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Neurobiologie der Angst

Studien an Affen enthüllen nach und nach die neurochemischen Prozesse, die bei verschiedenen Arten von Furcht eine Rolle spielen. Vielleicht eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten, schweren Angstzuständen beim Menschen zu begegnen.

Die meisten Menschen verfügen mit der Zeit über ein ganzes Repertoire an instinktiven und kulturspezifischen Verhaltensweisen, das einem hilft, mit angsterregenden Situationen angemessen umzugehen. Den aufgebrachten Lehrer oder Chef sucht man zu beschwichtigen, dem prügelwütigen Rowdy auf der Straße tunlichst auszuweichen oder davonzulaufen. Doch einige Menschen verlieren stets sofort die Nerven, selbst in Situationen, die anderen wenig ausmachen. Sie beginnen etwa bei der geringsten Aufregung unbeherrschbar zu zittern; oder sie bringen kein Wort heraus, wenn sie vor einer Gruppe frei sprechen sollen, weil sie fürchten, sich lächerlich zu machen. Manche trauen sich aus Scheu vor Fremden nicht einmal mehr aus den eigenen vier Wänden – unfähig zur Arbeit und den nötigsten Besorgungen. Wie lassen solche quälenden, lebenshinderlichen Ängste sich erklären?

An der Universität von Wisconsin in Madison gehen mein Kollege Steven E. Shelton und ich dem nach, indem wir spezifische Vorgänge im Gehirn erforschen, die Angstempfinden und angstbezogenes Verhalten steuern. Sie beim Menschen zu ergründen ist trotz der neuen bildgebenden Verfahren, die ohne Eingriff neurale Prozesse aufzeigen, immer noch äußerst schwierig. Deshalb untersuchen wir andere Primaten: Rhesusaffen (Macaca mulatta; Bild 1). Diese Tiere machen in vielem die gleichen körperlichen und psychischen Entwicklungsstadien durch wie der Mensch, nur zeitlich gerafft. Mithin sollte sich an ihnen modellhaft erkennen lassen, was unbeherrschbare Ängste verursacht und was dabei im Zentralnervensystem geschieht; davon sind auch neue Behandlungsmöglichkeiten zu erwarten.

Solche Therapien nutzen vermutlich am meisten in frühen Jahren, denn es verdichten sich die Hinweise, daß Menschen, die als Kinder bänglich und schreckhaft waren, auffallend häufig emotional labil sind und psychisch krank werden. Nach einer Studie von Jerome Kagan und seinen Kollegen von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) beispielsweise wird, wer im Alter von zwei Jahren besonders schüchtern ist, später eher von Ängsten und Phasen tiefer Niedergeschlagenheit geplagt sein, als es gewöhnlich der Fall ist.

Dies besagt nun keineswegs, daß solche Störungen schicksalhaft vorgeprägt würden. Es läßt sich aber leicht einsehen, daß frühe Erlebnisse übermäßiger Angst lebenslang emotionale Probleme schaffen können. Ein Kind etwa, das sich in größeren Gruppen Gleichaltriger sehr leicht bedrängt fühlt und deshalb in der Schule gehänselt wird, hält sich vermutlich bald für ein unliebsames Wesen und zieht sich noch mehr zurück; was Wunder, wenn es sich während des Heranwachsens allmählich in einen Teufelskreis manövriert, als Teenager kaum noch soziale Kontakte hat, sich nichts zutraut, entsprechend wenig leistet und leicht versagt – und daß sich schließlich Neurosen und Depressionen entwickeln.

Wie es scheint, sind überängstliche Kinder auch für körperliche Erkrankungen anfälliger. Die starke Beklommenheit gegenüber Ungewohntem, Neuem und Fremdem bedingt eine chronische Überproduktion an Stresshormonen wie dem Nebennierenhormon Cortisol. In Gefahrensituationen sind diese Regulator- und Steuersubstanzen durchaus sehr wichtig – sie gewährleisten, daß der Organismus rasch angemessen reagieren kann, indem zum Beispiel die Skelettmuskeln genügend Energie für Schutz- oder Abwehrreaktionen erhalten. Aber das permanente hormonelle Alarmsignal „Flucht oder Kampf“ kann unter anderem zu Magengeschwüren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen (siehe „Stress“, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 92). Außerdem leiden ängstliche Kinder und auch deren Familienangehörige überdurchschnittlich häufig an Allergien; eine Erklärung dafür gibt es allerdings noch nicht.

Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel beeinträchtigt zumindest bei Nagetieren und Affen auch Zellen des Gehirns selbst, und zwar solche des Hippocampus, einer Struktur des limbischen Systems, das mit Gedächtnis, Handlungsantrieb und Gefühlserleben zu tun hat (Bild 4). Sie sind dann leichter durch neurochemisch wirksame Substanzen zu schädigen. Wenngleich dies noch nicht bewiesen ist, dürften die entsprechenden Neuronen beim Menschen unter solchen Umständen ebenfalls anfälliger werden.

Verhaltensstudien an Rhesusaffen

Als Shelton und ich vor zehn Jahren mit unserem Forschungsprojekt begannen, mußten wir erst einmal herausfinden, unter welchen Bedingungen die Affen überhaupt Angst bekommen und welche ihrer Verhaltensweisen für verschiedene Arten von Angst charakteristisch sind. Dann wollten wir klären, von welchem Alter an die Tiere verschiedene bedrohliche Situationen erkennen, auseinanderhalten und entsprechend darauf reagieren. Indem wir außerdem ermittelten, welche Hirnabschnitte gerade zu diesem Zeitpunkt ausreifen, suchten wir die Strukturen zu identifizieren, die bei Angstempfinden und darauf bezogenem Verhalten involviert sind.

Die Versuche fanden am Regionalen Primatenforschungszentrum von Wisconsin und am Harlow-Primatenlaboratorium statt, die beide unserer Universität angegliedert sind. Um typische Verhaltensweisen bei Angst festzustellen, trennten wir sechs bis zwölf Monate alte Äffchen zeitweilig von ihrer Mutter und setzten sie drei verschiedenen Situationen aus:

– Sie wurden für zehn Minuten in einem Käfig völlig allein gelassen;

– ein Mitarbeiter postierte sich regungslos vor dem Käfig, wobei er es vermied, das Affenkind anzublicken;

– ein gleichfalls bewegungslos vor dem Käfig stehender Mensch blickte dem Tier unverwandt mit möglichst nichtssagendem, gleichgültigem Gesichtsausdruck in die Augen.

Diese experimentellen Bedingungen sind sicherlich nicht furchterregender als viele Situationen, in die junge Rhesus–affen in der freien Natur geraten. Sie entsprechen zudem jenen, in die man oftmals kleine Kinder bringt – etwa wenn die Mutter aus dem Zimmer geht, sich auf dem Spielplatz entfernt oder bei der Tagesstätte verabschiedet.

Die meisten allein gelassenen Tiere wurden sehr agil. Sie rannten und sprangen umher und gaben immer wieder einen Ruf von sich, der mit gespitzten Lippen geäußert wird und wie ein melodiöses „kuuh“ klingt; er beginnt tief, steigt dann hoch und fällt wieder ab (Bilder 2 und 3 links). Dieses Verhalten hatte der Psychologe und Primatologe Harry F. Harlow, der früher die Station in Madison leitete, schon vor mehr als drei Jahrzehnten als Bestreben des Jungtiers gedeutet, die Mutter auf sich aufmerksam zu machen, um sich in ihrer Nähe wieder geborgen fühlen zu können.

Bei Gegenwart eines Menschen ohne Blickkontakt, einer für die Äffchen noch ein wenig furchterregenderen Situation, wurden sie still und regten sich kaum noch; manche erstarrten regelrecht (Bilder 2 und 3 Mitte). Unter natürlichen Bedingungen reagieren Jungtiere – und zwar nicht nur von Primaten – so auf Raubfeinde. Denn unter solchen Umständen ist das Entscheidende nicht, die Mutter herbeizulocken, sondern so unauffällig wie möglich zu sein.

