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Neurologische Erkrankungen: Antisense-Wirkstoffe feiern erste Erfolge

Hoffnung bei seltenen Krankheiten: Dass das raffinierte Konzept hinter den Antisense-Wirkstoffen auch in der Praxis zu taugen scheint, bestätigen jetzt erste Studien an Patienten.
Antisense-Wirkstoffe greifen in den genetischen Ablesevorgang ein

Seltene neurologische Krankheiten waren ja leider lange Zeit auch selten erforschte Krankheiten. Für Patienten, die etwa an spinaler Muskelatrophie (SMA) oder Chorea Huntington erkrankt sind, gibt es darum nur wenige oder gar keine Therapiemöglichkeiten. Doch langsam scheint sich das Blatt zu wenden. Vor allem eine Substanzgruppe, die so genannten Antisense-Oligonukleotide, lassen Hoffnung schöpfen. Diese werden zwar schon seit zwei Jahrzehnten in einigen wenigen Labors erprobt, erst jetzt scheinen sie jedoch weit genug gediehen, dass erste Erfolge gemeldet werden.

So wurde im August 2016 eine klinische Studie mit 122 Säuglingen, die an spinaler Muskelatrophie litten, vorzeitig abgebrochen: Die Wirkung war so offenkundig positiv, dass es ethisch nicht mehr vertretbar war, der Placebogruppe dieses offenbar hilfreiche Präparat namens Nusinersen vorzuenthalten. Seither sind die Säuglinge in eine andere Studie ohne Kontrollgruppe gewechselt. Dabei sollen sich auch eventuelle Nebenwirkungen besser erfassen lassen.

Ein Durchbruch? Die Stimmung unter den Experten schwankt zwischen hoffnungsfroh und skeptisch. "Wir wissen leider noch nicht, was genau die Wirkungen des Medikaments sind", sagt Peter Claus, Neurowissenschaftler an der Medizinischen Hochschule Hannover. "Es heißt, dass sich einige Motorfunktionen verbessert haben." Und schon kleine Verbesserungen könnten den Alltag für die betroffenen Kinder erheblich erleichtern. Auf YouTube kursieren unterdessen Videos von behandelten Kindern, die alleine sitzen oder mit Hilfe laufen können. "Die Bilder sind sehr erstaunlich und machen Hoffnung", sagt Claus. "Der Effekt des Wirkstoffs über solche individuellen Fälle hinaus lässt sich aber nur mit motorischen Tests in klinischen Studien verlässlich quantifizieren." Auch andere Forscher halten es für viel zu früh, um hier von einem Durchbruch zu sprechen.

Verständliche Euphorie

Doch die Euphorie unter den betroffenen Eltern kann man verstehen: Bislang gibt es nämlich gar keine Therapie für die seltene neuromuskuläre Erkrankung, die in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommt. Im schwersten Fall, der Typ-I-SMA, zeigen Säuglinge bereits wenige Wochen nach der Geburt typische Symptome, weil ihre Muskeln nicht funktionieren wie bei Gleichaltrigen. Denn: Bestimmte Neurone im Rückenmark sind bei ihnen defekt, was dazu führt, dass Muskeln von dort keine Impulse erhalten. Darum bewegen sich die Säuglinge kaum, können nicht krabbeln, sitzen oder alleine trinken. Lediglich mit Physiotherapie und orthopädischen Operationen kann das Leid etwas gelindert werden.

Weil auch die Rumpfmuskulatur verkümmert ist, brauchen viele der kleinen Patienten künstliche Beatmung. Die Kinder sterben letztlich an einer Ateminsuffizienz oder einer Infektion meist noch vor ihrem zweiten Geburtstag. Beim Typ II werden die Kinder älter, müssen aber mit Rollstuhl leben. Typ III und Typ IV ermöglichen hingegen ein weitgehend normales Leben. Rund eines von 6000 bis 10 000 Neugeborenen ist von der Typ-I-SMA betroffen.

Da das Leiden durch einen einzigen Gendefekt vererbt wird, setzt das neue Präparat an genau diesem Gen an, dem so genannten SMN-Gen. Es besteht aus zwei Teilen: Das SMN1-Gen fehlt bei den Patienten ganz, und das Backup-Gen, SMN2, produziert nur eine lädierte Abschrift. Das kodierte Protein kann also nicht in ausreichendem Maß gebildet werden.

