Direkt zum Inhalt

»Deltacron«: Die Variante, die es nie gab

Schlimm und schlimmer kombiniert: Die Falschnachricht von einer Kreuzung aus Delta und Omikron verbreitete sich schnell. Auf den Spuren eines Phantoms aus dem Labor.
Im Labor

Die ersten, die von der vermeintlichen Entdeckung hörten, waren die Zuschauerinnen und Zuschauer des zypriotischen Lokalfernsehens. Am 7. Januar 2022 gab der Virologe Leondios Kostrikis in einer Sendung bekannt, dass seine Forschungsgruppe an der Universität von Zypern mehrere Sars-CoV-2-Genome identifiziert habe, die sowohl Elemente der Delta- als auch der Omikron-Variante trugen.

»Deltacron« war entdeckt. Unter diesem Namen luden noch am selben Abend Kostrikis und sein Team 25 der Sequenzen in die Fachdatenbank GISAID hoch. Weitere 27 folgten einige Tage später. Am 8. Januar griff die Finanznachrichtenagentur Bloomberg die Geschichte auf. Deltacron wurde zu einer internationalen Nachricht.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Reaktionen anderer Wissenschaftler ließen nicht lange auf sich warten: Viele Fachleute erklärten sowohl in den sozialen Medien als auch in der Presse, dass die 52 Sequenzen nicht auf eine neue Variante hindeuten, nicht auf das Ergebnis einer Rekombination, den Austausch genetischer Informationen, sondern eine viel profanere Erklärung hätten: Sie seien wahrscheinlich einer Verunreinigung von Proben im Labor geschuldet.

»Es gibt kein #Deltacron«, twitterte Krutika Kuppalli, Mitglied des Covid-19-Teams der Weltgesundheitsorganisation mit Sitz an der Medical University of South Carolina in Charleston, am 9. Januar. »#Omikron und #Delta haben NICHT eine Supervariante gebildet.«

Verbreitung von Fehlinformationen

Wie ein paar Sars-CoV-2-Sequenzen in den Mittelpunkt einer kurzen und intensiven wissenschaftlichen Kontroverse gerieten, ist eine interessante Geschichte. Und sie ist kompliziert.

Kostrikis selbst betont, dass Aspekte seiner ursprünglichen Hypothese falsch interpretiert worden seien. Zudem habe er nie gesagt, dass die Sequenzen eine Kreuzung von Omikron und Delta darstellen – trotz des verwirrenden Namens, den einige Medien so interpretierten, dass es sich bei den Sequenzen um eine Rekombination handele. Drei Tage nach dem Upload der Sequenzen in die Datenbank hat er den Eintrag nun auf unsichtbar gestellt, um weitere Analysen abzuwarten.

Angesichts der mehr als sieben Millionen Sars-CoV-2-Genome, die seit Januar 2020 in die GISAID-Datenbank hochgeladen wurden, sollten einige Sequenzierungsfehler nicht überraschen, sagt Cheryl Bennett, eine Mitarbeiterin des Büros der GISAID-Stiftung in Washington, D. C. »Allerdings ist es bei einem Ausbruch nicht hilfreich, voreilige Schlüsse aus Daten zu ziehen«, sagt sie. Insbesondere dann nicht, wenn sie aus Laboren stammen, die unter erheblichem Zeitdruck arbeiten müssten.

Häufige Kontamination im Labor

Die »Deltacron«-Sequenzen wurden aus Virusproben gewonnen, die Kostrikis und sein Team im Dezember im Rahmen einer Studie zur Ausbreitung von Sars-CoV-2-Varianten in Zypern erhalten hatten. Dabei fiel den Forschern auf, dass manche Viren in ihrem Spike-Protein eine genetische Signatur hatten, die der von Omikron ähnelte. Seine ursprüngliche Hypothese sei gewesen, dass hier Delta-Viruspartikel – unabhängig von Omikron – solche Mutationen im Spike-Gen entwickelt hätten, schreibt Kostrikis in einer E-Mail an »Nature«.

Kaum hatte das Thema in den Medien die Runde gemacht, meldeten sich andere Fachleute zu Wort, die ebenfalls an der genetischen Sequenzierung und an Covid-19 arbeiten, und wiesen auf Laborfehler als eine alternative Erklärung hin. Die Sequenzierung eines jeden Genoms hängt von Primern ab – kurzen, künstlich hergestellten DNA-Stücken, die durch Bindung an die Zielsequenz als Ausgangspunkt für die Sequenzierung dienen.

Delta hat jedoch eine Mutation im Spike-Gen, die die Bindungsfähigkeit einiger Primer einschränkt, was die Sequenzierung dieses Genombereichs erschwert. Omikron hat diese Mutation nicht. Wenn also Omikron-Partikel durch Verunreinigung in die Probe gemischt wurden, könnte das sequenzierte Spike-Gen dem von Omikron ähneln, sagt Jeremy Kamil, Virologe an der Louisiana State University Health Shreveport. Diese Art der Kontamination, so Kamil, ist »sehr, sehr häufig«.

Kostrikis hält dem entgegen: Wenn »Deltacron« durch Verunreinigung entstanden wäre, dann hätte die Sequenzierung Omikron-Sequenzen mit deltaähnlichen Mutationen ergeben müssen, da Omikron seine eigene Mutation hat, die den Primer behindert. In den sozialen Medien sei sein Ergebnis vorschnell als Kontamination abgetan worden, »ohne dass jemand unsere Daten vollständig berücksichtigt hätte oder einen eindeutigen Beleg für das Gegenteil geliefert hätte.«

Wissenschaft korrigiert sich selbst

Aber angenommen, das Ergebnis sei tatsächlich nicht durch Kontamination zu Stande gekommen, wenden Kostrikis Kollegen ein, dass die Mutationen, die sein Team identifiziert hat, nicht ausschließlich bei Omikron zu finden seien. Weshalb der Name »Deltacron« auch nicht wirklich passend sei.

Tatsächlich fänden sich in der GISAID-Datenbank zahllose Sequenzen, die Elemente von Sequenzen anderer Varianten enthalten, sagt Thomas Peacock, Virologe am Imperial College London. Solche Sequenzen »werden ständig hochgeladen«, sagt er. Aber hier müssten keine Gerüchte über neue Mutationen richtiggestellt werden, »weil die Presse nicht so viel über sie berichtet«.

»Wissenschaftler müssen sehr vorsichtig sein mit dem, was sie sagen«, erklärt ein Virologe, der anonym bleiben will. »Wenn wir etwas von uns geben, werden manchmal Grenzen geschlossen deswegen.« Kostrikis sagt, er nehme die kritischen Reaktionen aus der Fachwelt ernst und plane, seine Forschungsergebnisse bei der Veröffentlichung überprüfen zu lassen.

Für manch einen wächst durch solche Vorfälle aber auch die Gefahr, dass Forschende künftig zurückhaltender werden, was das rasche Teilen ihrer Ergebnisse angeht. Auch das wäre nicht wünschenswert, findet Jeremy Kamil. »Man muss der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Möglichkeit geben, sich selbst zu korrigieren«, sagt der Virologe. »Und in einer Pandemie muss man den schnellen Austausch von Virusgenomdaten erleichtern, denn nur so finden wir Varianten.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.