Merkt dann das Jungtier, daß der Feind es gesehen hat, kommt es wiederum auf eine andere Verhaltensstrategie an, die wir mit dem Anstarren provozierten (Bilder 2 und 3 rechts und Bild 5). Ist eine Flucht ausgeschlossen, bleibt ihm nur übrig, einen Angriff möglichst abzuwehren. Die eingesperrten Äffchen zeigten sich denn auch wütend, indem sie knurrend bellten, zurückstarrten, Drohgesichter zogen (wie das erwachsene Weibchen in Bild 1), die Zähne entblößten und am Gitter rüttelten. Manchmal machten sie zwischendurch auch Unterwerfungsgesten, indem sie Furchtgrimassen zogen, die an ein vorsichtiges Grinsen erinnern (wie in Bild 7 rechts) oder mit den Zähnen knirschten; dabei riefen sie sogar öfter „kuuh“, als ob sie allein wären (wie ich noch ausführen werde, halten wir seit kurzem diese Lautäußerungen je nach Situation für unterschiedliche Signale).

Nicht nur Affen finden einen starren Blick schreckenerregend, und nicht nur sie suchen durch Zurückstarren Raubfeinde einzuschüchtern. Selbst Vögel, Eidechsen und Krebse nehmen Augen als gefährliche Signale wahr. Umgekehrt haben sich in der Evolution von Schutzmechanismen bei manchen Fischen und Insekten Augenflecken entwickelt, die Angreifer abschrecken oder den Angriff zumindest auf weniger wichtige Körperpartien lenken. Mit Gesichtsmasken am Hinterkopf schützen Feldarbeiter in Indien und Südostasien sich vor Tigern, die ihr Opfer gern von hinten anspringen. Und auch wir Menschen reagieren darauf, wenn jemand uns intensiv anblickt: Die Hirnaktivität nimmt zu. Ängstliche und Depressive aber meiden möglichst einen direkten Blickkontakt.

Wir wollten nun herausfinden, in welchem Alter Rhesusaffen sich in den drei Versuchsbedingungen erstmals situationsbezogen verhalten. Verschiedenen anderen Studien zufolge vermuteten wir den Zeitraum um das Ende des zweiten Lebensmonats. Dann nämlich lassen die Mütter sie schon einmal mit den Spielkameraden allein losziehen, wohl weil sie ihnen nun zutrauen, einigermaßen auf sich selbst aufpassen zu können. Auch reagieren junge Affen erst mit ungefähr zehn Wochen auf den Gesichtsausdruck eines Artgenossen spezifisch je nach dessen Bedeutung; daraus ist zu schließen, daß zu diesem Zeitpunkt wenigstens ein Teil der Nervenverschaltungen verfügbar ist, die für instinktive oder erlernte Verhaltensweisen gegenüber Herausforderungen erforderlich sind.

Um die entscheidende Entwicklungsphase einzugrenzen, teilten wir Jungtiere von wenigen Tagen bis zu zwölf Wochen in vier Altersgruppen ein. Wir trennten auch sie für die Experimente von ihren Müttern und ließen sie sich an den ungewohnten Käfig gewöhnen. Dann beobachteten wir sie unter den drei Versuchsbedingungen und machten Video-Aufnahmen für genauere Analysen.

Bereits die Tiere der jüngsten Gruppe (bis zu zwei Wochen) zeigten verschiedenartiges Schutzverhalten. Ihre Bewegungen waren allerdings noch nicht recht koordiniert, und die Reaktionen erschienen eher zufällig, so als hätten sie nichts mit der Situation zu tun und gälten auch gar nicht dem Störenfried. Die Tiere der beiden mittleren Altersgruppen verfügten bereits über eine gute Bewegungskontrolle; aber auch ihr Verhalten schien sich nicht direkt auf die Versuchssituation zu beziehen. Demnach dürfte nicht die Entwicklung von motorischen Fähigkeiten ausschlaggebend dafür sein, ab wann junge Rhesusaffen auf Beunruhigungen adäquat reagieren.

