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Gravitationswellen: Lazarus und das große Fressen

Erstmals ist es gelungen, die Abstrahlung von Gravitationswellen bei der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher am Computer zu simulieren. Das Ergebnis dieses "Lazarus-Projektes" hilft, die Spuren solcher Ereignisse im All zu entdecken.


Fast neunzig Jahre ist es her, dass Albert Einstein die Existenz von Gravitationswellen postulierte – Störungen in der Geometrie des Raumes, die sich ähnlich wie elektromagnetische Strahlung wellenförmig ausbreiten. Sie ergeben sich aus der Allgemeinen Relativitätstheorie, welche die Gravitation auf geometrische Eigenschaften von Raum und Zeit zurückführt. Bislang ließ sich Einsteins Vorhersage nur indirekt bestätigen, doch das könnte sich schon bald ändern: Gleich mehrere internationale Forschergruppen sind dieser Tage dabei, hochempfindliche Gravitationswellendetektoren in Betrieb zu nehmen, mit denen ein direkter Nachweis gelingen soll (siehe das Interview auf Seite 24).

Um die bei solchen Messungen gewonnenen Daten interpretieren und Rückschlüsse auf die Quelle der aufgefangenen Signale ziehen zu können, ist allerdings ein gutes theoretisches Verständnis der kosmischen Prozesse nötig, bei denen Gravitationswellen entstehen. Hier hat eine Gruppe junger Forscher am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Golm bei Potsdam jetzt einen Durchbruch geschafft. Sie konnte berechnen, was für Gravitationswellen abgestrahlt werden, wenn zwei Schwarze Löcher einander umkreisen und dann miteinander verschmelzen.

Schwarze Löcher sind exotische Gebilde, die sich gleichfalls aus der Allgemeinen Relativitätstheorie ableiten las-sen. Darin ist Masse auf so engem Raum konzentriert, dass wegen der enormen Schwerkraftwirkung noch nicht einmal Licht aus ihrem Inneren entkommen kann. Solche gefräßigen Monster sollten beispielsweise entstehen, wenn massereiche Sterne am Ende ihres Lebens in sich zusammenstürzen. Bei der Verschmelzung zweier umeinander rotierender Schwarzer Löcher werden laut Theorie besonders intensive Gravitationswellen ausgesandt. Diese dürften daher mit einiger Wahrscheinlichkeit zu den ersten Signalen gehören, die sich mit vorhandenen erdgebundenen Detektoren aufspüren lassen.

Kollision und Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher samt der dabei ausgesandten Gravitationswellen zu beschreiben, mag auf den ersten Blick nicht allzu schwer erscheinen, sind doch die zu Grunde liegenden Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie wohlbekannt. Doch von der Kenntnis der Grundgleichungen bis zur zufrieden stellenden Beschreibung realistischer Situationen ist es in der Physik oft ein weiter Weg. Das zeigt sich schon bei verhältnismäßig einfachen Theorien wie der newtonschen Mechanik: Zwar kann man eine allgemein gültige Formel dafür angeben, wie sich zwei punktförmige Massen unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen newtonschen Schwereanziehung bewegen (dies ist das so genannte Zweikörperproblem). Doch schon für das Verhalten dreier solcher Körper gibt es keine exakte Lösung mehr, die sich explizit als mathematischer Ausdruck angeben ließe.

Nun sind die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie noch sehr viel komplizierter. Dementsprechend kann man zwar das Gravitationsfeld um einen einzelnen kugelförmigen Körper präzise beschreiben; schon die Lösung eines Zweikörperproblems, wie es zwei einander umkreisende und dann mitei-nander verschmelzende Schwarze Löcher darstellen, lässt sich aber nicht mehr explizit angeben. Immerhin kennen Physiker und Mathematiker eine Reihe von rechnerischen Tricks, solchen nicht exakt lösbaren Gleichungen dennoch zu Leibe zu rücken.

