibt, ist seit mehr als 100 Jahren bekannt. Die Frage, wie viele es insgesamt gibt, führt bis an die Grenzen der Mathematik.

Unendlichkeiten können sich unterscheiden. So wie zwei Säcke mit Kartoffeln eine verschiedene Anzahl an Knollen enthalten können, gibt es auch Unterschiede bei unendlichen Inhalten. So konnte der Mathematiker Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts beweisen, dass die Menge der natürlichen Zahlen {0, 1, 2, 3, …} deutlich kleiner ist als die der reellen Zahlen, die neben negativen und Bruchzahlen auch irrationale Werte wie Pi, die Wurzel aus zwei oder die Chaitinsche Konstante enthalten. Da beide Mengen unendlich viele Werte enthalten, schloss Cantor daraus, dass sich auch Unendlichkeiten ordnen lassen: von »klein« nach »groß«. Das wirft die Frage auf, ob es so etwas wie eine größte Unendlichkeit gibt – oder ob sich das Unbegrenzte stets erweitern lässt.

Schon in der Antike dachten Gelehrte über Unendlichkeiten nach. Auch wenn es keine Ressource auf der Welt gibt, die unbegrenzt vorhanden ist, scheint es nur natürlich, über Unermessliches nachzudenken. Das passiert schon durch harmloses Zählen: 1, 2, 3, 4, … Die natürlichen Zahlen nehmen kein Ende, man kann sie – zumindest theoretisch – für immer fortsetzen. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um die kleinstmögliche Unendlichkeit: Es gibt »abzählbar unendlich« viele natürliche Zahlen; man könnte sie auf einer unendlich langen Liste nacheinander niederschreiben.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Um die Größe einer unendlichen Menge zu bemessen, führt man in der Mathematik die so genannte Kardinalität ein: So hat die Menge der natürlichen Zahlen eine Kardinalität von abzählbar unendlich, was als ℵ0 bezeichnet wird. Auch die Kardinalität der ganzen Zahlen (inklusive negativer Werte), der rationalen Zahlen (die Bruchzahlen enthalten) oder der Menge aller Primzahlen ist abzählbar unendlich, beträgt also ℵ0. Das ist aber nicht bei allen Mengen so. Die reellen Zahlen durchbrechen dieses Muster: Wie Cantor zeigte, ist es unmöglich, alle reellen Werte vollständig aufzulisten – es wird immer Zahlen geben, die nicht in einer solchen Aufzählung vorkommen.

Demnach ist die Menge der reellen Zahlen nachweislich größer als die der natürlichen Zahlen. Und wie Cantor erkannte, gibt es eine einfache Methode, um immer größere Mengen zu konstruieren, deren unendlich große Kardinalitäten sich in Schwindel erregende Höhen türmen. Doch wie hoch kann dieser Turm aus Unendlichkeiten werden?

Wie viele Teilmengen haben die natürlichen Zahlen?

Eine simple Methode, um eine Menge zu vergrößern, ist die so genannte Potenzmengen-Operation. Dazu bildet man alle Teilmengen einer Menge und vereinigt sie zu einer neuen Menge. Zum Beispiel: Die Teilmengen von {1, 2, 3} sind die leere Menge {}, die einelementigen Mengen {1}, {2}, {3}, sowie alle zweielementigen Mengen {1, 2}, {1, 3}, {2, 3} und die Menge selbst {1, 2, 3}. Die Potenzmenge ist also: {{}, {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1, 2, 3}} und enthält acht Elemente. Allgemein kann man zeigen, dass eine endliche Menge mit n Elementen insgesamt 2n Teilmengen hat. Damit beträgt die Kardinalität der Potenzmenge einer n-elementigen Menge 2n.