Erst die neun bis zwölf Wochen alten Versuchstiere verhielten sich unter den drei Bedingungen jeweils der Situation angemessen und wie die erwachsenen Artgenossen. Demnach wäre dies das kritische Alter, in dem ein Affe die Fähigkeit erlangt, verschiedenen bedrohlichen Ereignissen mit spezifischem defensivem Verhalten zu begegnen.

Aufgrund der Untersuchungen anderer Forscher, die hauptsächlich an Nagetieren gemacht wurden, war zu vermuten, daß drei untereinander verbundene Hirnstrukturen das Angstempfinden regulieren. Wir nahmen deshalb an, daß eben diese Regionen bei Rhesusaffen in der kritischen Zeitspanne funktionell reif werden, so daß die Tiere fortan auf verschiedene beängstigende Situationen artgemäß reagieren können.

Eines dieser Gebiete ist der präfrontale Cortex, der einen großen Teil der äußeren Abschnitte des Großhirnrinden-Stirnlappens ausmacht. Er hat sowohl kognitive als auch emotionale Funktionen und hilft vermutlich bei der Deutung von Sinneseindrücken, so auch beim Bewerten von Gefahren.

Das zweite Gebiet ist der Mandelkern (Amygdala), der dem limbischen System zugeordnet wird. Diese entwicklungsgeschichtlich sehr alte Gehirnstruktur und davon insbesondere der Mandelkern gelten als der Ort für das Entstehen von Angst.

Drittens scheint der Hypothalamus beteiligt zu sein. Er liegt an der Hirnbasis und gehört zum sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System. Kommen aus anderen Hirnregionen Stress-Signale, etwa vom limbischen System oder anderen Rindenbezirken, sekretiert der Hypothalamus das corticotropin-freisetzende Hormon (kurz CRH nach englisch corticotropin-releasing hormone). Dieses kleine Protein veranlaßt die direkt unter dem Gehirn liegende Hirnanhangdrüse oder Hypophyse, ACTH (das adrenocorticotrope Hormon oder Corticotropin) in die Blutbahn abzugeben. Das wiederum regt die Nebennierenrinde dazu an, Cortisol auszuschütten, was schließlich den Körper in akute Verteidigungsbereitschaft versetzt (Bild 4 rechts; siehe auch Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 97).

Die Entwicklung von Hirn- und Hormonfunktionen

Neuroanatomische Befunde anderer Labors bestätigten unsere Vermutung, daß das Ausreifen der entscheidenden Hirnregionen der wesentliche Entwicklungsschritt dafür ist, daß Rhesusaffen mit neun bis zwölf Wochen situationsangepaßt zu reagieren beginnen. Beispielsweise ist in diesem Alter in der präfrontalen Rinde, im limbischen System (einschließlich des Mandelkerns) sowie in motorischen und visuellen Rindengebieten und anderen sensorischen Arealen die Synapsenbildung am stärksten (Synapsen sind die Schaltstellen zwischen Neuronen, wo Erregungen übertragen werden). Und wie Patricia S. Goldman-Rakic von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) herausfand, berücksichtigen junge Rhesusaffen gerade in dem Alter, in dem die präfrontale Rinde ausreift, in ihrem Verhalten erstmals frühere Erfahrungen – eine wesentliche Voraussetzung auch dafür, sich mit einer Gefahr adäquat auseinanderzusetzen.

Auch Kindern ermöglicht anscheinend erst die Reifung dieses Rindengebiets, daß sie die Art einer Gefahr erkennen. Im Alter zwischen sieben und zwölf Monaten nimmt dort die neuronale Aktivität zu, wie Harry T. Chugani und seine Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien in Los Angeles eruiert haben. Eben dann beginnen Kinder zu fremdeln; und vermutlich entspricht diese Entwicklungsstufe des Menschen jener der Rhesusaffen, auf der sie Gefahren zu unterscheiden beginnen. Kinder fangen zudem in diesem Alter an, Stimmungssignale der Eltern zu beobachten und den Grad ihrer Angst nach deren Gesichtsausdruck abzustimmen.

