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Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz in der chemischen Industrie

Bei der Herstellung eines vermarktbaren Produkts entstehen fast immer unerwünschte Nebenprodukte, die oft die Umwelt belasten. Geänderte Verfahren, die das Anfallen solcher Substanzen vermeiden, sind in vielen Fällen auch wirtschaftlicher.

Bei fast jeder chemischen Reaktion entstehen mehrere Endprodukte, doch bei industrieller Nutzung ist in der Regel nur eines davon als Zielprodukt erwünscht; die übrigen werden als lästige Nebenprodukte in Luft oder Wasser emittiert oder im Boden deponiert – es sei denn, auch sie lassen sich wirtschaftlich verwerten. Wenn die Herstellung eines bestimmten Erzeugnisses zwangsläufig mit der Entstehung weiterer gekoppelt ist, sprechen die Wirtschaftswissenschaftler von Kuppelproduktion.

Ein Beispiel für deren Probleme bietet die Geschichte der Grundchemikalie Soda (Natriumcarbonat). Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde natürliche Soda als Rohstoff von Spanien vor allem nach England und Frankreich exportiert und bei der Glasherstellung, der Seifensiederei und der Textilbleiche verwendet. Als durch steigende Nachfrage Versorgungsengpässe auftraten, schrieb die Französische Akademie 1775 einen Preis für ein Verfahren aus, Soda aus Kochsalz (Natriumchlorid) zu gewinnen, den 1792 der französische Arzt und Chemiker Nicolas Leblanc (1742 bis 1801) gewann. Aus seinem Verfahren gingen indes neben dem Zielprodukt Soda umweltschädigende Nebenprodukte hervor, insbesondere Chlorwasserstoff; das Gas wurde in die Luft emittiert und schädigte die Anwohner der Sodafabriken sowie die Vegetation in weiten Bereichen der Umgebung und damit die benachbarte Landwirtschaft.

Als Proteste dagegen immer dringlicher wurden, erließ Großbritannien 1864 die Chlor-Alkali-Akte; sie schrieb vor, Chlorwasserstoff in Wasser zu lösen, und unterband damit die Emission über die Fabrikschornsteine. Allerdings entstand auf diese Weise Salzsäure, die man nun in die Flüsse einleitete. Da die Säure Schiffsrümpfe und Schleusenteile zerfraß und den Fischbestand gefährdete, verbot die 1874 erweiterte Chlor-Alkali-Akte nun auch diese Art der Entsorgung. Schließlich wandte man ein bereits 1868 von dem englischen Chemiker Henry Deacon (1822 bis 1876) entwickeltes Verfahren an, das die katalytische Oxidation von Salzsäure zu elementarem Chlor ermöglichte. Da Chlor sich vermarkten ließ, war damit die Umwandlung eines unerwünschten in ein erwünschtes Nebenprodukt gelungen.

Freilich verlagerten sich damit die Probleme der Chlorchemie nur aus dem Produktions- in den Konsumbereich: Die Anwendung und Entsorgung chlorhaltiger Erzeugnisse kann erhebliche Umweltprobleme verursachen. Wie der vom Umweltministerium eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutachten zur Abfallwirtschaft im September 1990 feststellte, meinen inzwischen immer mehr Chemiker und Verfahrenstechniker in Industrie und Hochschule, daß die Ausweitung der Chlorchemie in den fünfziger und sechziger Jahren eine der entscheidenden Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts gewesen sei (siehe auch "Die Chlorchemie auf dem Prüfstand – gibt es Alternativen?" von Reinhold Buttgereit, Spektrum der Wissenschaft, August 1994, Seite 108).


Markt und Politik

Das Beispiel von Sodaherstellung und Chlorchemie zeigt eine typische Asymmetrie zwischen Rohstoff- und Umweltproblemen in der Geschichte der chemischen Industrie: Während für knappe Rohstoffe meist rasch Alternativen – vor allem durch den Preismechanismus des Marktes angeregt – entdeckt wurden, waren häufig politische Maßnahmen in Form von Verboten, Verordnungen und Auflagen nötig, wenn die Gesellschaft das allmählich wachsende Ausmaß der Umweltschäden nicht länger hinzunehmen bereit war.

