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Strömungsdynamik: Die Kunst des Insektenflugs

Nur durch eine Kombination bisher unerforschter strömungsdynamischer Effekte gelingt es Fliegen, in der Luft zu schweben.


Zwei mechanische Flügel schlagen höchst gemächlich in einem gläsernen, mit zwei Tonnen Mineralöl gefüllten Tank auf und ab: Ein Schlagzyklus dauert volle fünf Sekunden. Von sechs computergesteuerten Motoren angetrieben, verwirbeln sie die umgebende Flüssigkeit mitsamt zahllosen, im Öl eingeschlossenen Luftbläschen, welche die Bewegung sichtbar machen. Die Anordnung erinnert an eine Fliege, die in einem Glas Bier um ihr Leben zappelt – wenn man von der Größenordnung absieht: Das mechanische Insekt hat eine Flügelspannweite von immerhin 60 Zentimetern. Gepulste grüne Blitze von flächenhaft aufgeweiteten Laserstrahlen beleuchten die Szene so, dass spezielle Videokameras die Bahnen der glitzernden Bläschen aufzeichnen können. Sensoren an den Flügeln erfassen zu jedem Zeitpunkt die auf sie einwirkenden Druck- und Scherkräfte.

Diesen seltsamen Versuchsaufbau hat meine Arbeitsgruppe konstruiert, um einen höchst alltäglichen Vorgang physikalisch zu verstehen – den Schwebflug der milligrammschweren Taufliege Drosophila melanogaster. Die Fliege versteht nichts von Luftwirbelbildung, verzögerter Strömungsablösung, Rotationsauftrieb oder Energieaufnahme aus der Nachlaufströmung; aber sie nutzt deren Effekte, während ihre Flügel etwa 200-mal pro Sekunde auf und ab schlagen. Ihr mechanischer Doppelgänger, den wir "Robofly" getauft haben, vollführt diese Bewegungen in tausendfacher Verlangsamung und hundertfacher Vergrößerung. Fasziniert von der Wendigkeit der echten Fliege erhoffen meine Kollegen und ich von Robofly Aufschluss über die schwierige Aerodynamik, die so kleinen Insekten erlaubt zu fliegen, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Gemessen an der Artenzahl, der ökologischen Bedeutung oder der gesamten Biomasse sind Insekten die dominierenden Lebewesen unseres Planeten. Unter den vielen Ursachen dieser außerordentlichen Verbreitung ist die Flugfähigkeit eine der bedeutendsten. Dank ihrer Flügel können sich viele Insekten mit Leichtigkeit über ein großes Gebiet ausbreiten, geeignete Lebensbedingungen finden und in kalten Jahreszeiten wärmere Gefilde aufsuchen. Nicht nur das: Viele Insekten nutzen ihre Flugkünste, um Beute zu fangen, Reviere zu verteidigen oder Partner zu finden. Die natürliche Auslese hat das jeweils geschicktere und Energie sparendere Flugverhalten begünstigt und damit die Evolution dieser Organismen bis an die Grenzen des Möglichen vorangetrieben. Bei den Insekten finden wir die empfindlichsten Riechorgane, die schnellsten Sehsysteme und die leistungsfähigsten Muskeln des Tierreichs – allesamt Entwicklungen, die das Flugverhalten vorteilhaft ergänzen. Gleichwohl klaffte in unseren Kenntnissen bis in die jüngste Zeit eine peinliche Wissenslücke: Selbst Experten auf dem Gebiet der Aerodynamik konnten kaum erklären, wie Insekten die nötigen Kräfte erzeugen, um in der Luft zu bleiben.

Das ungelöste Problem ist der sachliche Kern einer Anekdote, die gern und häufig als Beispiel für wissenschaftlichen Dogmatismus zitiert wird: Ein Wissenschaftler habe "bewiesen", dass Hummeln nicht fliegen können. Der Ursprung dieser Geschichte lässt sich bis auf ein Buch aus dem Jahre 1934 zurückverfolgen, in dem der Entomologe Antoine Magnan entsprechende Berechnungen seines Assistenten, des Ingenieurs André Sainte-Laguë, zitiert. Wahrscheinlich handelte es sich um eine einfache Berechnung der Auftriebskraft: In der Tat könnte eine Tragfläche von der Größe eines Hummelflügels bei der Fluggeschwindigkeit einer Hummel niemals deren Gewicht die Waage halten.