Dagegen geht Nursinersen vor, indem es sich an die defekte Abschrift anheftet. Nusinersen ist ein Oligonukleotid, das heißt, es besteht chemisch betrachtet wie die Gene und dessen Abschriften, auch Boten-RNA genannt, aus einer festgelegten Abfolge von Basenpaaren. Der Trick der Medikamentenentwickler besteht darin, diese Abfolge genau passend zur Sequenz der defekten Abschrift zu wählen. Dadurch kann es sich zielgenau daran – und nur daran – anheften. Im Idealfall hat das zur Folge, dass statt des defekten Transkripts ein funktionsfähiges hergestellt wird, genügend Protein entsteht, wodurch die Neurone richtig arbeiten und die Muskeln entsprechende Signale erhalten. Das ist zumindest die erhoffte Wirkungsweise des Medikaments.

Wirkstoffe mit Zielmarkierung

Alle Antisense-Medikamente folgen diesem Wirkprinzip: Sie verwenden die jeweils passenden "gegensinnigen" Sequenzen, um schon bei der Bildung eines krankheitsauslösenden Proteins einzuschreiten. Damit stehen sie zwischen klassischen Medikamenten, die in der Regel das krank machende Protein selbst zum Ziel haben, und der Gentherapie, die am genetischen Kode ansetzt. Seit vielen Jahren schon wird am Antisense-Prinzip geforscht, mit insgesamt dürftiger Erfolgsbilanz. Vielfach scheiterte die Anwendung daran, den Wirkstoff unbeschadet durch den Körper zu navigieren. Zum einen zerstückeln die Zellen die Wirkstoffketten viel zu schnell, und zum anderen schaffen es die Medikamente nicht durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn. Doch genau dort sollen sie bei neurologischen Erkrankungen meist ihre Wirkung entfalten.

Nusinersen wird darum mittels einer Injektion in den Wirbelsäulenkanal direkt in das Hirnwasser gespritzt, wo sich die Substanz offenbar schnell verteilt. Mit dieser Variante scheint also zumindest das Verteilungsproblem gelöst. Allerdings ist eine solche Lumbalpunktion schmerzhaft und nicht ohne Risiko. Einige Firmen forschen darum an Antisense-Wirkstoffen, die sich als Injektion ins Blut oder als Tablette verabreichen lassen.

Auch die Alzheimerforschung hat die Tausendsassas für sich entdeckt

Denn interessant ist das Antisense-Prinzip bei Weitem nicht nur für die SMA. Auch bei anderen genetischen Krankheiten, wie der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), der Huntington-Krankheit oder Alzheimer werden Antisense-Wirkstoffe erforscht. Chorea Huntington beispielsweise betrifft Menschen, bei denen eine Abfolge dreier Basen im Kode des Gens HTT in stark erhöhter Anzahl vorliegt. Etwa fünf bis zehn von 100 000 Menschen entwickeln dadurch im Erwachsenenalter psychiatrische Symptome sowie kognitive und motorische Defekte. Auch für diese Krankheit fehlt eine geeignete Therapie. Dass sich Antisense-Substanzen durch Lumbalpunktion im Hirn verteilen lassen, weckt nun Hoffnung bei Huntington-Experten: "Die Forschung wird sich so erheblich beschleunigen", davon ist Blair Leavitt von der University of British Columbia in Vancouver überzeugt.

Weniger krank machendes Protein

US-Studien an Primaten haben etwa gezeigt, dass eine Antisense-Injektion in den Liquorraum des Rückenmarks defekte HTT-Proteine in verschiedenen Gehirnregionen um die Hälfte reduziert. Eine Studie an wenigen menschlichen Patienten läuft seit Ende 2015, sie soll zunächst die Sicherheit des Wirkstoffs nachweisen. Das getestete Medikament IONIS-HTTRx stammt von der Firma Ionis, die auch maßgeblich an der Entwicklung von Nusinersen beteiligt war. Leavitt meint jedoch: "Es wird noch lange dauern, bis ein Medikament gegen Huntington im klinischen Alltag ankommt."