Cantor untersuchte die Potenzmenge der natürlichen Zahlen ℕ, um herauszufinden, ob Potenzmengen auch im unendlichen Fall anwachsen. Dafür verglich er die entsprechenden Elemente beider Mengen: Falls es eine Abbildung gibt, die jedem Element der Potenzmenge P(ℕ) genau eine natürliche Zahl zuordnet, dann müssen P(ℕ) und ℕ gleich groß sein. Das Prinzip lässt sich durch ein einfaches Beispiel veranschaulichen: Wenn man jeder Person einer Menge genau einen Sitzplatz zuordnen kann, ohne dass Sitzplätze übrig bleiben, dann gibt es genauso viele Menschen wie Sitze. Auf diese Weise konnte Cantor zeigen, dass die rationalen Zahlen genauso groß sind wie die natürlichen, da man jedem rationalen Ausdruck genau eine natürliche Zahl zuordnen kann. Weil P(ℕ) alle Elemente der natürlichen Zahlen enthält (in Form einelementiger Mengen {1}, {2}, {3} und so weiter), muss die Kardinalität von P(ℕ) mindestens ℵ0 betragen.

Die Potenzmenge lässt Unendlichkeiten immer weiter anwachsen

Tatsächlich ist die Potenzmenge der natürlichen Zahlen größer als ℕ selbst. Das lässt sich durch einen Widerspruchsbeweis zeigen: Dafür startet man mit einer Annahme (die Potenzmenge der natürlichen Zahlen ist abzählbar unendlich groß) und leitet daraus eine widersprüchliche Aussage her. Gemäß den Gesetzen der Logik muss die Annahme falsch sein – die Kardinalität von P(ℕ) beträgt also nicht ℵ0, sondern muss größer sein.

Wenn die Potenzmenge der natürlichen Zahlen abzählbar wäre (was nicht der Fall ist, wie wir sehen werden), könnte man jedem Element von P(ℕ) eine natürliche Zahl zuordnen, sie also nummerieren. Ein Beispiel dafür wäre: 1 → {3, 4}, 2 → {2, 5, 7}, 3 → {1}, 4 → {1, 4, 546} und so weiter. Damit kann man die natürlichen Zahlen in zwei Kategorien einteilen: Einige sind »selbstbezogen«, wenn man sie mit einer Menge aus P(ℕ) verbindet, in der sie selbst vorkommen (das in unserem Beispiel bei 2 und 4 der Fall), während die übrigen nicht selbstbezogen sind (etwa 1 und 3). Man kann also alle nicht selbstbezogenen Zahlen in eine Menge B packen. B ist gleichzeitig eine Teilmenge der natürlichen Zahlen – und somit in der Potenzmenge enthalten. Deswegen muss man B auch eine natürliche Zahl b zuweisen, da ja alle Teilmengen von ℕ in der unendlich langen Liste vorkommen. Das führt jedoch zu einem Widerspruch: Falls b selbstbezogen ist, muss die Zahl in B enthalten sein. Das ist aber unmöglich, da B nur nicht selbstbezogene Werte enthält. Wenn b hingegen nicht selbstbezogen ist, taucht b automatisch in der Menge B auf – und wäre damit selbstbezogen. Dieser Widerspruch zeigt, dass sich die Elemente von P(ℕ) nicht auflisten lassen. Die Potenzmenge der natürlichen Zahlen muss daher überabzählbar groß sein.

Wie groß genau? Cantor fand eine Abbildung, die jeder reellen Zahl ein Element aus P(ℕ) zuordnet und umgekehrt – damit sind beide Mengen gleich groß. Es gibt also genauso viele Teilmengen der natürlichen Zahlen wie reelle Zahlen. Man sagt, dass deren Kardinalität 2ℵ0 beträgt, analog zum endlichen Fall.

Cantor konnte sogar allgemein beweisen, dass die Potenzmenge jeder unendlichen Menge M größer ist als M selbst. Da sich die Potenzmengen-Operation auch mehrmals hintereinander ausführen lässt (P(M), P(P(M)), P(P(P(M))), …), kann man auf diese Weise immer größere Kardinalzahlen bilden: Falls eine Menge die Kardinalität ℵ hat, enthält ihre Potenzmenge 2 Elemente. Deren Potenzmenge hat demnach die Kardinalität zwei hoch 2 und so weiter.

