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Wissenschaftsgeschichte: Al-Biruni - Ein Gelehrter, den das Abendland übersah

In der Blütezeit der Wissenschaft im mittelalterlichen Orient gelangte der Universalgelehrte al-Biruni zu Erkenntnissen, die vergleichbaren Entwicklungen im Abendland um Jahrhunderte vorangingen.


Hätte es vor tausend Jahren schon einen Nobelpreis gegeben, wäre er wohl reihenweise an muslimische Wissenschaftler gegangen. Zu der Zeit wirkte in Europa noch immer das Erbe der Römer nach, zu deren Interessen die anspruchsvollen Wissenschaften nicht gehörten. Im Orient hingegen hatte sich unter dem Islam ein geistiges Klima herausgebildet, das die Beschäftigung mit Naturerscheinungen, der Mathematik und der Medizin nicht nur gestattete, sondern zum Teil sogar intensiv förderte.

Der Einflussbereich der von Mohammed begründeten Religion erstreckte sich im 10. Jahrhundert von der iberischen Halbinsel über Nordafrika und Vorderasien bis zur indischen Grenze. Islamische Gelehrte nahmen das Wissen aus den bekehrten Kulturräumen bereitwillig auf. Das griechisch-hellenistische Erbe wurde ebenso rezipiert wie das Wissen der Inder und die Kenntnisse der Iraner aus der vorislamischen Zeit. Durch den Sieg über die Chinesen in der Schlacht bei Samarkand im Jahre 751 erwarben die Araber von Kriegsgefangenen die Kenntnis der Papierherstellung, und der billige Beschreibstoff wurde zusammen mit ihrer eleganten Schrift, die eine viel höhere Schreibgeschwindigkeit erlaubt als die lateinische, zu einem wichtigen Kulturfaktor.

Mehrere Orte im islamisch-arabischen Raum entwickelten sich zu geistigen und kulturellen Zentren. In Bagdad beispielsweise wurde im 9. und 10. Jahrhundert praktisch alles, was in der griechischen Spätantike an Wissenschaften noch lebendig war, ins Arabische übertragen. Dazu gehörten vor allem das Korpus der aristotelischen Schriften, das umfangreiche Lebenswerk des Arztes Galen von Pergamon (129 – 216) und der "Almagest", das astronomische Handbuch des Ptolemäus (um 100 – 160).

Die islamisch-arabische Wissenschaft erschöpfte sich indes nicht in der Übernahme bereits vorhandenen Wissens. Vielmehr fügte sie existierende Bausteine zusammen und entwickelte sie durch eigene Arbeiten deutlich weiter. Auf diese Weise brachten die Länder der muslimischen Gemeinschaft zahlreiche Gelehrte hervor, die wesentlich zum wissenschaftlichen Fortschritt beitrugen.

Einer der preiswürdigen Kandidaten war der in Ägypten wirkende Naturforscher Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham (um 965 – 1039), der im Abendland als Alhazen bekannt wurde. Er beschrieb die Wirkungsweise von optischen Linsen und entwickelte Hohlspiegel. Mit seinen optischen Versuchen – 600 Jahre vor Galilei und Kepler – ist er als der erste wirkliche Experimentalphysiker in der Geschichte anzusehen. Ein weiterer Kandidat war der Perser Abu Ali al-Husain ibn Abdallah ibn al-Hasan ibn Ali ibn Sina (um 980 – 1037). Er schuf Zusammenfassungen der aristotelischen Philosophie und der galenischen Medizin, die jahrhundertelang als Lehrbücher benutzt wurden. Unter seinem latinisierten Namen Avicenna beeinflusste er mit diesen Werken die abendländische Geistes- und Medizingeschichte wie kaum ein anderer nicht-christlicher Gelehrter.

Der Wissenschaftshistoriker George Sarton hat indes einem anderen Zeitgenossen von Alhazen und Avicenna den ersten Rang zuerkannt: dem Gelehrten Abu r-Raihan Muhammad ibn Ahmad al-Biruni (973 – 1048). Im Gegensatz zu den beiden Erstgenannten ist al-Biruni dem Abendland völlig unbekannt geblieben. Erst der französische Orientalist Joseph Reinaud und der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt verbreiteten Mitte des 19. Jahrhunderts die Kunde von ihm in Europa. Bis heute gibt es keine vollständige deutsche oder englische Ausgabe seiner Werke. Es liegt lediglich eine russische Übersetzung der arabischen Schriften vor, die seit 1957 in Taschkent, der mittelasiatischen Heimat des Gelehrten, herausgegeben wird.