Ungleich schwieriger wird die Sache bei ALS. Denn hier sind es gleich mehrere Mutationen, die – meist erst nach dem 50. Geburtstag – zur Erkrankung führen. Zumindest für die zwei häufigsten Auslöser des Leidens, eine Veränderung im SOD1-Gen und eine im C9orf72-Gen, haben Forscher bereits Antisense-Moleküle konstruiert. Auch sie sollen sich an die Abschrift des jeweiligen Gens binden, in diesem Fall aber die Produktion der entsprechenden Proteine verhindern. Denn diese führen zu übermäßigen Entzündungsreaktionen. Für beide Antisense-Wirkstoffe laufen derzeit erste Studien mit wenigen Teilnehmern zur Sicherheitsüberprüfung. In Expertenkreisen ist man jedoch zuversichtlich: "Die Antisense-Therapie hat sich ja bei der spinalen Muskelatrophie als sicher erwiesen", sagt Don Cleveland von der University of California. Rund drei bis acht von 100 000 Menschen erkranken daran, der prominenteste Patient ist der Astrophysiker Stephen Hawking.

Die Alzheimer-Forschung hat die Tausendsassas ebenfalls für sich entdeckt: Doch auch bei dieser viel häufiger auftretenden Krankheit – rund neun Prozent der über 65-Jährigen sind betroffen – spielen verschiedene genetische Mutationen eine Rolle. Das Presenilin- oder APP-Gen ist etwa für die familiäre Form der Erkrankung ursächlich. Das APP-Gen kodiert für die Beta-Amyloide, die bei Alzheimerpatienten Plaques im Gehirn bilden und eine Schlüsselrolle bei der Erkrankung spielen sollen. In Tierstudien konnte ein Antisense-Wirkstoff die Bildung der gefährlichen Eiweißstoffe reduzieren und auch das Verhalten der Mäuse etwas verbessern.

"Zudem erhöhen genetische Varianten, etwa im ApoE-Rezeptor-Gen, das Risiko", schreibt Anthony Hinrich, Wissenschaftler an der Chicago Medical School in einer aktuellen Studie. Dieses spielt eine Rolle für Gedächtnis und Lernen. Auch er hat, wiederum in Mäuseversuchen, gezeigt, dass Antisense-Oligonukleotide einen Vorgang beim Übersetzen des genetischen Kodes, das so genannte alternative Spleißen des Gens, fördern können, womit mehr erwünschte Proteine gebildet werden. Tiere, die sechs Monate lang ein entsprechendes Medikament erhielten, absolvierten tatsächlich Lern- und Gedächtnisaufgaben besser als unbehandelte Mäuse.

"Es gibt nichts, was es nicht gibt"

Thomas Arendt, Alzheimerforscher an der Universität Leipzig, ist jedoch skeptisch: "In der präklinischen Alzheimerforschung gibt es nichts, was es nicht gibt. Von Humanstudien mit Antisense-Wirkstoffen ist man hier weit entfernt." Arendt glaubt auch nicht, dass das Prinzip bei Alzheimer wirklich funktionieren kann: "Es werden genetische Mechanismen beeinflusst, die viele Prozesse regulieren. Ein Eingriff wird darum auch erhebliche Nebenwirkungen haben."

Im Fall von Nusinersen hat der US-amerikanische Hersteller Biogen zwischenzeitlich eine Zulassung der Arznei bei der US-amerikanischen (FDA) und europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) beantragt. Beide Behörden haben die Prüfung ganz weit oben auf ihre Prioritätenliste gesetzt. Und in Deutschland gibt es seit Kurzem ein "Härtefallprogramm": Schwer kranke Patienten können in Absprache mit Spezialisten an Kliniken in Essen, Freiburg und München behandelt werden.

Versuche mit Mäusen haben derweil auch gezeigt, dass sich mit einer frühen Gabe des Medikaments Symptome erheblich verringern lassen. "Wenn sich das beim Menschen auch zeigen sollte, dann muss es ein Neugeborenen-Screening auf SMA geben, um möglichst früh therapieren zu können", so Peter Claus. Bislang ist die Krankheit nicht Teil des allgemeinen Screenings in den ersten Lebenstagen.

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