Nun ist seit 1934 die theoretische Aerodynamik weit vorangeschritten, so weit, dass sie die größten Verkehrs- und die schnellsten Kampfflugzeuge korrekt beschreibt und zu entwerfen hilft. Aber sie musste im Wesentlichen nicht über die verhältnismäßig einfache stationäre Umströmung der Flügel (steady state) hinausgehen: Die Position des Flugkörpers relativ zur anströmenden Luft und die daraus resultierenden Kräfte sind weitgehend zeitunabhängig. Dagegen durchlaufen die Flügel eines Insekts 20 bis 600 Schlagzyklen pro Sekunde und führen dabei auch noch Drehungen um ihre Längsachse aus. Die dabei entstehenden Strömungsmuster erzeugen rasch veränderliche Kräfte, bei denen die herkömmlichen Methoden der mathematischen oder experimentellen Analyse sehr bald an ihre Grenzen geraten.

Ein Verständnis des Insektenflugs würde nicht nur die wissenschaftliche Neugier befriedigen, sondern hätte womöglich sogar praktischen Nutzwert. Seit kurzem denken Ingenieure ernsthaft über den Bau daumengroßer Flugroboter nach, die bei Such- und Bergungsarbeiten, beim Aufspüren von Schadstoffen in der Umwelt, bei technischen Überwachungen, bei der Minensuche oder bei extraterrestrischen Erkundungen einsetzbar wären. Vogelgroße Modellflugzeuge sind bereits erfolgreich gebaut worden. Aber es ist noch niemandem gelungen, ein flugfähiges Objekt von der Größe einer Fliege zu konstruieren. In diesen winzigen Dimensionen wird die Viskosität (Zähigkeit) der Luft zum Problem, vor allem weil sie die Luftströmungen dämpft, denen größere Flugapparate ihren Auftrieb verdanken. Insekten schlagen mit den Flügeln nicht nur, weil sie niemals einen Propeller- oder Düsenantrieb entwickelt haben, sondern auch weil ihre winzige Größe die Nutzung grundsätzlich anderer aerodynamischer Effekte erfordert. Vielleicht müssen die Insektenroboter der Zukunft diese Tricks ihren kleinen natürlichen Vorbildern abschauen.

Ein Insekt fliegt nicht wie ein Flugzeug. Das zeigt bereits ein Blick auf seine schwirrenden, mit bloßem Auge nicht mehr erkennbaren Flügel. Weniger offensichtlich ist die Komplexität der Bewegungen. Insekten lassen ihre Flügel nicht nur wie Paddel an einfachen Scharnieren schwingen. Vielmehr bewegen sich die Flügelspitzen der Fliegen zwischen ihren beiden Umkehrpunkten – hinten oben und vorne unten – auf einer lang gestreckten elliptischen Bahn. Zudem wechseln die Flügel innerhalb jedes Schlags ihre Anstellrichtung: Beim Abschlag zeigt ihre Oberseite nach oben; am unteren Wendepunkt drehen sie sich um ihre Längsachse, sodass im Aufschlag ihre Unterseite nach oben weist.

Die frühesten Analysen des Insektenflugs versuchten, die klassische Aerodynamik der stationären Strömung auf diese komplizierten Bewegungsabläufe anzuwenden – allerdings nicht so naiv wie der viel zitierte Hummelflugberechner. Es wurde durchaus berücksichtigt, dass die Flügel zu verschiedenen Zeiten verschiedene Positionen und Geschwindigkeiten haben. Man fixiere – in Gedan-ken – die Position des Flügels in einem bestimmten Augenblick des Schlagzyklus, setze das Insekt mit dieser Flügelposition einer stationären Strömung in einem Windkanal aus und messe die auftretenden Kräfte. Aus einer Folge solcher Momentaufnahmen könnte man den Verlauf der aerodynamischen Kräfte, insbesondere des Auftriebs, während eines Schlagzyklus ermitteln.