Umweltpolitische Maßnahmen stellen für die Industrie einen Anreiz dar, neue Verfahren zu erfinden, bei denen die unerwünschten Nebenprodukte nicht mehr anfallen. Allerdings sind auch mit Verfahrensumstellungen die Probleme nicht unbedingt gelöst: Als die Sodahersteller die Möglichkeit erkannten, das Chlor zu vermarkten, gaben sie ihre Entsorgungsprobleme nur an die Abnehmer weiter. Ein einzelner Abnehmer vemag aber derartige Stoffe nicht geregelt zu entsorgen. Deshalb wurde und wird das Chlor so lange unkontrolliert in die Umwelt – etwa in Form von flüchtigen Substanzen in die Atmosphäre oder von Chlorwasserstoffen ins Abwasser – abgegeben, bis der Gesellschaft der Aufbau einer Entsorgungsstruktur gelingt.


EPU, PIU und PU

Grundsätzlich lassen sich Umweltprobleme auf drei Arten lösen.

Beim Nachbessern eines in sich unveränderten Prozesses, dem sogenannten End-of-pipe-Umweltschutz (EPU), ergänzt man die Produktionsanlagen durch Kläranlagen, Rauchgaswäschen oder Verbrennungsanlagen. Zwar fallen dadurch bei gleicher Menge des Zielprodukts weniger unerwünschte Nebenprodukte an, doch zugleich vermehren sich Abwärme und Kohlendioxid-Emissionen. Als ökonomischer Nachteil kommt hinzu, daß bei steigenden Umweltschutz-Anforderungen die Verbesserung eines vorhandenen EPU-Verfahrens exponentiell steigende Kosten verursacht.

Durch Installation von EPU hat sich die Emission schädlicher Nebenprodukte in der Bundesrepublik zwar erheblich verringert – aber um einen hohen Preis: Im Jahre 1988 leistete die chemische Industrie 23 Prozent aller Ausgaben des produzierenden Gewerbes für Umweltschutz, während ihr Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung des produzierenden Gewerbes nur 8,6 Prozent betrug. Diese Zahlen sprechen für das Ausmaß der schädlichen und durch EPU entsorgten Nebenprodukte.

Die Idee des produktionsintegrierten Umweltschutzes (PIU) hat der in London und Berlin tätige August Wilhelm von Hofmann (1818 bis 1892), der erste Präsident der von ihm mitbegründeten Deutschen Chemischen Gesellschaft, bereits im Jahre 1848 formuliert: "In der idealen chemischen Fabrik... gibt es streng genommen keine Abfälle, sondern nur Produkte (Haupt- und Nebenprodukte). Je besser in der realen Fabrik Abfälle verwertet werden, desto mehr nähert sich... der Betrieb seinem Ideal, desto größer ist der Gewinn."

Diesem Ziel dienen zwei Arten von Maßnahmen. Entweder wird durch Verfahrensumstellung (oder ein neues Verfahren mit neuen Anlagen) die Schadstoff- und Abfallbilanz der Produktion in ökologisch günstiger Weise verändert; oder man schaltet zu einer bestehenden Anlage eine weitere hinzu, welche die unerwünschten Nebenprodukte entweder in Inputs oder in vermarktbare Produkte umwandelt.

Der produktintegrierte Umweltschutz (PU) schließlich zielt nicht auf die Umweltauswirkungen des Herstellungsverfahrens, sondern auf die der dabei hergestellten marktgängigen Produkte. Deren Materialzusammensetzung wird so verändert, daß eine Produkteinheit sich ökologisch günstiger entsorgen läßt. Ein Beispiel ist der Verzicht auf Phosphat in Waschmitteln.

Von seiten der chemischen Industrie wird oft betont, daß Umweltschutzmaßnahmen Kosten verursachen. Diese Einschätzung muß allerdings relativiert werden: Sie gilt zwar immer für EPU, aber nicht unbedingt für PIU (und PU). Während EPU stets erhöhte Produktionskosten und größere Stoffströme zur Folge hat, läßt sich bei PIU unter Umständen dieselbe Menge des Zielprodukts mit geringeren Einsatzmengen an Produktionsfaktoren und weniger unerwünschten Nebenprodukten herstellen: Die Verringerung der Umweltschädlichkeit kann durchaus mit weniger Kosten und geringeren Stoffströmen einhergehen.


33 Fallstudien

Inwieweit es bereits heute in der chemischen Industrie Verfahrensumstellungen gibt, bei denen zugleich Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz verbessert worden sind, ist eine empirische Frage. Wir haben sie in einer von der VW-Stiftung geförderten Studie anhand von 33 Produkten untersucht, bei denen durch produktionsintegrierten Umweltschutz zwischen 1960 und 1990 der Herstellungsvorgang modifiziert worden ist (Bild).