Die Rolle des Hypothalamus bei solchem Verhalten blieb zunächst unklar. Zu seiner Reifung oder der Entwicklung des ganzen Hormonregelsystems bei Affen fanden wir in der wissenschaftlichen Literatur nicht viel. Wie dann eigene Forschungen ergaben, reift es aber gleichzeitig mit der präfrontalen Rinde und dem limbischen System aus.

Bei diesen Studien diente uns das Hypophysenhormon ACTH als Marker für die Funktionalität des Systems. Wir verglichen dieselben vier Altersgruppen von Jungtieren wie bei dem Verhaltenstest. Als Bezugsgröße maßen wir die Menge von ACTH im Blut, während die Äffchen mit ihrer Mutter zusammen waren; dann trennten wir sie für 20 Minuten von ihr und bestimmten abermals den Hormonspiegel. In allen vier Gruppen nahm die Konzentration zu, ein markanter Anstieg zeigte sich aber nur bei der ältesten.

Die vergleichsweise schwache Hormonreaktion der jüngeren, besonders der jüngsten Tiere bis zum Alter von zwei Wochen stimmt mit Befunden an jungen Ratten überein, deren Stresshormonsystem während der ersten beiden Lebenswochen auch nur träge anspricht. Womöglich entwickelt es sich bei Nagern und Primaten zunächst verzögert, damit junge Nervenzellen nicht eventuell durch Cortisol-Wirkungen Schaden nehmen.

Individuelle Unterschiede

Nachdem wir nun wußten, daß das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System zwischen der neunten und zwölften Lebenswoche voll funktionstüchtig wird, gingen wir daran zu untersuchen, ob verschiedene Mengen von Cortisol und ACTH bei den einzelnen Tieren dazu beitragen, individuell unterschiedliches Verhalten gegenüber bedrohlichen Situationen zu äußern. Uns interessierte außerdem, ob die jungen Affen ähnlich wie ihre Mütter reagieren – dann nämlich sollte sich in geeigneten Experimenten auch prüfen lassen, in welchem Maße solches Verhalten ererbt beziehungsweise gelernt ist. Wir untersuchten hauptsächlich die Neigung unserer Versuchstiere, bei Gegenwart eines Menschen ohne Blickkontakt zu erstarren, denn das war ein individualtypisches Verhaltensmerkmal.

In einer Versuchsreihe bestimmten wir den Cortisol-Blutspiegel bei vier bis zwölf Monate alten Affen unter Normalbedingungen und maßen dann, wie lange die Tiere in der Versuchssituation reglos verharrten. Die Dauer korrelierte mit diesem Normalspiegel. Ebenso verhielt es sich bei erwachsenen Weibchen. Wie Folgeuntersuchungen ergaben, werden die Jungtiere im Laufe des ersten Lebensjahres ihren Müttern in den hormonellen Reaktionen und Verhaltensweisen immer ähnlicher: Im Alter von etwa fünf Monaten verändert sich in Stress-Situationen ihr ACTH-Spiegel ganz entsprechend dem der Mutter, und mit einem Jahr dauert auch das reglose Kauern relativ genauso lange.

Auffälligerweise finden sich beim Menschen teilweise ähnliche Beziehungen. So sind die Eltern sehr schüchterner Kinder oft selbst übermäßig ängstlich. Nach den Erhebungen von Kagan und seinen Kollegen läßt sich bei Kindern sogar schon anhand des normalen Cortisolspiegels voraussagen, wie sie sich in einer verunsichernden Situation verhalten werden – diejenigen mit gewöhnlich hohen Hormonwerten benahmen sich in einer fremden Umgebung gehemmter.

