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Absturz auf Jupiter

Voraussichtlich werden zwischen dem 16. und 20. Juli mehr als 20 große Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy 9 mit unvorstellbarer Wucht in die Jupiteratmosphäre eintauchen. Astronomen in aller Welt erhoffen sich von dem einzigartigen Naturschauspiel neue Erkenntnisse über die Urbausteine des Sonnensystems und die Atmosphäre des Riesenplaneten.


Erstmals eröffnet sich die Möglichkeit, quasi unmittelbar vor unserer kosmischen Haustüre einen Vorgang zu beobachten, der für die Entstehung des Sonnensystems von wesentlicher Bedeutung war und es im Laufe der Jahrmilliarden weiter prägte: Durch Zusammenstöße zwischen Kometen – gleichsam schmutzigen Schneebällen aus Wassereis und anderen gefrorenen Gasen – und Gesteinsbrocken, den Planetoiden, bildeten sich einst die Vorläufer der Planeten. Nachfolgende Kollisionen führten weiteres Material zu und übersäten die verfestigten Oberflächen mit Einschlagskratern, deren Spuren zum Teil noch heute erkennbar sind.

Der Aufprall eines Materiebrockens auf einen anderen Himmelskörper gehört zu den effektivsten Energieumwandlungsprozessen, die es gibt. Wieviel Energie dabei freigesetzt wird, hängt außer von der Masse des einfallenden Objekts überwiegend von seiner Impaktgeschwindigkeit ab, die wiederum von der Schwerkraft auf der Oberfläche des zentralen Körpers mitbestimmt wird. Jupiter verfügt nach der Sonne über das stärkste Gravitationsfeld in unserem Planetensystem, so daß die Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy 9 immerhin mit 60 Kilometern pro Sekunde (216000 Kilometern pro Stunde) in seine dichte Atmosphäre eintauchen werden. Alle Fragmente zusammen setzen bei ihrem Eindringen in den Gasplaneten womöglich so viel Energie frei wie die Detonation von 100 Billionen Tonnen konventionellen Sprengstoffs oder von 5 Milliarden Atombomben der Stärke, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten.

Bereits bei seiner Entdeckung im März 1993 ließ der periodische Komet P/Shoemaker-Levy 9 (1993e) – so seine genaue astronomische Bezeichnung – Ungewöhnliches erwarten. Damals hatten Eugene Shoemaker vom Geologischen Dienst der USA in Flagstaff (Arizona), seine Frau Carolyn von der dortigen Northern Arizona University und David H. Levy von der Universität von Arizona in Tucson wie schon viele Nächte zuvor mit der 45-Zentimeter-Schmidt-Kamera des Mount-Palomar-Observatoriums (Kalifornien) den Himmel nach unbekannten Objekten abgesucht. Dem Trio haben die nächtlichen Einsätze einen geradezu legendären Ruf als Kometenjäger eingebracht – immerhin ist Komet 1993e (der Buchstabe weist darauf hin, daß es das fünfte im Jahr 1993 entdeckte derartige Obiekt ist) bereits der neunte, der von ihm erspäht wurde; Carolyn Shoemakers Erfolgsziffer beträgt sogar schon 28.

Die erfahrenen Beobachter waren vom ungewöhnlichen Erscheinungsbild ihrer neuesten Entdeckung überrascht. Während ein Komet üblicherweise als diffuses Lichtscheibchen mit – je nach Entfernung von der Sonne – mehr oder weniger stark ausgeprägtem Schweif erscheint, war dieser zu einem langen, geraden Streifen auseinandergezogen.

Der Grund wurde deutlich, als sich durch nachfolgende Beobachtungen die Bahn des seltsamen Objekts rekonstruieren ließ. Shoemaker-Levy 9 bewegte sich nicht wie andere Kometen um die Sonne, sondern in einer langgestreckten Ellipse um Jupiter. Das Schwerefeld dieses Riesenplaneten mußte ihn vor noch nicht langer Zeit aus seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt und eingefangen haben. Beim letzten Durchlaufen des Perijoviums – des jupiternächsten Punktes seiner Bahn – im Juli 1992 kam er dem Planeten schließlich so nahe, daß Gezeitenkräfte ihn auseinanderbrechen ließen. Jedes der insgesamt 22 erkennbaren Fragmente, die von einer diffusen Staubhülle umgeben sind, bewegt sich nun auf etwas unterschiedlichen Bahnen. Das Ensemble ist annähernd wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht (Bild 1).