Der von den Flügeln erzeugte Auftrieb wäre dann gleich dem über einen Schlagzyklus gemittelten Wert der zeitabhängigen Auftriebsfunktion. Wenn also dieser Steady-State-Ansatz einigermaßen realistisch wäre, müsste die so errechnete mittlere Auftriebskraft dem Gewicht des Insekts mindestens die Waage halten. Ob dem so wäre, war immerhin bis in die späten siebziger Jahre unter den Experten umstritten. In den frühen achtziger Jahren sichtete Charles Ellington von der Universität Cambridge eingehend sämtliche bis dahin gewonnenen Erkenntnisse und kam zu dem Schluss, dass die Theorie der stationären Strömung die zum Fliegen erforderlichen Kräfte nicht erklären kann. In der Folge wandte man sich mit neuer Energie der Erforschung nichtstationärer, das heißt zeitlich veränderlicher Strömungen zu.

In einem Fluid folgt die zeitliche Änderung von Geschwindigkeit und Druck – die ihrerseits ortsabhängige Größen sind – einem System von Differenzialgleichungen, den Navier-Stokes-Gleichungen, die Anfang des 19. Jahrhunderts formuliert wurden (Spektrum der Wissenschaft 7/1996, S. 72). "Fluid" ist der Oberbegriff zu Flüssigkeit und Gas, und in der Tat gilt ein und dasselbe Gleichungssystem für beide Medien. Könnten wir diese Gleichungen für schlagende Insektenflügel lösen, wäre die Aerodynamik des Insektenflugs vollständig beschrieben. Leider verhindert die Komplexität der Flügelbewegungen eine befriedigende Lösung dieses Problems. Selbst auf den leistungsfähigsten Computern lassen sich die beteiligten Prozesse noch nicht umfassend simulieren.

Aerodynamische Modelle

Wenn diesem Problem weder mit reiner Theorie noch mit großem Rechenaufwand beizukommen ist: Können wir dann vielleicht direkt die Kräfte messen, die von schlagenden Insektenflügeln erzeugt werden? Einige Gruppen haben mit erheblichem gedanklichen und technischen Aufwand neuartige Ansätze hierfür entwickelt. Aber die winzige Größe und die extrem hohe Schlagfrequenz der Insektenflügel erschweren eine zuverlässige Messung der schnell veränderlichen kleinen Kräfte.

Solche Schwierigkeiten versuchen die Biologen ebenso wie die Ingenieure mit Hilfe maßstabsgetreuer Modelle zu bewältigen. Während Letztere ihre Flugzeuge, Schiffe oder Autokarosserien in verkleinerter Form in den Windkanal hängen, machen Insektenflugforscher ihre Modellflügel größer und langsamer, um mit handlicheren Dimensionen und Geschwindigkeiten arbeiten zu können. Solche Modelle können aussagekräftige Ergebnisse liefern, wenn eine entscheidende Bedingung erfüllt ist: Die beiden wesentlichen Kräfte, eine Druckkraft infolge der Trägheit des Fluids und eine Scherkraft infolge seiner Reibung an der Objektoberfläche, müssen im selben Verhältnis stehen wie im Original. Die Kräfte, mit denen beispielsweise ein Schiff das Wasser zur Seite drücken muss, das ihm im Wege ist, sind Trägheitskräfte; was darüber hinaus das Rühren von Kleister so mühsam macht, sind Reibungskräfte. Unter ansonsten gleichen Bedingungen wächst die Trägheitskraft mit der Dichte und die Reibungskraft mit der Zähigkeit des Fluids. Das Verhältnis von Trägheitskraft zu Reibungskraft, die so genannte Reynolds-Zahl, muss also beim Original und seinem Modell übereinstimmen.

Die Reynolds-Zahl eines bewegten Objekts ist gleich dem Produkt seiner Länge, seiner Geschwindigkeit und der Dichte des umgebenden Fluids, geteilt durch dessen Zähigkeit. Die großen, schnellen Flugzeuge bringen es auf Reynolds-Zahlen zwischen einer Million und 100 Millionen. Die kleinen, langsamen Insekten fliegen in einem Bereich von ungefähr 100 bis 1000; die allerkleinsten unter ihnen, etwa die als Gartenschädlinge gefürchteten Thripse, müssen sich mit Reynolds-Zahlen unter 100 begnügen.