Solche Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Rhesusaffen bestärken uns in der Annahme, daß sich an diesen Tieren menschliche Gefühlsreaktionen modellhaft studieren lassen. Der enge Zusammenhang zwischen individuellem Cortisolspiegel unter normalen Umständen und Dauer der Angstreaktion beziehungsweise Grad der Schüchternheit läßt bei beiden gleichartige Wirkungen der Stress-Hormone annehmen (dabei dürfte der Hippocampus vermittelnd eingreifen, denn er ist mit besonders vielen Cortisolrezeptoren ausgestattet). Die jeweilige Ähnlichkeit von Hormon- und Verhaltensreaktion zwischen Affenmüttern und ihren Jungen wiederum könnte bedeuten, daß manche dieser Tiere – und vielleicht auch manche Menschen – für übersteigerte Furchtsamkeit genetisch prädisponiert sind, was eine erfahrungsbedingte Komponente nicht ausschließt.

Neurochemische Funktionskreise

Noch weiß man nicht, wie sich das genannte Hormon-Regelsystem und andere Hirnregionen wechselseitig beeinflussen, die für die Wahl von Verteidigungsstrategien zuständig sind. Wir sind aber dabei, neurochemische Schleifen oder Funktionskreise im Gehirn zu identifizieren, die für Unterschiede im Verhalten sorgen. Die beiden von uns bislang am gründlichsten untersuchten Systeme schienen, wie es zunächst aussah, recht verschiedene Aufgaben zu erfüllen; doch neueren Ergebnissen zufolge dürften die neuronalen Kontrollen solcher Schutzstrategien noch verzwickter sein, als anfangs zu vermuten war.

Die ersten Befunde erhoben wir vor drei Jahren an sechs bis zwölf Monate alten Tieren, indem wir ihnen Opiate beziehungsweise Benzodiazepine verabreichten. Beide Klassen von Substanzen modifizieren die neuronale Aktivität, und Nervenzellen, die solche Stoffe freisetzen oder binden, sind sowohl in der präfrontalen Rinde als auch in Mandelkern und Hypothalamus zahlreich.

Von Natur aus kommen im Gehirn morphinähnlich wirkende Substanzen vor, die Endorphine und Enkephaline, die als Neurohormone und Neurotransmitter unter anderem ebenfalls einen schmerzlindernden Effekt haben. Diese endogenen – körpereigenen – Opiate werden von bestimmten Nervenzellen freigesetzt und binden sich an Rezeptormoleküle auf anderen Neuronen; damit steigern oder drosseln sie deren Aktivität. Zu den Benzodiazepinen gehört der angstlösende Stoff Diazepam (unter dem Namen Valium im Handel). Man hat zwar bereits Rezeptoren für diese Substanzklasse entdeckt, sucht aber noch nach den entsprechenden gehirneigenen Schwestermolekülen.

Wiederum ließen wir die Versuchstiere die drei Verhaltenstests durchmachen. Den jeweiligen Wirkstoff erhielten sie schon vorher, bevor sie von ihrer Mutter getrennt wurden. Unter Morphium stießen sie dann, sowohl wenn sie allein gelassen als auch wenn sie angestarrt wurden, weniger „kuuh“-Rufe aus. Bei Gabe von Naloxon hingegen, das die Opiat-Rezeptoren blockiert, so daß endogene Opiate nicht mehr wirksam werden konnten, riefen sie öfter als sonst. Aber weder Morphin noch Naloxon wirkten sich auf die Häufigkeit des Bellens oder anderer feindlicher Verhaltensweisen beim Anstarren aus, ebensowenig auf die Dauer des Erstarrens in Gegenwart eines Menschen, der den Blickkontakt vermied. Wir schlossen daraus, daß opiat-gesteuerte Nervenbahnen vornehmlich das Kontaktverhalten regulieren (was unter den experimentellen Bedingungen sich darin äußert, daß die isolierten Jungen zur Mutter streben), mit der Gegenwehr in einer brenzligen Situation aber wenig zu tun haben.

Das Benzodiazepin wirkte sich hingegen auf das „kuuh“-Rufen nicht aus. Statt dessen wurden die Schreckstarre sowie das Bellen und andere defensive Verhaltensweisen seltener geäußert und schwächer. Die beteiligten Nervenbahnen scheinen also vor allem in die Reaktionen bei direkter Bedrohung einzugreifen, doch das Kontaktverhalten wenig zu beeinflussen (Bild 6).