Al-Biruni wurde im September 973 in Kath geboren, der am Ufer des Amudarja südlich des Aralsees gelegenen Hauptstadt des damaligen Reiches Choresm. Heute gehört diese Region zu Usbekistan. Sein Schicksal führte ihn – teils freiwillig, teils gezwungen – an verschiedene Orte des mittelasiatischen Raumes. Allen widrigen Umständen zum Trotz entwickelte sich al-Biruni zum wohl bedeutendsten Gelehrten des islamischen Mittelalters. Wesentliche Beiträge leistete er zur Mathematik, Astronomie, Geodäsie, Mineralogie und Pharmazie. Seine Schriften sind von einer rationalen Denkweise und humanistischen Einstellung geprägt, wie sie nur ein großer Forschergeist entwickeln kann. Die vielseitige Leistung, die er seinem Leben abgerungen hat, sucht ihresgleichen.

Al-Biruni stammte offenbar aus einfachen Verhältnissen. Aus nicht überlieferten Gründen wuchs er mit den Prinzen der in Choresm regierenden Iraqiden-Dynastie auf. Ein Angehöriger dieses Fürstenhauses, Abu Nasr Mansur ibn Ali ibn Iraq, hatte sich seiner angenommen. Dies erwies sich für den jungen al-Biruni als Glücksfall. Nur in der Nähe eines der Fürstenhöfe, die wegen der politischen Zersplitterung des Kalifats recht zahlreich geworden waren, konnten sich dank der dort gebotenen Muße und der materiellen Sicherheit kreative Begabungen entfalten. Und Abu Nasr Mansur war selbst ein angesehener Gelehrter: Er hatte eine Bearbeitung der "Sphärik" des hellenistischen Mathematikers Menelaos von Alexandrien herausgegeben, die nur in dieser Form erhalten ist.

Bereits im Alter von etwa 17 Jahren bestimmte al-Biruni selbstständig die geographische Breite seiner Geburtsstadt. Dass die Erde eine Kugel ist, war für ihn selbstverständlich. Ein halbes Jahrtausend vor Martin Behaim, der 1492 in Nürnberg seinen "Erdapfel" konstruierte, baute al-Biruni einen Erdglobus. Mit fünf Metern Durchmesser war er zehnmal größer angelegt als der Globus des Deutschen, als Halbkugel umfasste er aber nur die nördliche Hemisphäre. Dies hatte gewiss technische Gründe, doch über die Länder jenseits des Äquators war ohnehin kaum etwas bekannt. Auf der sphärischen Oberfläche trug al-Biruni die Positionen von Städten ein, die teils mit astronomischen Verfahren bestimmt und teils aus Entfernungsangaben abgeleitet worden waren, die er von Reisenden erfragt hatte.

Pionier der Erdvermessung


Für die Positionsbestimmung hatte al-Biruni mit denselben Problemen zu kämpfen, die europäische Seefahrer auch noch Jahrhunderte später plagten: Während sich die geographische Breite eines Ortes leicht aus der Sonnenhöhe ermitteln lässt, braucht man für die geographische Länge, also den Winkelabstand zu einem willkürlich festgelegten Nullmeridian, ein raumübergreifendes Zeitsignal. Schon die Griechen hatten erkannt, dass sich dafür eine Mondfinsternis eignet, die von allen Orten aus, an denen der Mond über dem Horizont steht, gleichzeitig gesehen wird. Die tatsächliche Messung erfordert indessen eine weiträumige und vorausschauende Planung. Deshalb korrespondierte al-Biruni mit dem Astronomen Abu l-Wafa al-Buzdjani, der in Bagdad lebte, und vereinbarte mit ihm die gemeinsame Messung der jeweiligen Ortszeit, zu der die für den 24. Mai 997 erwartete Finsternis eintrat. Für die Differenz der Ortszeiten von Kath und Bagdad fanden die beiden Forscher genau eine Stunde – nur fünf Minuten weniger als der wirkliche Wert – und damit den vierundzwanzigsten Teil des Vollkreises, also fünfzehn Grad.

