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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die meisten reellen Zahlen kennen wir nicht

Rationale, algebraische oder gar transzendente Zahlen – auf dem Zahlenstrahl verliert man schnell den Überblick. Doch die meisten reellen Zahlen gehorchen nicht einmal einer Rechenvorschrift.
Ganz viele Zahlen
Im Lauf unseres Lebens begegnen uns etliche Zahlen – und doch kennen wir die allermeisten nicht.

Was ist die verrückteste reelle Zahl, die Sie sich vorstellen können? Vermutlich denken viele an eine irrationale Zahl wie Pi oder die Eulersche Zahl e. Und tatsächlich kann man solche Werte als »wild« ansehen: Schließlich ist ihre Dezimaldarstellung unendlich lang, ohne dass sich die Ziffern jemals wiederholen. Allerdings machen selbst solche verrückt wirkenden Zahlen mit allen rationalen Zahlen zusammen nur einen winzigen Teil der reellen Zahlen aus. Wenn Sie zufällig eine Zahl auf einem Zahlenstrahl herausgreifen, dann werden Sie mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit eine »nicht berechenbare« Zahl ziehen: Für solche Werte gibt es keine Möglichkeit, sie genau zu bestimmen.

Die reellen Zahlen setzen sich aus den rationalen und den irrationalen Zahlen zusammen. Zu den rationalen Zahlen (Brüche pq, wobei p und q ganze Zahlen sind) gehören die natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3, …) und die ganzen Zahlen (..., –2, –1, 0, 1, 2, …). Der Rest, der auf dem Zahlenstrahl zu finden ist, gehört zur Menge der irrationalen Zahlen. Wie sich aber herausstellt, lassen sich diese ebenfalls in verschiedene Kategorien einteilen – von denen wir uns die meisten Vertreter nicht einmal vorstellen können.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Dass Unendlichkeiten, Infinitesimale, imaginäre Zahlen oder andere ungewöhnliche Zahlenräume sich unter Umständen nur schwer beschreiben lassen, scheint nicht allzu verwunderlich. Aber die reellen Zahlen, die Distanzen in unserer Welt beschreiben, sollten wir inzwischen vollständig verstanden haben – zumindest könnte man das meinen. So einfach ist es aber leider nicht. Um das zu verstehen, muss man sich die irrationalen Zahlen genauer ansehen.

Welche Zahlen sind eigentlich in den Irrationalen enthalten?

Alle reellen Zahlen, die sich nicht durch einen Bruch aus zwei ganzen Zahlen darstellen lassen, sind irrational. Dazu gehört zum Beispiel die Wurzel aus zwei, deren Dezimaldarstellung unendlich lang ist, ohne sich jemals zu wiederholen. Tatsächlich gehört √2 zu den einfachsten irrationalen Zahlen, denn sie ist konstruierbar. Das heißt, man kann sie mit Zirkel und Lineal mit Hilfe einer Strecke der Länge eins erzeugen: zum Beispiel, indem man zwei Strecken der Länge eins rechtwinklig zueinander ausrichtet und sie zu einem rechtwinkligen Dreieck verbindet. Die Hypotenuse hat dann die Länge √2. Auf ähnliche Weise lässt sich auch der goldene Schnitt φ geometrisch konstruieren, ebenso wie viele andere irrationale Werte.

Wurzel aus zwei | Die Wurzel aus zwei lässt sich mit Zirkel und Lineal geometrisch konstruieren.

Schon in der Antike stieß man allerdings auf Zahlen, die sich nicht mehr auf so einfache geometrische Weise erzeugen lassen. Ein berühmtes Beispiel ist die Verdopplung eines Würfels: Wie lässt sich aus einem Würfel der Seitenlänge eins ein Würfel mit doppelt so großem Volumen konstruieren? Wie der Mathematiker Pierre Wantzel im Jahr 1837 herausfand, lässt sich die dafür nötige Kantenlänge ∛2 nicht durch Zirkel und Lineal konstruieren. Dafür muss man härtere Geschütze auffahren. Damit gehört ∛2 zu den algebraischen Zahlen, die sich als Lösung einer polynomialen Gleichung schreiben lassen. Für ∛2 lautet eine entsprechende Gleichung x3 = 2.

Würfelverdopplung | Die dritte Wurzel aus zwei lässt sich nicht mehr mit Zirkel und Lineal konstruieren – und somit ist die Würfelverdopplung auf diese Weise auch nicht lösbar.