Wir meinen nach wie vor, daß die von Opiaten und Benzodiazepinen regulierten Nervenbahnen im Grunde diese beiden getrennten Funktionen haben. Indes erwies sich unser erstes Modell als zu einfach: Wir mußten es korrigieren, als wir die Wirkung zweier weiterer Substanzen prüften – die des Benzodiazepins Alprazolam (in Deutschland als Tafil im Handel) und die von Beta-Carbolin, das sich an Benzodiazepin-Rezeptoren bindet, aber entgegengesetzt wie Diazepam wirkt, nämlich unter anderem die Ängstlichkeit erhöht.

Die Menge Alprazolam, bei der sich in der zweiten Testsituation die Erstarrung der Tiere löst, bewirkte, daß sie auf Anstarren kaum mehr feindselig reagierten – wie unter Diazepam. Umgekehrt wurden die Abwehrversuche nach Gabe von Beta-Carbolin stärker.

Diese Befunde paßten noch ins Bild. Unerwarteterweise wirken beide Stoffe sich aber auch auf die „kuuh-Rufe“ aus, und zwar gleichermaßen dämpfend. (Bis dahin hatten wir, wie gesagt, diesen Ruf nur dem Kontaktverhalten und Streben nach Nähe zur Mutter, nicht aber der Selbstverteidigung zugeschrieben.) Die gleichgerichtete Wirkung können wir uns noch nicht erklären; aber wir haben uns Gedanken darüber gemacht, warum auch Drogen, die an Benzodiazepin-Rezeptoren angreifen, die Reaktion Rufen beeinflussen.

Vorstellbar wäre, daß entgegen unserer ersten Folgerung Benzodiazepin-Bahnen das Kontaktverhalten steuern. Wir favorisieren jedoch die Deutung, daß ein durch Anstarren geängstigtes Jungtier gar nicht die Mutter ruft, weil es bei ihr sein möchte, sondern nur dringlich nach Hilfe schreit. Das hieße, das gleiche Verhalten könnte je nach Situation zwei unterschiedliche Funktionen haben, die über verschiedene neurale Bahnen kontrolliert werden.

Ich fand mich in dieser Vermutung bestätigt, als ich neulich in freier Wildbahn (wo wir nun auch arbeiten wollen) ein Rhesusaffen-Kind zu photographieren versuchte, das von seiner Mutter getrennt worden war. Seine penetranten Schreie riefen außer der Mutter gleich mehrere Hordenmitglieder herbei; diese Schar erregter Beschützer ließ mich schleunigst das Weite suchen.

Wie nun die neurochemischen Untersuchungen ergeben haben, sind bei Stress sowohl opiat- als auch benzodiazepin-sensible Funktionskreise in Aktion, wobei die Stärke jeweils von der äußeren Situation abhängt. So wie der Grad an Aktivität der beiden neuralen Bahnen sich ändert, wechselt oder variiert auch das Verhalten der Tiere.

Man weiß allerdings noch nicht genau, wie die Nervenzellen in den beiden Funktionskreisen operieren und möglicherweise zusammenarbeiten. Plausibel scheint folgendes Schema:

Bei Trennung von der Mutter werden Neuronen gehemmt, die endogene Opiate freisetzen, und dadurch auch opiat-sensible Neuronen inaktiviert. Das löst beim Affenbaby einen Mangel an Wohlbefinden aus – Verlangen nach der Mutter und ein unspezifisches Gefühl von Verletzlichkeit stellen sich ein. Die verminderte Aktivität der opiat-sensiblen Bahnen initiiert zugleich über motorische Systeme im Gehirn das „kuuh“-Rufen. Erscheint dann ein potentieller Raubfeind, wird auch die Aktivität von Nervenzellen, die benzodiazepin-ähnliche körpereigene Substanzen freisetzen, teilweise gehemmt. Infolgedessen steigt die Angst des Tieres, was mit den typischen Hormonreaktionen und Verhaltensmustern des Schutzes und der Selbstverteidigung einhergeht. Mit zunehmender Erregtheit und Furcht werden auch die motorischen Hirnareale in Bereitschaft gesetzt, die für Angriffs- beziehungsweise Fluchtreaktionen gebraucht werden. Möglicherweise wirkt das Benzodiazepin- auch auf das Opiatsystem und bewirkt, daß die „kuuh“-Rufe einen anderen Sinn als bloßes Verlangen nach Nähe zur Mutter bekommen.