Im Jahre 1992 haben Karl Götz und ich, beide damals am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, einen Modellflügel gebaut. Er bestand aus einem 20 Zentimeter langen und fünf Zentimeter breiten Paddel, das von Motoren durch sirupartig zähe Zuckerlösung in einem großen Tank geführt wurde. Die Größe des Flügels, die Dauer eines Flügelschlags, die Dichte des Mediums und dessen Zähigkeit waren um ein Vielfaches größer als beim Schwebflug der Taufliege, und zwar gerade so, dass sich die gleiche Reynolds-Zahl und dadurch die gleichen dynamischen Bedingungen ergaben.

Den Modellflügel versahen wir mit Sensoren, um die Auftriebs- und Widerstandskräfte während der Fahrt durch die klebrige Flüssigkeit zu verfolgen. Außerdem befestigten wir an den Flügelspitzen kleine Dämmplatten (baffles), um Strömungen längs des Flügels und über den äußersten Flügelrand hinweg zu unterbinden. Bei einfachen aerodynamischen Modellen vereinfacht man häufig durch diesen technischen Trick die physikalischen Verhältnisse: Die Strömung hat dann kaum noch eine Komponente entlang der Flügelvorderkante, sondern findet im Wesentlichen in einer Ebene senkrecht dazu statt. Das Problem reduziert sich dadurch von drei auf zwei Dimensionen. Das erleichtert die Analyse, allerdings um den Preis, dass man möglicherweise wichtige Effekte übersieht.

Auftrieb durch Vorderkantenwirbel

Bei den Experimenten mit unserem Modellflügel fanden wir, ebenso wie Forscher an anderen Institutionen, einen aufschlussreichen Effekt: die verzögerte Strömungsablösung. Beim Flugzeug ist Strömungsablösung ein sehr gefährliches Phänomen. Es tritt auf, wenn der Winkel, unter dem eine Tragfläche die Luft durchschneidet – der so genannte Anstellwinkel – zu steil wird (Kasten links). Bei flachen Anstellwinkeln teilt sich die Luft an der Flügelvorderkante und umströmt den Flügelquerschnitt glatt in einer oberen und einer unteren Bahn. Oben fließt sie schneller und produziert dadurch nach dem Bernoulli’schen Gesetz an der Oberseite einen Unterdruck, der den Flügel nach oben saugt, das heißt Auftrieb erzeugt. Bei zu steilem Anstellwinkel kann die obere Strömung dem Profil der Oberseite nicht mehr folgen; sie löst sich vom Flügel ab, mit der Folge, dass schlagartig der Auftrieb aussetzt und das Flugzeug in den Fall übergeht.

Ausgerechnet der Strömungsabriss, der für Flugzeuge so fatale Folgen hat, kann bei Insekten zum Auftrieb beitragen, und zwar, weil er erst mit einer gewissen Verzögerung kommt. Wenn der Anstellwinkel zu steil wird, bildet sich als erste Phase der Strömungsablösung ein so genannter Vorderkantenwirbel aus. Ein Wirbel ist eine kreisende Fluidströmung; kleine Strudel im ablaufenden Badewasser und große Tornados sind anschauliche Beispiele (Spektrum der Wissenschaft 12/2000, S. 120).

Der Vorderkantenwirbel entsteht als flügellange, rotierende Luftwalze knapp oberhalb und dicht hinter der Flügelvorderkante. Wegen seiner vergleichsweise hohen Strömungsgeschwindigkeit erzeugt er einen großen Unterdruck und damit erheblichen Auftrieb. Diesen Effekt haben britische Flugzeugingenieure schon in den frühen dreißiger Jahren eingehend untersucht, aber für eine Nutzanwendung im herkömmlichen Flugzeugbau ist er zu kurzlebig: Der Wirbel löst sich ruckartig vom Flügel ab und verschwindet im turbulenten Nachlauf. Es folgt der plötzliche Verlust des Auftriebs und manchmal auch des Flugzeugs. Dagegen wechseln die Flügelschläge der Insekten so schnell, dass die Katastrophe keine Zeit hat einzutreten. Unmittelbar nach Ablösung eines Vorderkantenwirbels klappen die Flügel ihren Anstellwinkel um, kehren ihre Schlagrichtung um und erzeugen einen neuen Vorderkantenwirbel mit umgekehrtem Drehsinn.

