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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Betrugs, bei dem ein Schiff explodierte

Im Jahr 1875 erschütterte die Explosion eines Schiffs Bremerhaven. Es starben dutzende Menschen, weil ein Mann dringend Geld brauchte, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Der Holzstich aus dem 19. Jahrhundert zeigt das Auswandererschiff »Mosel« in Bremerhaven.

Am 11. Dezember 1875 kam es in Bremerhaven gegen 11 Uhr zu einer gewaltigen Explosion. Das Dampfschiff »Mosel« wurde gerade mit der letzten Fracht beladen und sollte sich dann auf den Weg nach Southampton machen, um von dort weiter nach New York zu fahren. Es waren vor allem Passagiere aus Süddeutschland an Bord, die auswandern und auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben beginnen wollten.

Die »Mosel« war ein Dampfschiff des Norddeutschen Lloyd (NDL). Neben Hapag (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft) war der NDL die bedeutendste deutsche Reederei. Beide Unternehmen haben nicht nur mit Fracht ihr Geld verdient, sondern vor allem mit Auswanderungswilligen.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Die Explosion, die im Winter 1875 Bremerhaven erschütterte, riss ein großes Loch in den Bug des Dampfschiffs, verwüstete den Pier und Teile Bremerhavens. Zurück blieb ein vier Meter tiefer Krater. Über 80 Menschen wurden getötet, mehrere hundert verletzt. Aber wie kam es zu dem Unglück? Nachdem sich der Rauch gelegt hatte, war klar, dass sich die Explosion außerhalb des Schiffs ereignet hatte. Eine erste Untersuchung war zu dem Schluss gekommen: Die Katastrophe wurde durch eine »im Fass verborgene Höllenmaschine« ausgelöst.

Mit dem Schiff in eine neue Heimat

Die großen Dampfschiffe der Reedereien, die in dieser Zeit die Segelschiffe allmählich ablösten, brachten die Auswanderer über den Ozean. Mit den neuen Schnelldampfern, die nicht so stark vom Wind abhängig waren, war ein zuverlässiger Linienbetrieb zwischen den Kontinenten möglich. Die Reisezeit über den Atlantik betrug nur 10 bis 14 Tage. Die Folge: Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs verließen mehr Migranten Europa als jemals zuvor. Und die Reedereien verdienten kräftig daran. In den 1880er Jahren wanderten jedes Jahr ungefähr 120 000 Deutsche in die USA ein. Bis ins 20. Jahrhundert bildeten sie die größte Gruppe, die neu ins Land kam.

Die meisten Auswanderinnen und Auswanderer verbrachten die Überfahrt im Zwischendeck – es war die günstigste, aber auch die beschwerlichste Art, den Atlantik zu überqueren. Im Zwischendeck gab es weder Komfort noch Kabinen wie in der 1. oder 2. Klasse. Stattdessen waren Bettgestelle aufgereiht, die bei der Rückfahrt zur Seite gestellt wurden, um Fracht unterzubringen. So war es auch im Fall der »Mosel«, eines Fracht- und Passagierschiffs, das erst 1872 fertig gestellt und für den Linienverkehr zwischen Bremerhaven und New York eingesetzt wurde. Das Zwischendeck bot Platz für fast 700 Personen.

Am Tag der Katastrophe stand die Abfahrt gen Southampton und weiter nach New York kurz bevor. Etwa 600 Passagiere befanden sich an Bord. Der Grund für den Zwischenstopp in England war ein Schiffsunglück wenige Tage zuvor: Der Dampfsegler »Deutschland« des NDL war am 6. Dezember 1875 untergegangen, nachdem das Schiff vor der Mündung der Themse auf eine Sandbank aufgelaufen war. Mehr als 50 Menschen starben bei dem Unglück.