Ein anderes wissenschaftliches Problem betraf die tatsächliche Größe der Erde. Über ihre Kugelform gab es für diejenigen, die Aristoteles und Ptolemäus studiert hatten, keine Diskussionen mehr. Al-Biruni erzählt belustigt von einem Streit, der sich Anfang des 10. Jahrhunderts zwischen einem christlichen Philosophen und einem muslimischen Theologen zugetragen hatte. Letzterer hatte voller Zorn aus einer Aristoteles-Übersetzung Seiten herausgerissen, wo davon die Rede war, dass das Wasser des Ozeans die schwerere Erde und den Weltmittelpunkt ballförmig umgibt. Der Theologe beharrte darauf, dass das flüssige Wasser immer nur die Form eines umgebenden festen Körpers annehme – folglich müsse es von der Erde herabtropfen, falls diese kugelförmig sei. Al-Biruni bemerkt dazu: "Wenn ich an [des Philosophen] Stelle gewesen wäre, hätte ich ihm ins Ohr geschrien und ihm in den Daumen gebissen, damit er nach diesem Anfall wieder zu sich gekommen wäre. Aber das Gespräch mit ihnen ist nutzlos, ja es ist Zeitverschwendung."

Dabei hatte schon hundert Jahre vor diesem Disput al-Ma'mun (786 – 833), ein Sohn und Nachfolger des Märchenkalifen Harun ar-Raschid, in der Wüstenebene bei Mossul die Länge eines Breitengrades vermessen lassen. Er benutzte dazu eine von Eratosthenes (276 – 196 v. Chr.) beschriebene Methode. Das Ergebnis war mit 113 Kilometern erstaunlich genau – nur etwa 1,5 Prozent größer als der moderne Wert. Al-Biruni hat das aufwändige Verfahren beschrieben, doch eine Wiederholung der Messung war ihm versagt, denn er hätte dazu viele Mitarbeiter und in den damals unsicheren Zeiten noch eine militärische Bedeckung gebraucht. Statt dessen wählte er ein anderes Verfahren, das al-Ma'mun auch schon ausprobiert hatte und für das es kein griechisches Vorbild gab.

Der Kalif hatte während eines Kriegszuges an der kleinasiatischen Küste befohlen, die Höhe eines Berges zu vermessen, um dann von dessen Gipfel beim Sonnenuntergang einen Visierstab gegen den Meereshorizont zu richten. Aus der gemessenen Winkeldifferenz zur Waagrechten und der bekannten Höhe des Berges konnte die Größe der Erdkugel berechnet werden. Al-Biruni hatte zwar keine Meeresküste zur Verfügung, aber in seinen späteren Jahren konnte er die weitläufige Indusebene als gleichwertigen Ersatz nutzen. Um das Jahr 1023 befand er sich in der Festung Nandana, die am Rand des afghanischen Gebirges über der indischen Ebene des Pandschab aufragt. Von einem benachbarten Berg konnte er die Horizontlinie der glatten Ebene gegen das Blau des Himmels gut erkennen. Auf diese Weise ermittelte er für den 360. Teil des Erdumfangs einen Wert von 110 275 Metern.

Die frühe Beschäftigung al-Birunis mit der Geodäsie und der sphärischen Trigonometrie ist auf seinen Lehrer Abu Nasr Mansur zurückzuführen. Diese Disziplinen hatten im islamischen Raum einen besonderen Stellenwert, denn in der zweiten Sure des Korans war dem Gläubigen eine bestimmte Aufstellung beim Gebet befohlen: "Und wo du auch immer herausgetreten bist, so wende dein Gesicht in Richtung auf die heilige Moschee, und wo ihr auch immer seid, so wendet euer Gesicht in diese Richtung." Al-Biruni machte sich über die Einfältigen lustig, die zwar in der unmittelbaren Umgebung von Mekka noch wüssten, wo die Kaaba gelegen sei, sich aber dann bei größerer Entfernung an Windrichtungen oder am Mittagsstand der Sonne orientierten, weil sie in Mekka zur Sommerszeit im Zenit stehe und es ihrer Meinung nach auf der ganzen Erde zur gleichen Zeit Mittag sei.