Die zunächst näherungsweise an zweidimensionalen Modellen gewonnenen Erkenntnisse wurden Mitte der neunziger Jahre von Charles Ellington und seinen Mitarbeitern in Cambridge durch eine umfassende dreidimensionale Strömungsanalyse wesentlich erweitert. Seine Gruppe untersuchte den großen Tabakschwärmer Manduca sexta, der örtlich fixiert in einem Windkanal flatterte. Für vergleichende Versuche verwendeten sie eine dreidimensional flügelschlagende Nachbildung. Rauchfäden, mit denen der Strömungsverlauf im Windkanal sichtbar gemacht wurde, zeigten, dass während des Abschlags tatsächlich ein Wirbel an der Flügelvorderkante sitzt. Ellingtons Gruppe entwickelte darüber hinaus noch eine Hypothese: Eine Luftströmung von der Flügelbasis zur Flügelspitze verstärkt noch den Auftriebseffekt des Vorderkantenwirbels, indem sie zwar den Wirbel selbst abschwächt, seine Stabilität jedoch erheblich erhöht, sodass er während des ganzen Schlages am Flügel haften bleibt. Eine solche axiale Strömung könnte vor allem für größere Insekten wie Schwärmer und Libellen wichtig sein, deren Flügelspitzen bei jedem Schlag einen größeren Weg zurücklegen und entsprechend mehr Zeit dafür benötigen.

Auftrieb durch Backspin

Mit dem Nachweis dieses Effekts war das Rätsel des Insektenflugs zu einem großen Teil gelöst. Gleichwohl gab es Indizien dafür, dass neben der verzögerten Strömungsablösung noch andere Mechanismen, die für nichtstationäre Strömungen charakteristisch sind, eine Rolle spielen.

Erstens erzeugt der Vorderkantenwirbel im Verbund mit den klassischen Kräften zwar ausreichend Auftrieb, um das Insekt in der Luft zu halten; das allein kann aber nicht erklären, warum viele Insekten das Doppelte ihres Körpergewichts in die Luft heben können. Zweitens lieferten Experimente, bei denen ein fliegendes Versuchstier an einem empfindlichen Kraftmesser befestigt wird, Ergebnisse, die nicht besonders gut zur Theorie passten. Bei deren Interpretation ist zwar Vorsicht geboten, da das Verfahren schwierig ist und fixierte Insekten sich wahrscheinlich anders verhalten als frei fliegende. Aber der zeitliche Verlauf der gemessenen Kräfte lässt den Schluss zu, dass die verzögerte Strömungsablösung nicht alles erklären kann. Bei Messungen, die Karl Götz 1996 mit Hilfe von Laser-Beugung durchführte, fand er die größten Auftriebskräfte während des Aufschlags, von dem nach der Theorie nur ein geringer oder gar negativer Beitrag zu erwarten war.

Auf der Suche nach weiteren nichtstationären Mechanismen haben Fritz-Olaf Lehmann, Sanjay P. Sane und ich 1998 ein großes Modell der flügelschlagenden Taufliege gebaut: unsere eingangs erwähnte Robofly. Die beiden 25 Zentimeter langen Robofly-Flügel, die – umgeben von zähem Mineralöl – in fünf Sekunden einen Schlagzyklus durchlaufen, verhalten sich aus den oben genannten Gründen dynamisch ähnlich wie die beiden 0,25 Zentimeter langen Drosophila-Flügel, die – umgeben von Luft – in der gleichen Zeit etwa 1000 Schlagzyklen durchlaufen. Am Modell konnten wir gleichzeitig zwei wesentliche Größen messen, die an echten Taufliegen nur in sehr grober Näherung abzuschätzen waren: die aerodynamischen Kräfte an den Flügeln und die Fluid-Strömung in ihrer Umgebung. Robofly wurde zwar als Modell einer Taufliege konstruiert; wir können jedoch die sechs Antriebsmotoren ihrer beiden Flügel so umprogrammieren, dass sie die Flügelbewegungen zahlreicher anderer Insektenarten vollführen. Außerdem können wir jede gewünschte Flügelbewegung während eines Schlagzyklus vorgeben, um auf diese Weise verschiedene Hypothesen zu testen, ein Luxus, den uns echte Versuchstiere nicht bieten.