Es ist unklar, welche Zahlen transzendent sind

Aber es gibt auch transzendente Zahlen, die sich nicht als Lösung solcher Gleichungen ausdrücken lassen. Sprich: Es gibt keine einfache Formel, mit der man sie berechnen kann. In diese Kategorie fällt zum Beispiel die berühmte Kreiszahl Pi. Das heißt aber nicht, dass man ihren Wert nicht kennt. Schon Archimedes fand zum Beispiel eine Rechenvorschrift, um Pi zumindest näherungsweise zu bestimmen. Inzwischen gibt es zahlreiche Algorithmen, die nach Belieben die 587-millionste Nachkommastelle der Kreiszahl ausspucken. Mit genügend Rechenleistung und Zeit kann man die Zahl zumindest in der Theorie beliebig genau bestimmen. Gleiches gilt für die Eulersche Zahl e oder 2√2.

Die transzendenten Zahlen bergen einige Geheimnisse. Während es klare Methoden gibt, um zu erkennen, ob eine Zahl konstruierbar ist, lässt sich hingegen nur schwer beweisen, ob ein Wert transzendent ist. So konnte der sowjetische Mathematiker Alexander Gelfond 1934 beweisen, dass die zusammengesetzte Zahl eπ transzendent ist. Doch ob die Werte πe oder π·e oder π−e algebraisch oder transzendent sind, ist bis heute unklar.

Nicht berechenbare Zahlen sind viel verrückter als transzendente

Aber es kommt noch verrückter. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass die transzendenten Zahlen das wildeste sind, was die reellen Zahlen zu bieten haben. Falsch gedacht. Denn 1937 veröffentlichte der britische Mathematiker Alan Turing eine Arbeit über berechenbare Zahlen. Damit bezeichnete er all jene Werte, für die es eine Rechenvorschrift (also einen Algorithmus) gibt, den ein Computer durchführen kann, um den Zahlenwert beliebig genau zu berechnen. Fast alle bekannten transzendenten Zahlen wie Pi und e fallen in diese Kategorie: Schließlich kennen wir zumindest näherungsweise ihren Zahlenwert und wissen auch, wie sie sich berechnen lassen. Wie Turing aber in seiner Arbeit zeigt, existieren ebenso nicht berechenbare Zahlen, deren Werte sich nicht beliebig genau annähern lassen. Das heißt, wir haben keine Ahnung, wie sie aussehen.

Und schlimmer noch: Fast alle reelle Zahlen sind nicht berechenbar.

Die Menge der reellen Zahlen

Das erkennt man, wenn man die unendlichen Größen der verschiedenen Zahlenmengen bestimmt. Die Grundlagen dafür hat Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Damals konnte er zum Beispiel zeigen, dass die Menge der natürlichen, der ganzen und der rationalen Zahlen die gleiche Kardinalität haben (ein mathematischer Ausdruck für die Größe einer Menge). Das erscheint auf den ersten Blick nicht wirklich einleuchtend, aber für Unendlichkeiten gelten nicht dieselben Rechenregeln wie für endliche Zahlen. Nehmen wir zum Beispiel die natürlichen und die ganzen Zahlen: Man kann abwechselnd jeder natürlichen Zahl eine positive und eine negative ganze Zahl zuordnen, etwa: (0, 0), (1, –1), (2, 1), (3, –2), (4, 2) und so weiter. Da die natürlichen Zahlen kein Ende nehmen, hat man somit eine Eins-zu-eins-Abbildung zwischen beiden Mengen gefunden: So, als würde man jeder Person an einer Bushaltestelle exakt einen Platz im Bus zuweisen und umgekehrt. In diesem Fall weiß man, dass es ebenso viele Plätze im Bus wie Personen an der Haltestelle gibt. Bei den natürlichen und den ganzen Zahlen ist es genauso. Eine ähnliche Eins-zu-eins-Abbildung lässt sich auch zwischen den rationalen und den natürlichen Zahlen finden. Wie Cantor zeigen konnte, ist die Kardinalität der natürlichen Zahlen die kleinstmögliche Unendlichkeit – er nannte sie »abzählbar unendlich«.

Bijektion | Zwei Mengen sind gleich groß, wenn es eine Eins-zu-eins-Abbildung (Bijektion) zwischen den Elementen der jeweiligen Mengen gibt.

Die reellen Zahlen lassen sich hingegen nicht abzählen. Cantor konnte 1877 beweisen, dass die Kardinalität der reellen Zahlen zwangsläufig größer ist als jene der natürlichen: Es gibt keine Möglichkeit, alle reellen Zahlen in einer Liste aufzuzählen (und sei sie noch so lang), ohne einige Werte auszulassen. Die reellen Zahlen bilden also eine überabzählbare Menge. Seine Argumentation verlief folgendermaßen: Angenommen, man hätte eine vollständige Liste mit allen reellen Zahlen. Dann kann man sich diese als eine Tabelle vorstellen, in jeder Reihe steht eine Zahl, jede Spalte steht für eine Dezimalstelle. Nun kann man eine neue reelle Zahl konstruieren, indem man jeden Diagonaleintrag der Tabelle (erste Ziffer in erster Reihe, zweite Ziffer in zweiter Reihe und so weiter) mit eins addiert und nacheinander notiert. Diese neue Zahl kann nicht in der Liste enthalten sein – und somit ist die Liste nicht vollständig.