Wie stark ein Forscher von der Gunst eines Landesherren abhängt, bekam al-Biruni im Laufe seines Lebens immer wieder eindringlich vorgeführt. Als im Jahre 995 die Dynastie der Iraqiden in Choresm gestürzt wurde, sah er sich seiner Lebensbasis beraubt, und er musste seine Heimat verlassen. Zuflucht fand er in der persischen Stadt Rayy in der Nähe des heutigen Teheran. Er machte sich dort mit dem Astronomen al-Khudjandi bekannt, der mit seinem Fürsten so gut stand, dass er einen riesigen Sextanten bauen konnte – mit einem Radius von zwanzig Metern. Das gigantische Messgerät war entlang der Meridianlinie ausgerichtet und halb in die Erde eingetieft. Damit ermittelte al-Khudjandi die Schiefe der Ekliptik, wobei er mit 23°32'19" dem heute gültigen Wert von etwa 23°27' näher kam als Ptolemäus, der 23°52' bestimmt hatte. Der arabische Wissenschaftler hatte erfolgreich den Umstand genutzt, dass sich durch Vergrößern der Instrumente die Messgenauigkeit erhöhen lässt. Dieses Prinzip trieb 400 Jahre später der Herrscher und Astronom Ulug Beg zur Vollendung: Der riesige Sextant, den er in seinem Observatorium bei Samarkand errichtete, war ein um das Doppelte vergrößerter Nachbau der Anlage al-Khudjandis.

Disput mit Avicenna


In Rayy gelang es al-Biruni jedoch nicht, eine Anstellung bei Hofe zu bekommen. Deshalb entschloss er sich bald, ins heimatliche Kath zurückzukehren. Zu seinem Entschluss mag auch sein Vorhaben beigetragen haben, die Mondfinsternis vom Mai 997 zur Längenbestimmung zu nutzen. Denn von Kath aus hatte er eine viel längere Basislinie zu seinem Kollegen al-Buzdjani in Bagdad zur Verfügung als von Rayy aus.

Bereits 998 verließ al-Biruni seine Heimat aufs Neue. Er wandte sich nach Gurgan an der Südostküste des Kaspischen Meeres, wo er am Hofe des Herrschers Qabus wohlwollend aufgenommen wurde. Hier verfasste er einige astronomische Schriften, darunter eine Abhandlung zur Konstruktion des Astrolabs. Mit einem solchen Instrument konnte man Gestirne anvisieren, die Uhrzeit bestimmen sowie geodätische Messungen und trigonometrische Berechnungen durchführen.

Etwa fünf Jahre verbrachte al-Biruni in Gurgan. Dann zog es ihn nach Gurgentsch, der neuen Hauptstadt des choresmischen Reiches. Dort hatten sich einige gelehrte Männer zu einer Art Akademie zusammengefunden, darunter auch sein Lehrer Abu Nasr Mansur. Später gesellte sich noch Avicenna hinzu, der wegen veränderter Herrschaftsverhältnisse aus seiner Heimatstadt Buchara fliehen musste.

An seinem neuen Aufenthaltsort befasste sich al-Biruni verstärkt mit physikalischen Problemen. Um die Dichte von Metallen und Edelsteinen messen zu können, konstruierte er ein Überlaufgefäß, aus dem ein Körper mit einem bestimmten Gewicht eine bestimmte Menge Wasser verdrängte; ein gleich schwerer mit einer geringeren oder größeren Dichte brachte hingegen entsprechend mehr oder weniger Wasser zum Überlaufen. Mit diesem Verfahren hätten die Alchemisten, die auch in der islamischen Welt ihr Unwesen trieben, das falsche Gold ihrer Laboratorien überprüfen können, was sie aber offenbar nie taten. Al-Biruni bewahrte sich dazu eine gesunde Skepsis und urteilte nur im Blick auf seine Zeitgenossen, "dass viele verständige Leute in die Alchemie vernarrt sind, während viele Dummköpfe über sie und ihre Adepten spotten". In der Tat war ihr Tun rationaler als das der Magier, denn sie kamen ohne Beschwörungen aus. Unter den Alchemisten regte sich bereits ein faustischer Wille zur Weltveränderung, welcher der rein betrachtenden antiken Naturphilosophie noch fehlte.