Annäherung in winzig kleinen Schritten

Einer besteht darin, physikalische Vorgänge mit Computerhilfe möglichst vollständig zu simulieren. Die Mechanik liefert ein anschauliches Beispiel: Das Verhalten dreier Körper im gemeinsamen newtonschen Schwerefeld lässt sich verfolgen, indem man den Zeitablauf in kleine, diskrete Schritte unterteilt. Nach jedem dieser Schritte hat sich jedes Objekt ein Stückchen fortbewegt – umso weiter, je größer seine Geschwindigkeit ist. Sobald alle neuen Positionen ermittelt sind, rechnet der Computer dann für jeden Körper aus, welche Schwerkraft die anderen beiden Massen nun auf ihn ausüben, und passt seine Geschwindigkeit entsprechend an. Auf diese Weise ergeben sich, ausgehend von einer bestimmten Anfangssituation, Schritt für Schritt die gesuchten Bahnen der drei Objekte.

Auch bei der Allgemeinen Relativitätstheorie sind solche numerischen Simulationen möglich, in der Umsetzung allerdings wesentlich aufwendiger. So reicht es nicht aus, die Zeit in diskrete Schritte aufzuteilen. Zusätzlich muss man den Raum in kleine Regionen zerlegen. Nur so kann man beschreiben, wie sich seine Geometrie mit der Zeit ändert. Diese Diskretisierung liefert ein dreidimensionales Gitter mit den Knoten als Raumpunkten. Den einsteinschen Gleichungen folgend berechnet der Computer dann Schritt für Schritt, wie sich die Abstände zwischen diesen diskreten Raumpunkten mit der Zeit verändern.

In dieser Weise lassen sich die Phänomene der Allgemeinen Relativitätstheorie simulieren. Gravitationswellen pflanzen sich beispielsweise als kleine Veränderungen der Abstände zwischen den Knoten durch das Gitter fort.

Noch schwieriger wird die Simulation bei Schwarzen Löchern. In deren Kern lauert eine so genannte Raumzeitsingularität, ein Gebiet unendlich starker Raumkrümmung. Objekte, die in das Schwarze Loch gefallen sind, werden unerbittlich weiter nach innen gezogen und bei Annäherung an die Singularität von den dort herrschenden starken Kräften zerrissen.

Den Gitterpunkten der Simulationsprogramme ergeht es kaum anders: Der kosmische Leviathan verschlingt immer mehr von ihnen. Die enormen Kräfte in seinem Inneren äußern sich in gewaltigen Änderungen der Geometrie von Raumpunkt zu Raumpunkt, die sich auf dem Gitter nur noch sehr ungenau nachvollziehen lassen. Dadurch entfernt sich die Modellierung mit der Zeit immer weiter von der physikalischen Wirklichkeit. Die heutzutage durchführbaren Simulationen werden auf diese Weise "instabil", bevor die dynamische Entwicklung ein Stadium erreicht hat, in dem sich die Eigenschaften der auslaufenden Gravitationswellen sicher bestimmen lassen.

Raffinierter Umgang mit Störungen

Ein anderer Trick, nicht exakt lösbaren Gleichungen zumindest einiges an physikalischer Information zu entlocken, ist die so genannte Störungsrechnung. Wiederum liefert die newtonsche Mechanik ein Beispiel: Die Gravitationswirkung der Sonne auf die Planeten ist ungleich größer als deren gegenseitige Schwereanziehung. Daher lässt sich das schwierige Vielkörperproblem "Sonnensystem" in guter Näherung lösen, indem man zunächst so verfährt, als spüre jeder der Planeten nur die Schwerkraft des Zentralgestirns (jeweils ein exakt lösbares Zweikörperproblem für Sonne und Trabant). Erst dann bringt man systematisch Korrekturen an, welche die gegenseitige Beeinflussung der Planeten als kleine Störungen berücksichtigen.