Ein Versuch, alle Unendlichkeiten zu zählen

Somit sind den Unendlichkeiten keine Grenzen gesetzt. Aber wie viele Unendlichkeiten gibt es? Wenn man von den natürlichen Zahlen als Menge mit der kleinsten Kardinalität ausgeht und dann darauf die Potenzmenge immer und immer wieder anwendet (ℕ, P(ℕ), P(P(ℕ)), P(P(P(ℕ))) und so weiter), erhält man am Ende eine unendliche lange Liste. Falls diese Liste vollständig wäre, gäbe es also abzählbar unendlich viele Unendlichkeiten.

Doch wie sich herausstellt, ist diese Liste nicht vollständig. Angenommen, man würde alle betrachteten Potenzmengen zu einer »Supermenge« U vereinigen: U = ℕ ∪ P(ℕ) ∪ P(P(ℕ)) ∪ P(P(P(ℕ)))∪... In diesem Fall kann man die Potenzmenge von U bilden und erhält damit P(U), deren Kardinalität größer ist als die von U. P(U) kann also nicht Teil der ursprünglichen Liste sein. Damit ist bewiesen, dass eine Aufzählung aller unendlichen Mengen also niemals vollständig ist. Das heißt, es gibt überabzählbar viele Unendlichkeiten.

Außer ℵ0 ist jedoch jede unendliche Kardinalzahl überabzählbar. Um die Frage nach der Anzahl aller Unendlichkeiten zu beantworten, muss man also tiefer graben. Doch dabei stößt man unweigerlich auf Widersprüche. Denn die Größe lässt sich nur bestimmen, wenn man alle Unendlichkeiten in eine Menge packt und deren Kardinalität berechnet. Allerdings taucht dann dasselbe Problem auf wie zuvor. Man vereinigt alle unendlich großen Mengen unterschiedlicher Kardinalität in einer »Supermenge« U. Die Potenzmenge P(U) müsste aber auch Teil von U selbst sein, da es sich dabei ebenfalls um eine unendliche Menge handelt. Das führt zu einem Widerspruch: Denn eine Menge kann unmöglich ihre eigene Potenzmenge enthalten. Diese Unstimmigkeit ist als Cantorsche Antinomie bekannt. Aber was bedeutet das? Sind wir auf einen grundlegenden Widerspruch unserer mathematischen Theorien gestoßen?

Die Mengenlehre sorgt für Ordnung, lässt aber Fragen offen

Glücklicherweise nicht. Bei all den Überlegungen haben wir uns niemals Gedanken darüber gemacht, was eine Menge ist. Wir haben jede Sammlung von Objekten als Menge bezeichnet. Mit der Entwicklung der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (einem Satz von Grundregeln, aus dem sich die gesamte Mathematik aufbaut) wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich, dass die Kardinalzahlen (oder der betreffenden Mengen) selbst keine Menge darstellen. Stattdessen wird das von uns definierte U manchmal als Klasse bezeichnet: U baut sich zwar wie eine Menge aus Elementen auf, kann aber selbst nicht als Element dienen. Damit ist es auch nicht möglich, die Potenzmenge von U zu bilden, da U selbst sonst Teil einer Menge wäre.

Nun lassen sich die am Anfang des Artikels angeführten Fragen beantworten – zumindest teilweise. Es gibt keine größte Unendlichkeit: Durch Bildung der Potenzmenge kann man immer größere Mengen konstruieren. Allerdings lässt sich nicht bestimmen, wie viele Unendlichkeiten es gibt. Das liegt daran, dass unendliche Größen durch Kardinalzahlen definiert sind, die an Mengen gekoppelt sind. Die Sammlung aller Kardinalzahlen ist aber so riesig, dass sie gewissermaßen den mengentheoretischen Rahmen sprengen. Also müssen wir uns damit zufriedengeben, dass die Mathematik keine Antwort für diese Frage liefern kann.

​​Was ist euer Lieblingsmathethema? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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