Deren vornehmster Vertreter war Aristoteles. Aber al-Biruni war nicht mit allen Ausführungen in den Schriften des griechischen Denkers zufrieden. So wandte er sich bereits in der Zeit seines zweiten Aufenthalts in seiner Heimatstadt Kath mit einigen Fragen an Avicenna, der damals noch in Buchara lebte und der trotz seiner Jugend bereits als Experte der aristotelischen Philosophie galt.

Der Briefwechsel zwischen al-Biru-ni und Avicenna griff eine Fülle von Naturphänomenen auf. Aristoteles hatte vier irdische Grundstoffe angenommen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Aus ihrer Verbindung sollte die Vielfalt der Körper hervorgehen. Zugleich hatte er angenommen, dass sie sich unter bestimmten Umständen ineinander umwandeln – etwa entsprechend den verschiedenen Aggregatzuständen. Al-Biruni fragte nun Avicenna, ob sich Wasser beim Verdampfen nur in der Luft verteile und unsichtbar werde oder selbst zu Luft werde. Der Angesprochene hielt allein Letzteres für richtig und führte zum Beweis eigene Experimente an. Dazu legte er mit Wasser gefüllte Flaschen in einen Ofen, worauf diese zerplatzten. Nach Avicennas Interpretation hatte das Wasser in der Hitze die neue Form der Luft angenommen, die mehr Platz brauche. Eine Verteilung der Wasserteilchen hätte ihm zufolge eine solche Sprengkraft nicht entwickeln können. Erst später hat al-Biruni selbst beobachtet, dass sich Quecksilberdampf beim Abkühlen wieder in richtiges Quecksilber zurückverwandelte, also diese Form nie abgelegt hatte.

Al-Biruni fragte auch, warum wassergefüllte Flaschen beim Gefrieren zerplatzen, da sich doch alle Körper in der Kälte zusammenziehen. Avicenna belehrte ihn, dass sich das Wasser tatsächlich zusammenziehe, aber da es nach Aristoteles kein Vakuum gebe, entstehe in dem Gefäß ein Unterdruck, der seine Wand zerspringen lasse. Al-Biruni hatte aber genauer beobachtet und bemerkt, dass die Wandung nicht nach innen, sondern nach außen gedrückt wird.

Vordenker eines neuen Weltbildes


In diesen Beispielen offenbart sich ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden islamischen Gelehrten: Für Avicenna, der sich stark an die Denkweise der Antike anlehnte, diente das gelegentliche Experiment dazu, eine vorgefasste Theorie zu bestätigen. Al-Biruni hingegen zeigte erste Ansätze, aus dem Gehäuse des aristotelisch-ptolemäischen Weltbildes auszubrechen. Seine Experimente gingen bereits in die Richtung, die man heute als Falsifikation bezeichnen würde. Während Avicenna später in seinem "Kanon in der Medizin" eine allgemein behauptete Giftigkeit des Diamanten theoretisch zu untermauern suchte, berichtete al-Biruni in seiner "Mineralogie": "Einmal wurden in meiner Gegenwart einem Hund Diamanten eingegeben, es zeigte sich keine Wirkung, weder sofort noch nach einiger Zeit."

In den Jahren 1013/1014 begannen in Choresm politische Unruhen, die nicht nur für den weiteren Lebensweg al-Birunis und Avicennas einschneidende Bedeutung hatten, sondern auch großen Einfluss auf den Verlauf der Wissenschafts- und Kulturgeschichte nehmen sollten. Von seiner Residenzstadt Ghazna aus betrieb der Sultan Mahmud eine rastlose Eroberungspolitik. Sein Herrschaftsbereich erstreckte sich von Georgien im Westen bis in das Industal im Osten. Im Norden hatte er Choresm zunächst durch friedliche Weise an sich gebunden, indem er dem dortigen Schah eine seiner Schwestern zur Frau gegeben hatte. Als sich der Adel in Choresm gegen die Willkür Mahmuds auflehnte und den Schah ermordete, war dies willkommener Anlass für Mahmud, mit seinem Heer in das kleine Staatswesen einzufallen und seinen Schwager zu rächen. Al-Biruni, der zu einem engen Vertrauten des Schahs aufgestiegen war, entging zwar der Hinrichtung, wurde aber mit zahllosen Gefangenen nach Ghazna verschleppt. Avicenna war rechtzeitig aus Gurgentsch geflohen; auf abenteuerlichen Wegen gelangte er über Gurgan und Rayy nach Isfahan.