Dieser Kunstgriff – einem exakt lösbaren Problem systematisch kleine Störungen hinzuzufügen – lässt sich auch im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie anwenden. So gelingt es damit beispielsweise, ein rotierendes asymmetrisches Schwarzes Loch zu beschreiben, das schwache Gravitationswellen aussendet. Dabei geht man zunächst von einem axialsymmetrischen Exemplar aus, dessen Einfluss auf die Raumzeit in der Umgebung mit exakt lösbaren Gleichungen erfassbar ist. Durch Störungsrechnung kann man dann ermitteln, wie sich Abweichungen von der perfekten Symmetrie dynamisch entwickeln – und wie sich das Schwarze Loch der Verformungen entledigt, indem es Gravitationswellen abstrahlt. Dabei ergeben sich zwar wiederum Gleichungen, die zu kompliziert sind, um explizit lösbar zu sein. Doch ist ihre numerische Auswertung ungleich einfacher als eine vollständige Simulation des gesamten Problems am Computer.

Ein cleverer Ausweg

Helfen diese Kunstgriffe, auch das gewaltsame Verschmelzen umeinander rotierender Schwarzer Löcher rechnerisch in den Griff zu bekommen? Auf den ersten Blick lautet die Antwort "nein". Vollständige Simulationen scheitern an den beschriebenen Instabilitäten, und die "heiße Phase" der Verschmelzung unterscheidet sich zu sehr von den bekannten exakten Lösungen, als dass sich die Störungsrechnung sinnvoll anwenden ließe.

Doch die Wissenschaftler in Golm fanden einen cleveren Ausweg. Er besteht darin, die beiden Verfahren in geschickter Weise zu kombinieren: Die akute Verschmelzungsphase umeinander kreisender Schwarzer Löcher wird durch vollständige Computersimulation berechnet. Das gelingt mit dem am Albert-Einstein-Institut entwickelten Programmpaket "Cactus".

Wenn sich Instabilitäten in der Simulation bemerkbar machen, ist durch die Verschmelzung bereits ein einziges, unregelmäßig geformtes Schwarzes Loch entstanden. Dieses wird nun als symme-trisches, rotierendes Objekt behandelt – mit Verformungen, die sich durch Störungsrechnung berücksichtigen lassen. So kann man verfolgen, wie das noch unrunde Verschmelzungsprodukt unter Abstrahlung von Gravitationswellen in ein fast symmetrisches Gebilde übergeht. Der im Rahmen der vollständigen Computersimulation zum Scheitern verurteilte Versuch, das Schicksal der kollidierenden Schwarzen Löcher zu verfolgen, lässt sich dank der Störungstheorie "wiederbeleben". In Anlehnung an den biblischen Lazarus, den Jesus von den Toten erweckte, erhielt das Golmer Unternehmen deshalb den Namen Lazarus-Projekt.

Seine bisherigen Resultate dürften all jene erfreuen, die mit erdgebundenen Detektoren in den nächsten Jahren nach Gravitationswellen fahnden wollen (siehe nachfolgendes Interview). Zum einen erhalten sie wichtige Anhaltspunkte, auf welche Art von Signal sie in den Detektordaten achten sollten. Zum anderen hat sich gezeigt, dass bei einer typischen Kollision anscheinend mehr Energie in Form von Gravitationswellen frei wird als bislang angenommen: Für die Verschmelzungsphase kann mit gigantischen 1049 Watt Strahlungsleistung gerechnet werden, dem 1023-fachen dessen, was die Sonne insgesamt in Form elektromagnetischer Wellen abgibt. Über drei Prozent der Masse der Schwarzen Löcher wird dabei gemäß Einsteins berühmter Formel E=mc2 in Energie umgesetzt. Das lässt die Chancen, diese Gravitationswellen hier auf der Erde nachzuweisen, deutlich steigen.

Die Forscher der Lazarus-Gruppe arbeiten jetzt daran, ihr Verfahren zu verfeinern. Außerdem wollen sie es um eine neue Näherungsmethode erweitern, die das gegenseitige Umkreisen der Schwarzen Löcher vor der Verschmelzung beschreiben soll. Und einem Augenblick sehen sie mit fiebernder Erwartung entgegen: dem hoffentlich nicht allzu fernen Moment, da sie ihre Berechnungen mit den ersten Signalen von Gravitationswellen vergleichen können, die von einem Detektor aufgefangen wurden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2002, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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