Wenn Robofly ihre Flügel wie die einer Taufliege bewegt, erhalten wir einen eigenartigen Kraftverlauf: Die erzeugten Kräfte zeigen ausgeprägte Maxima an den Umkehrpunkten der Schlagbahn, wenn die Flügel sich sehr langsam bewegen, sich aber sehr schnell um ihre Längsachse drehen. Das ist mit verzögerter Strömungsablösung kaum zu erklären. Vielmehr war zu vermuten, dass die Drehung der Flügel selbst für diese Kräfte verantwortlich sein könnte.

Wenn sich ein rotierendes Objekt durch die Luft bewegt, gibt es wie bei einer bewegten Tragfläche Unterschiede in der Umströmung an Ober- und Unterseite. Tennisspieler kennen und nutzen diese Effekte. Ein "überschnittener" Ball rotiert mit der Oberseite voraus, so, als würde er auf einer festen Unterlage abrollen ("Topspin"). Indem er die Luft in seiner unmittelbaren Umgebung mitreißt, macht er sie an seiner Oberseite, wo er gegen den Fahrtwind rotiert, langsamer, an der Unterseite dagegen schneller. Die daraus resultierende Druckdifferenz treibt ihn nach unten. Dagegen verleiht der "Backspin" eines in Gegenrichtung rotierenden ("unterschnittenen") Balles diesem einen Auftrieb. Nun ist ein Insektenflügel nicht gerade kugelförmig; gleichwohl sollte er durch Rotation um die Längsachse nach dem beschriebenen Prinzip Auftrieb erzeugen können.

Wir überprüften unsere Hypothese, indem wir den Zeitpunkt innerhalb eines Schlagzyklus veränderten, an dem sich die Flügel um ihre Längsachse drehen. Wenn dieses Umklappen wie bei echten Fliegen rechtzeitig vor dem Wechsel der Schlagrichtung erfolgt, bewegt sich die Flügelvorderkante nach hinten, und über den Backspin-Effekt sollte sich der Auftrieb erhöhen. Wenn die Flügel jedoch erst nach dem Wechsel der Schlagrichtung umklappen, sollte ein Topspin-Effekt und damit ein Abtrieb entstehen. Die Messdaten der Robofly haben diese Erwartungen vollauf bestätigt und damit gezeigt, dass schlagende Flügel durch schnelle Drehung im richtigen Moment erheblichen Auftrieb erzeugen können.

Auftrieb durch Energie aus dem Nachlauf

Es gab aber in den Messdaten noch ein weiteres deutliches Kraftmaximum am Anfang jedes Auf- und Abschlags, das nicht durch die beschriebene Rotationsströmung zu erklären war. Mehrere Indizien ließen vermuten, dass dieser Kraftpuls durch das Wiedereinfangen von Bewegungsenergie aus der nachlaufenden Strömung entstehen könnte (wake capture). Der kielwasserartig aufgewühlte Nachlauf eines fliegenden Insekts enthält Energie, die das Tier an das Fluid abgegeben hat. Durch Interaktion mit der Nachlaufströmung könnte ein Teil dieser Energie zurückgewonnen werden – Recycling im Wortsinn. In der Tat bewegt sich der Flügel nach Umkehr seiner Schlagrichtung auch durch die zuvor verwirbelte Luft. Wir überprüften die Hypothese von der Energiegewinnung aus dem Nachlauf, indem wir die Flügel der Robofly nach einem Schlagzyklus zum Stillstand brachten. Erwartungsgemäß wirkten auf die erstarrten Flügel weiterhin Kräfte, solange das umgebende Fluid noch in Bewegung war.

Im Prinzip kann Energiegewinnung durch wake capture nur zu Beginn eines neuen Flügelschlags stattfinden. Wie beim Backspin-Effekt kann die Fliege jedoch Größe und Vorzeichen dieser zusätzlichen Kraft durch geeignete Wahl ihres Bewegungsmusters beeinflussen. Wenn sie ihren Flügel frühzeitig umklappt, hat er bei der Begegnung mit dem nachlaufenden Wirbel bereits einen günstigen Anstellwinkel, sodass ein Auftrieb entsteht. Wenn das Umklappen zu spät einsetzt, kann sich der Effekt sogar umkehren.