Al-Biruni gelang es, sich mit seinem neuen Schicksal zu arrangieren. Denn auch für einen ungeistigen Machtmenschen wie Mahmud war die Gegenwart eines Gelehrten am Hofe nicht ganz unnütz. Einmal erschien in Ghazna ein Gesandter der Bulgaren aus dem Wolgagebiet zur Audienz. Beiläufig erzählte dieser, im hohen Norden gäbe es Gegenden, in denen im Sommer die Sonne nicht untergehe. Mahmud brauste auf und beschuldigte ihn der Ketzerei, war doch das fünfmalige pflichtgemäße Tageszeitengebet und das Fasten im Ramadan am Auf- und Untergang der Sonne orientiert. Al-Biruni war zugegen und konnte begründen, dass es mit dem beschriebenen Phänomen seine Richtigkeit haben müsse. In seiner "Geodäsie" berichtet er, dass Anwohner der Ostsee auf den Ozean hinausfahren "und dabei ihre Fahrt in Richtung auf den Himmelsnordpol bis zu einer Stelle fortsetzen, wo die Sonne bei ihrer sommerlichen Wende über dem Horizont kreist. Sie beobachten das und brüsten sich damit bei ihren Leuten, dass sie den Ort erreicht haben, an dem es keine Nacht gibt".

Wiederholt unternahm Mahmud Kriegszüge nach Nordwestindien. Als muslimischer Glaubenskämpfer plünderte er dort Tempel und brachte Reichtümer, Elefanten und Sklaven nach Ghazna. Al-Biruni durfte oder musste ihn dabei begleiten und nutzte die Gelegenheit zu ausgedehnten Studien, die sogar das Erlernen des Sanskrit einschlossen. Die Frucht dieser Reisen ist eine umfassende Monographie über Indien, in der er alles zu analysieren versuchte, was ihm in dieser völlig fremden Welt auffiel: das Kastenwesen, den Polytheismus, die Seelenwanderung, die seltsamen kultischen Reinheitsvorstellungen und die heiligen Kühe.

Anfangs hatte al-Biruni gehofft, durch den Kontakt mit indischen Astronomen etwas Neues hinzulernen zu können. Darin sah er sich aber getäuscht. Manches entsprach zwar dem, was die Griechen auch und besser ausgearbeitet hatten. Dann aber störten ihn Kompromisse mit der Volksreligion, wenn etwa die Mond- und Sonnenfinsternisse, die im Kult noch heute eine Rolle spielen, auf einen unsichtbaren Dämon am Himmel zurückgeführt wurden. Als Ursache der falschen Meinung entdeckte er, dass die indische Vorstellung den Mond über der Sonne platziert hatte, und darum "brauchten sie etwas, was die beiden Gestirne packt wie ein Fisch ein rundes Brot". Im Großen und Ganzen konnte er die indische Wissenschaft "nur mit Perlmutt vergleichen, das mit Tonscherben vermengt ist, oder mit Perlen im Mist oder mit geschnittenem Bergkristall unter einem Haufen Kieselsteine". Er vermisste die unbedingte Wahrheitsliebe, die einst einen Sokrates ausgezeichnet hatte. Um die indischen Kollegen zu belehren, übersetzte er für sie das mathematische Lehrbuch des Euklid, das astronomische Handbuch des Ptolemäus und etwas über die Herstellung des Astrolabs.

Europa verpasste eine Chance


Beim Lesen des Indienbuches entsteht stellenweise der Eindruck, als spreche ein arroganter britischer Kolonialbeamter – humanistisch gebildet, aber nur mit einer begrenzten Sympathie für die indische Kultur. In der Tat meinte al-Biruni, dass all die Verkehrtheit des indischen Wesens nur durch die Annahme des Islams zu beheben sei, der einst sogar aus den alten Arabern zivilisierte Menschen gemacht habe. So hat al-Biruni mit seinem sezierenden Eindringen in die fremde Kultur den Raub- und Eroberungszügen eines Mahmud und seiner Nachfolger Hilfestellung geleistet, die einem Teil des Subkontinents tatsächlich eine andere Identität aufgeprägt haben.