Wie die vielen Kreuze in der ersten Spalte der Tabelle zeigen, hat man in den meisten Fällen das Vermeiden unerwünschter Nebenprodukte durch Änderung des Herstellungsverfahrens praktiziert (und dafür beim teilweisen Austausch der Produktionsanlagen einen hohen Finanzierungsaufwand in Kauf genommen). In 15 Fällen fand Verwertung unerwünschter Nebenprodukte statt, und zwar vorwiegend über den Markt (zweite Spalte), während Recycling eher selten vorkam (dritte Spalte). Technisches Optimieren der Herstellung wurde nur viermal durchgeführt (vierte Spalte).

Obwohl man in 18 Fällen die aufwendigste Maßnahme des PIU ergriff, nämlich die Vermeidung, hat sich bei immerhin 9 davon die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens verbessert. Insgesamt sind von 33 Verfahren mindestens 13 (das heißt mindestens 40 Prozent) wirtschaftlicher geworden. Dies liefert einen empirischen Beleg, daß Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit einander nicht ausschließen müssen.


Ist Umweltpolitik notwendig?

Während Unternehmen häufig betonen, eine weitreichende Umweltpolitik sei ihnen aus Kostengründen nicht möglich, folgern manche Vertreter der chemischen Industrie aus den hier untersuchten Zusammenhängen wiederum, Umweltpolitik sei nicht notwendig: Das Streben nach Wirtschaftlichkeit verbessere ganz von selbst auch die Umweltqualität. Doch selbst in den Fällen, daß erhöhte Wirtschaftlichkeit mit verbessertem Umweltschutz einherging, war möglicherweise erst eine Änderung der umweltpolitischen Bedingungen für die Einführung dieses Verfahrens ausschlaggebend. Dafür kann es zwei Gründe geben:

- Produktionsanlagen werden häufig länger als 15 Jahre betrieben. Da neue Anlagen die Tendenz haben, alte zu entwerten, würde deren vorzeitige Stilllegung die Gewinne schmälern.

- In der chemischen Industrie gilt als Faustregel, daß die Investitionen für neue Anlagen sich innerhalb von vier Jahren amortisiert haben sollen. Bei einem der drei großen deutschen Chemieunternehmen beträgt dieser Zeithorizont für Produkte, die schon auf dem Markt sind, drei und für neu entwickelte sieben Jahre. Damit sind die Anforderungen an die technische Überlegenheit eines neuen Verfahrens gegenüber dem alten sehr hoch. (Für den kurzen Zeithorizont gibt es mehrere Motive: Weil neue Verfahren sich in der großtechnischen Anwendung möglicherweise nicht bewähren und man vergeblich in sie investiert hat, müssen die erfolgreichen Verfahren entsprechend große Gewinne abwerfen; zudem können aufgrund technischen Fortschritts neue Verfahren schon nach wenigen Jahren veraltet sein, oder auf dem rasch expandierenden Weltmarkt erscheinen neue Anbieter mit überlegenen Produkten. Und schließlich kann die Nachfrage sich grundsätzlich ändern.)

Aus all diesen Gründen bleiben Verfahren, die technisch möglich, umweltfreundlich und bei konstanten Angebots- und Nachfragebedingungen auch wirtschaftlich wären, mitunter in der Schublade. Hier kann Umweltpolitik ansetzen, indem sie durch Auflagen und Abgaben schädliche Nebenprodukte unrentabel macht und die Unternehmen drängt, entweder die Produktion stillzulegen oder auf Verfahren zurückzugreifen, die sie aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen sonst nicht gewählt hätten.


Offene Fragen

Außer internationalen Marktverflechtungen muß die Umweltpolitik künftig vor allem die Vernetzung der Sektoren innerhalb wichtiger Wirtschaftszweige berücksichtigen. Ein Beispiel für dabei auftauchende Probleme ist die Produktion von Schwefelsäure.

Durch Bilden geschlossener Kreisläufe könnte die chemische Industrie Schwefelsäure weitgehend im Rahmen des PIU herstellen; dadurch würde zudem ihr Bedarf an Schwefelsäure beträchtlich zurückgehen. Jedoch würde diese auf den ersten Blick günstige Entwicklung Probleme in anderen Sektoren der Wirtschaft schaffen.

Die chemische Industrie nimmt nämlich bisher große Mengen von Schwefelsäure aus den Metallhütten sowie der Mineralöl- und Erdgasverarbeitung ab, die dort als schädliches Nebenprodukt anfallen. Durch erfolgreichen PIU würde für drei volkswirtschaftliche Schlüsselsektoren diese Entsorgungsmöglichkeit wegfallen. So ruft die Lösung eines Umweltproblems in einem Sektor tendenziell große Probleme in anderen Sektoren hervor. Für solche Schwierigkeiten ist keine Patentlösung in Sicht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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