Unsere neuen Erkenntnisse helfen uns auch zu verstehen, wie ein Insekt eine Kurve fliegt. Man kann beobachten, dass eine Fliege beim Kurvenflug die Umklappzeitpunkte ihrer Flügel geringfügig verschiebt. Indem sie den Flügel auf der Kurvenaußenseite beizeiten und den auf der Innenseite verspätet umklappt, erzeugt sie eine Auftriebsdifferenz, durch die sie sich "in die Kurve legt": Sie kippt zur Innenseite und schwenkt daraufhin in die neue Flugrichtung ein. Zur Flugsteuerung steht ihr ein ganzes Arsenal hoch empfindlicher Sensoren zur Verfügung: außer ihren Augen rudimentäre Hinterflügel, die wie Gyroskope auf Kursänderungen reagieren, sowie eine Reihe von Kraftrezeptoren an den Flügeln, mit denen sie neben der Flügelschlagamplitude auch den Umklappzeitpunkt präzise steuern kann.

Die Erkenntnisse zahlreicher Forscher fügen sich allmählich zu einer schlüssigen Theorie des Insektenflugs, aber noch bleiben viele Fragen offen. Unter den Insekten gibt es eine beeindruckende Vielfalt von Körpergrößen, Körperformen und Verhaltensmustern: winzige Thripse und riesige Schwärmer, Zweiflügler wie die Taufliegen, aber auch Netzflügler, die ihre beiden Flügelpaare geringfügig außer Takt bewegen, und Sandlaufkäfer, die zusätzlich zu den zwei schlagenden Flügeln auch noch zwei große, nicht schlagende Deckflügel haben, die am Boden als Panzer dienen. Inwieweit lassen sich bei dieser enormen Vielfalt die neuen Erkenntnisse über Taufliegen auf andere Insektenarten übertragen?

Die bisherigen Studien haben sich auf den Schwebeflug konzentriert. Der ist besonders schwierig zu erklären, weil es in diesem Fall keine horizontale Luftströmung gibt, die zur Auftriebserzeugung dienen könnte. Verwenden Insekten beim Vorwärtsflug noch andere wichtige Mechanismen? Inzwischen befassen sich viele Forscher mit diesen Fragen.

Meine Gruppe baut zurzeit eine Nachfolgerin von Robofly. Sie wird einen großzügig dimensionierten Tank bewohnen, in dem sie vorwärts fliegen und ihren Kurs ändern kann. An ihr wollen wir unter anderem unsere Hypothese testen, dass die Fliegen ihre charakteristischen, extrem scharfen Kursänderungen ausführen, indem sie die zeitliche Zuordnung von Flügelschlag und Flügeldrehung variieren.

Nachdem wir die Grundausstattung an Tricks kennen, mit denen sich Insekten in der Luft halten, wird es jetzt erst richtig spannend.

Literaturhinweis


The Biomechanics of Insect Flight: Form, Function, Evolution. Von Robert Dudley. Princeton University Press, 2000.


Steckbrief


- Die ersten Tiere, die im Laufe der Evolution den aktiven Flug beherrschten, waren die Insekten.
– Die meisten Insekten verfügen über zwei Flügelpaare. Die Fliegen haben anstelle der Hinterflügel kleine Sinnesorgane, die Veränderungen ihrer Orientierung im Raum signalisieren.
– Fliegen erfordert pro Zeiteinheit etwa zehnmal so viel Energie wie Laufen, verbraucht aber pro Kilometer nur ein Viertel der Energie. Fliegen ist also sehr anstrengend, bringt aber den Organismen, die es können, große Vorteile.
– Unter allen fliegenden Tieren zeichnen sich die Insekten durch die vielfältigsten Flügelformen und -bewegungsmuster aus.
– Die Flugmuskeln der Insekten haben die höchste Stoffwechselrate aller bekannten Gewebe.
– In einem gewissen Sinne ist Luft zäher als Wasser. Ihre kinematische Viskosität, das Verhältnis von Viskosität zu Dichte, ist etwa 15-mal so groß, und auf diese Verhältnisgröße kommt es in der Strömungsdynamik an.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 58
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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