Dennoch könnten wir Europäer uns froh schätzen, wenn es in unserem Erdteil um die erste Jahrtausendwende einen al-Biruni gegeben hätte, der Latein gelernt und sich mit dem scharfen Blick des Außenstehenden der Geschichte und der bescheidenen Kultur unserer westeuropäischen Ahnen angenommen hätte.

Die alten Römer, so tüchtig sie in der Verwaltung, der Jurisprudenz und der Architektur auch waren, konnten nur dürftige Reste des antiken Wissens an die bildungseifrigen Mönche und Scholaren des lateinischen Mittelalters weitergeben. Die angeblich seherisch begabte Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) beeindruckt den heutigen Leser zwar durch ihren frischen Blick auf den Menschen und die ihn umgebende Natur. Aber was sie in ihren "Causae et curae" über die Phasen des Mondes, der wie ein Holzstoß angezündet wird, und über seine durch ein Unwetter verursachten Finsternisse vortrug, stand doch sehr tief unter dem Niveau der zeitgenössischen muslimischen Wissenschaft.

Das große intellektuelle Gefälle zwischen Morgen- und Abendland konnte natürlich nicht lange ohne Ausgleich bleiben. Langsam begonnen hatte er bereits am Ende des 10. Jahrhunderts in Nordspanien in der Kontaktzone zum maurischen Teil der Halbinsel, und zwar mit der Übernahme des bereits erwähnten Astrolabs und der Übersetzung zugehöriger Gebrauchsanweisungen. Die Begeisterung für diese technische Errungenschaft war so groß, dass der Philosoph Peter Abaelard (1079 – 1142) seinen Sohn, den er mit seiner Schülerin Heloise in die Welt gesetzt hatte, Astrolabius nannte. Das Instrument, das in vielen Exemplaren nachgebaut wurde, war nur die so genannte planisphärische Variante, die schon die Griechen entwickelt hatten; daneben gab es viele andere, die al-Biruni in einer Schrift vorgeführt hatte.

Eine Konstruktion, die man die "kahnförmige" nannte, verdient besonderes Interesse: Sie war auf der Vorstellung aufgebaut, dass die Erde in der Mitte des Kosmos rotiert und die äußerste Kugelschale, in der die Fixsterne eingelagert schienen, in Wahrheit stillsteht. Das war zwar noch nicht die heliozentrische Revolution des Kopernikus, aber doch ein halber Weg dorthin. Al-Biruni bemerkte hierzu, dass vom rein mathematischen Standpunkt überhaupt keine Einwände gegen diese Vorstellung zu erheben seien; ihr stünden aber physikalische Gründe entgegen, weil die Menschen von der rasend schnellen Bewegung der Erdoberfläche etwas merken müssten. Das Foucaultsche Pendel war damals leider noch nicht erfunden.

Mitte des 12. Jahrhunderts setzte in Spanien eine ausgedehnte Übersetzungstätigkeit ein. In Toledo übertrug Gerhard von Cremona neben vielen anderen arabischen Werken Avicennas "Kanon in der Medizin" sowie den "Almagest" des Ptolemäus. Al-Birunis "Mas'udischer Kanon", eine bessere und modernere systematische Darstellung der Astronomie, lag indes nicht in der Reichweite der Übersetzer. Deshalb erschienen späteren Generationen die muslimischen Wissenschaftler als bloße Vermittler des griechischen Wissens. Erst die neuzeitliche Arabistik hat al-Biruni entdeckt, und ein breiteres Publikum wurde erst dann auf ihn aufmerksam, als die europäische Wissenschaft in allen Punkten weit über ihn hinausgekommen war.

Literaturhinweise:


Al-Biruni. In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übersetzt und erläutert von G. Strohmaier, 2. verb. Aufl., Leipzig 1991.

Avicenna. Von G. Strohmaier, München 1999. Al-Biruni. Von E. S. Kennedy in: Dictionary of Scientific Biography, hrsg. v. Ch. C. Gillispie, Bd. 2, New York 1970, S. 147.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 74
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