Wie James V. Scotti und H. Jay Melosh von der Universität von Anzona vermuten ("Nature", 21. Oktober 1993, Seiten 733 bis 735), muß die Fragmentation sehr sanft verlaufen sein. Ihrem einfachen Modell zufolge genügte bereits eine so geringe Kraft, wie man sie mühelos mit einem Finger ausüben kann, um den Kometenkern beim Passieren des Perijoviums zu zerlegen. Dieser bestand demnach offenbar nur aus einer lockeren Ansammlung von Eisbrocken und Staub, die durch die geringe eigene Schwerkraft zusammengehalten wurden. Anhand der Beobachtungsdaten und unter den Voraussetzungen ihres Modells schätzten die beiden Wissenschaftler den ursprünglichen Durchmesser des Kometenkerns auf zwei Kilometer.

Viele Astronomen halten jedoch einen größeren Wert für möglich. Unter der wahrscheinlicheren Annahme, daß der Kern entlang eines längeren Bahnstücks auseinanderbrach, ermittelten Zdenek Sekanina, Paul Chodas und Donald Yeomans vom Jet Propulsion Laboratory in Pasadena (Kalifornien) einen ursprünglichen Durchmesser von neun Kilometern. Demnach müßten die größeren Fragmente Durchmesser zwischen einem und vier Kilometern aufweisen – Werte, wie sie auch aus den besten Aufnahmen der Trümmerkette abgeleitet wurden.

Eine möglichst genaue Kenntnis der Fragmentgröße ist für die Astronomen von außerordentlichem Interesse, hängen doch die beim Eintauchen eines Trümmerstücks in die Jupiteratmosphäre zu erwartenden Effekte wesentlich von seiner Masse und damit von der dritten Potenz seines Durchmessers ab.

Den Berechnungen zufolge sollten alle Bruchstücke zwischen dem 16. und 22. Juli auf dem Planeten niedergehen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Trümmerkette, die zeitweise sehr stark zur Bahnrichtung geneigt war, wieder in diese Richtung eingeschwenkt sein, so daß alle Objekte praktisch an der gleichen Stelle in die Jupiteratmosphäre eintauchen. Von der Erde aus ist die Einschlagstelle zwar nicht direkt sichtbar, weil sie sich wenige Grad hinter dem Horizont des Planeten befindet; da Jupiter sich aber innerhalb von 9,8 Stunden einmal um seine Achse dreht, wird das betreffende Gebiet jeweils eine Viertelstunde nach dem Einschlag eines Bruchstücks der Beobachtung zugänglich sein (Bild 2).

Unklarheit herrscht noch darüber, welche Effekte überhaupt auftreten, wenn die Kometentrümmer in den aus gasförmigem und flüssigem Wasserstoff und Helium bestehenden Planeten eindringen. Zum einen variieren die Schätzungen über die Masse der einzelnen Bruchstücke und damit über die jeweils freigesetzte Energie um bis zu drei Größenordnungen. (Beispielsweise hätte ein lockerer Eisklumpen mit einem Durchmesser von einem Kilometer und einer angenommenen Dichte von 0,5 Gramm pro Kubikzentimeter – dieser Wert könnte aber auch um einen Faktor zwei größer oder kleiner sein – bei einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Sekunde eine kinetische Energie von etwa 1021 Joule, entsprechend 240 Milliarden Tonnen TNT oder 12 Millionen Hiroshima-Bomben.) Zum anderen hängen die Wirkungen aber auch davon ab, auf welche Weise und in welcher Höhe diese Energie freigesetzt wird. Weil ein solch dramatisches Ereignis noch niemals beobachtet worden ist, sind die Astronomen mit ihren Vorhersagen entsprechend vorsichtig.