Wie sich die Katastrophe in Bremerhaven ereignete

Die Überlebenden wurden nach Southampton gebracht, wo sie auf das nächste Dampfschiff warteten, das sie in die USA bringen sollte: die »Mosel« aus Bremerhaven. Doch es kam anders. Ein Fuhrwerk mit schweren Kisten und Fässern stand noch am Pier. Eines der Fässer bestand aus dunkelbrauner Eiche und war mit Eisen beschlagen. Der Behälter wog 1,3 Tonnen und enthielt laut Frachtbrief teure Eisenteile. Was genau passierte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, aber vermutlich fiel das Fass auf die Straße, nachdem es einem Hafenarbeiter mit dem Kran entglitten war.

Daraufhin kam es zu der gewaltigen Explosion. Wie heute bekannt ist, wurde in dem Fass, das mit Lithofracteur gefüllt war, durch den Aufschlag ein Zündmechanismus ausgelöst. Die Sprengstoffmischung Lithofracteur war eine Abwandlung der Dynamitrezeptur von Alfred Nobel (1833–1896), sie besaß allerdings eine höhere Sprengkraft.

Am Nachmittag, wenige Stunden nach der Explosion, wurde in einer Kabine der 1. Klasse ein schwer verletzter Mann gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Im ersten Moment hielt man ihn für ein Opfer der Explosion, doch die Polizei fand in der Kabine einen Revolver, in dem zwei Patronen fehlten. Offenbar hatte der Mann versucht, sich das Leben zu nehmen. Bald stellte sich nämlich heraus, dass das besagte Fass ihm gehörte.

Das Motiv lautete Versicherungsbetrug

Der Mann war ein in Schottland geborener Kanadier, sein Name lautete Alexander Keith Jr. In Europa gab er sich als William King Thomas aus. Keith war hoch verschuldet und kam auf die Idee, Versicherungsbetrug zu begehen. In ihrer Biografie über Keith »The Dynamite Fiend« zeichnet die Literaturhistorikerin Ann Larabee die Ereignisse nach. Keith ließ eine wertlose Fracht sehr hoch versichern, die dann bei einem Sprengstoffanschlag im Meer verloren gehen sollte. Geplant war aber, dass die Bombe erst nach einigen Tagen explodiert – mitten auf dem Atlantik. Er selbst wollte in Southampton von Bord gehen, wo die Überlebenden der »Deutschland«-Havarie, die »Mosel« besteigen sollten.

Der schwer verletzte Keith gestand die Tat, starb aber am 16. Dezember, fünf Tage nach dem Anschlag – noch bevor er zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Die Untersuchung des Falls durch die Bremer Ermittlungsbehörden förderten erschütternde Details zu Tage. Den Plan, für eine Versicherungssumme den Tod von mehreren hundert Menschen in Kauf zu nehmen, hatte Alexander Keith spätestens seit 1873 gehegt. In dem Jahr wurde er bei einem Uhrmacher vorstellig, den er beauftragte, ein Uhrwerk zu bauen, das mehrere Tage so geräuschlos wie möglich laufen und dann durch einen schweren Schlag den Zünder auslösen sollte. Beim Kauf des Sprengstoffs gab er sich als jamaikanischer Bergwerksbesitzer aus.

Das ist noch nicht alles: Der Anschlag auf die »Mosel« war bereits sein dritter Versuch. Im Sommer 1875 hatte er eine Bombe auf den Dampfer »Rhein« des NDL deponiert. Zu seiner Enttäuschung stellte er fest, dass das Schiff New York erreicht und der Zündmechanismus offenbar versagt hat. Die nächste Reederei nahm seine Fracht nicht an, ohne sie vorher zu begutachten, weshalb er schließlich nach Bremerhaven ging und es bei der »Mosel« versuchte. Die Reederei nahm die Kiste an und das Unglück seinen Lauf. Das Ermittlungsverfahren wurde 1878 eingestellt, weil keine weiteren Täter ermittelt werden konnten und Alexander Keith tot war.

Heute ist der Anschlag weitgehend vergessen. Auch die kleine Metalltafel, die einst bei der Zufahrt zum Neuen Hafen in Bremerhaven an die Tragödie erinnerte, ist offenbar nicht mehr zu finden.

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