Dieses Modell suchen wir weiterzuentwickeln, indem wir noch mehr Substanzen testen, die sich an Opiat- oder Benzodiazepin-Rezeptoren binden. Zudem untersuchen wir die Auswirkungen auf das Verhalten von chemischen Verbindungen, die an anderen Rezeptoren angreifen; beispielsweise finden sich solche für den Neurotransmitter Serotonin in vielen Hirnregionen, die beim Ausdruck von Angst beteiligt sind. Ferner interessieren uns Agentien, die direkt die Produktion der Stresshormone kontrollieren, darunter das CRH, das außer im Hypothalamus auch sonst überall im Gehirn vorhanden ist.

Therapie-Ansätze

In Zusammenarbeit mit unserem Kollegen Richard J. Davidson haben Shelton und ich kürzlich zumindest eine Hirnregion abgegrenzt, die unter dem Einfluß des Benzodiazepin-Systems steht. Davidson hatte festgestellt, daß bei extrem schüchternen Kindern die rechte präfrontale Rinde ungewöhnlich aktiv ist. Uns interessierte nun, ob das auch bei erschreckten Rhesusaffen der Fall ist und ob Pharmaka, die ängstliches Verhalten abschwächen, diesen Effekt dämpfen würden.

Wir beunruhigten die Tiere nur ein wenig durch sanftes Festhalten. Tatsächlich stieg dabei die neuronale Aktivität im rechten Stirnlappen stärker an als im linken – und sie normalisierte sich wieder, wenn wir Diazepam in einer Dosis gaben, die sonst aktive Schreckabwehr unterdrückt. Das Benzodiazepin-System muß also defensives Verhalten zumindest teilweise über die rechte präfrontale Rinde beeinflussen.

Die Befunde sind auch aus therapeutischer Sicht bedeutsam. Falls die Gehirne von Menschen und Affen wirklich so ähnlich arbeiten, wie wir nun annehmen, könnten für Erwachsene und Kinder mit hoher Aktivität in der rechten Rinde Benzodiazepine äußerst hilfreich werden. Zwar sind Ärzte wegen möglicher Nebenwirkungen meist sehr zurückhaltend, Kinder für längere Zeit mit angstlösenden Medikamenten zu behandeln; aber es gälte mit abzuwägen, daß die weitere psychische Entwicklung sich vielleicht in eine günstigere Richtung lenken ließe, wenn die Präparate während kritischer Phasen der Hirnentwicklung gegeben werden. Möglicherweise geht das auch ohne Medikamente, nur mit einem speziellen Verhaltenstraining, in dem die Kinder lernen, diese Gehirnsysteme selbst zu kontrollieren. Ein anderer Weg wäre, an Affen eine Palette neuer Pharmaka auszutesten, um solche zu finden, die bei Kindern so gut wie keine unerwünschten Wirkungen haben.

Sowie andere angstregulierende Systeme besser erforscht sind, wird man nach erprobtem Vorgehen auch dort therapeutisch eingreifen können. Unsere Arbeiten mit Rhesusaffen haben jedenfalls eine Grundlage dafür gelegt, aufgrund der Entwicklung von Modellvorstellungen entsprechende Prozesse beim Menschen besser zu verstehen. Damit sollte möglich sein, durch fein abgestimmte individuelle Behandlung bei Kindern ein entgleistes System wieder in die richtigen Bahnen zu lenken und ihnen dadurch viel späteres Leid zu ersparen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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