Falls die einzelnen Fragmente ebenfalls nur aus losen Zusammenballungen von Eis und Staub bestehen, könnten sie bereits beim Auftreffen auf die obersten Atmosphäreschichten zerbröseln und einen Meteorschauer ungekannten Ausmaßes hervorrufen. Wegen der hohen Impaktgeschwindigkeit hält die in der Jupiteratmosphäre hervorgerufene Stoßwelle die Trümmer aber vielleicht eine Weile zusammen, so daß sie tiefer eindringen und erst in Höhe der Wolkendecke zerplatzen. Sofern sie sogar 20 bis 30 Kilometer unter die Wolkendecke eintauchten, sollten sie dort durch den plötzlich ansteigenden Druck schlagartig verdampfen. Ähnlich wie bei einer gewaltigen Nuklearexplosion würde dann ein gigantischer Feuerball erhitzter Materie aufsteigen und ein riesiges Loch in die Gashülle reißen.

Bestehen die Kometentrümmer andererseits aus kompaktem Eis, könnten sie durchaus bis zu 300 Kilometer tief eindringen, bevor sie etwa zehn Sekunden nach dem Eintauchen dann mit unvorstellbarer Wucht explodierten. Fast die gesamte kinetische Energie würde dabei erst in großer Tiefe freigesetzt. Der aufsteigende Feuerball müßte anfangs etwa so hell leuchten wie Jupiter selbst, und Materie würde bis in mehrere hundert Kilometer Höhe geschleudert. In der Folge könnte sich ein auffälliger, über lange Zeit stabiler Wirbel ähnlich dem bekannten Großen Roten Fleck in der Atmosphäre bilden.

Obwohl die Leuchterscheinungen nicht direkt beobachtbar wären, könnten sie sich durch eine Reflexion an den inneren Jupitermonden bemerkbar machen – insbesondere dann, wenn einer davon gerade durch den Schatten des Riesenplaneten verfinstert sein sollte, wie das mehrmals in der fraglichen Zeit geschieht.

Zahlreiche der größten Teleskope werden, mit unterschiedlichen Meßgeräten bestückt, bei dem großen Ereignis auf Jupiter ausgerichtet sein. Allein am La-Silla-Observatorium der Europäischen Südsternwarte ESO sind zwölf Beobachtungsprogramme vorgesehen. Durch photometrische Beobachtung der Jupitermonde beispielsweise hofft man, deren Aufhellung zu erkennen und so jeweils den genauen Zeitpunkt der Ereignisse bestimmen zu können. Spektroskopische Untersuchungen der aufsteigenden Materie versprechen Aufschluß über die chemische Zusammensetzung tiefer Schichten der Jupiteratmosphäre und des Kometenmaterials. Durch Infrarot-Beobachtungen sollen die Aufheizung der Atmosphäre und das Ausbreiten von Dichtewellen bestimmt werden. Im sichtbaren Licht hält man nach Veränderungen der Wolkenstrukturen Ausschau. Mit Radioteleskopen sollten sich Methan, Ammoniak und andere Moleküle nachweisen lassen, die eventuell aus der Tiefe aufsteigen.

Zur Beobachtung des himmlischen Spektakels werden aber auch erdumkreisende Satelliten und sogar interplanetare Sonden eingesetzt. Voyager 2, die bereits vor 15 Jahren an dem Riesenplaneten vorbeigeflogen ist, hat von ihrer heutigen Position aus optimale Sicht auf die voraussichtlichen Einschlagstellen. Der Abstand von immerhin 6 Milliarden Kilometern beeinträchtigt zwar das Auflösungsvermögen, man hofft aber dennoch, aussagefähige Messungen zu erhalten. Auch Galileo kann den Ort des Einschlags direkt beobachten. Diese Sonde ist ohnehin auf dem Weg zum Jupiter, wird ihn aber erst in 17 Monaten erreichen. Von ihren Bordinstrumenten verspricht man sich einige der aufschlußreichsten Daten.

Angesichts der Einmaligkeit des Ereignisses sind die Erwartungen der Astronomen jedenfalls hochgespannt. Schon der Einfang eines Kometen durch Jupiter ist – gemessen an der Lebensspanne eines Menschen – recht selten; der Zerfall eines derartigen Himmelskörpers ebenso. Bis aber wieder einmal der Absturz eines Kometen auf Jupiter beobachtet werden kann, dürften mehrere zehntausend Jahre vergehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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