Wie Turing aber feststellte, müssen alle berechenbaren Zahlen abzählbar sein: Denn für jede dieser Zahlen kann man eine Maschine entwickeln, die lediglich deren Wert berechnet. Da man diese Rechenmaschinen nummerieren kann, sind die berechenbaren Zahlen zwangsläufig abzählbar. Das hat aber zur Folge, dass die nicht berechenbaren Zahlen den mit Abstand größten Teil der reellen Zahlen ausmachen: Es gibt überabzählbar viele davon!

Wenn man also die Wahrscheinlichkeit berechnet, welche Art von reeller Zahl man antrifft, wenn man zufällig eine zieht, erhält man ein eindeutiges Ergebnis: In 100 Prozent der Fälle ist diese Zahl nicht berechenbar. Das heißt aber nicht, dass man keine andere Zahl ziehen kann – bei unendlichen Ereignismengen bedeutet eine Wahrscheinlichkeit von null nicht unmöglich. Das ist umso erstaunlicher, als dass nicht allzu viele nicht berechenbare Zahlen bekannt sind.

Das Halteproblem als Inspiration

Die wenigen Beispiele für nicht berechenbare Zahlen sind durch das berühmte Halteproblem aus der Informatik definiert: Demnach gibt es keine Maschine, die für alle möglichen Algorithmen beurteilen kann, ob ein sie ausführender Computer irgendwann zum Halten kommen oder nicht. Übergibt man einem Rechner einen beliebigen Algorithmus, kann man unter Umständen schon beurteilen, ob sich dieser in endlicher Zeit ausführen lässt. Doch es gibt nachweislich keine Methode, die das für alle möglichen Programmcodes tun kann. Das Halteproblem ist eine direkte Anwendung von Gödels Unvollständigkeitssätzen, die besagen, dass sich nicht alle mathematischen Aussagen beweisen lassen.

Das Halteproblem hat der argentinisch-US-amerikanische Mathematiker Gregory Chaitin genutzt, um eine nicht berechenbare Zahl zu definieren. Die so genannte chaitinsche Konstante Ω entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der das theoretische Modell eines Computers (eine Turingmaschine) für eine beliebige Eingabe anhält: Ω = ∑p½|p|, wobei p alle Programme bezeichnet, die nach endlicher Laufzeit halten. |p| beschreibt die Länge des Programms in der Einheit Bit. Um die chaitinsche Konstante genau zu berechnen, müsste man also wissen, welche Programme halten und welche nicht – was gemäß des Halteproblems nicht möglich ist. Dennoch gelang es Cristian S. Calude und seinen Kollegen im Jahr 2000, die ersten Stellen der chaitinschen Konstante zu berechnen: 0,0157499939956247687… Das heißt: Erzeugt man zufällig ein Programm in einer Sprache, die Calude und seine Kollegen genutzt haben, dann wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 1,58 Prozent in endlicher Laufzeit halten. Auch wenn das Ergebnis eine hohe Genauigkeit aufweist, lässt sich die chaitinsche Konstante nicht beliebig genau berechnen.

Eine nicht berechenbare Zahl und ein fleißiger Biber

Eine andere nicht berechenbare Zahl ergibt sich durch die »Fleißiger-Biber-Funktion« BB(n): Sie berechnet die größtmögliche Ausgabe (in Bits gemessen), die ein Algorithmus aus n Bits erzeugen kann. Eine nicht berechenbare Zahl ergibt sich beispielsweise durch folgende Konstruktion: ∑n½BB(n). Bisher sind nur die ersten vier Werte der Fleißiger-Biber-Funktion bekannt, zwei weitere Werte lassen sich zumindest abschätzen.

Programmlänge ngrößtmögliche Ausgabe
11
24
36
413
5≥ 4098
6> 3,514·1018267

Damit lauten die ersten Ziffern dieser nicht berechenbaren Zahl: ∑n½BB(n) = 0,51562548…

Es gibt weitere komplizierte Definitionen, um nicht berechenbare Zahlen zu konstruieren. Vielleicht fällt Ihnen ja auch eine Variante ein. Dennoch ist es angesichts der Fülle an berechenbaren Zahlen, die wir kennen, immer wieder erstaunlich, dass nicht berechenbare Werte die reellen Zahlen – und damit unsere Welt – dominieren.

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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