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Strahlenbelastung im Weltall: »Der Grenzwert wird deutlich überschritten«

Wenn Menschen ins All fliegen, sind sie erhöhter Strahlung ausgesetzt. Die Strahlenbiologin Christine Hellweg erklärt im Interview, was das für Folgen haben kann - und wo wir noch große Wissenslücken haben.
Die ISS im Orbit

Die Strahlung im Weltall ist für Menschen sehr gesundheitsschädlich. Bei künftigen langen Weltraummissionen – etwa zum Mars – könnte dies zu einem Problem für die Besatzung werden. Christine Hellweg ist Leiterin der Abteilung Strahlenbiologie im Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). »Spektrum.de« sprach mit ihr über die Weltraumstrahlung, ihre Forschung zur Risikoabschätzung und den Strahlenschutz.

Spektrum.de: Frau Hellweg, wie ungesund ist es, ins Weltall zu fliegen?

Hellweg: Wir wissen, dass die erhöhten Strahlendosen zu einer Trübung der Augenlinse führen können. Außerdem dürfte das Risiko steigen, nach der Rückkehr an Krebs zu erkranken. Versuche mit Nagetieren, die in den USA durchgeführt wurden, legen noch eine weitere mögliche Spätfolge nahe: Bei ihnen verursachen die hochenergetischen schweren Atomkerne, die im Weltraum umherschwirren, Schäden am Gehirn. Astronauten könnten dadurch theoretisch bleibende kognitive Einschränkungen davontragen, was bei den bisherigen Bewohnern der Internationalen Raumstation ISS glücklicherweise nicht der Fall war. Generell fehlt es an Langzeituntersuchungen, was die gesundheitlichen Folgen von Weltraumreisen anbelangt.

Wie hoch ist denn die Strahlendosis bei einem mehrmonatigen Aufenthalt auf der ISS?

Das hängt unter anderem von der Flughöhe der ISS – derzeit liegt sie bei ungefähr 415 Kilometern – und der Sonnenaktivität ab. Interessanterweise kann sich die Strahlenbelastung auch innerhalb der Raumstation teilweise um bis zu 50 Prozent unterscheiden, je nachdem, wie viel Abschirmung sich zwischen dem Astronauten und dem umgebenden Weltall befindet.

Christine Hellweg | Dr. Christine Elisabeth Hellweg ist Leiterin der Abteilung Strahlenbiologie am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).

Die gebräuchliche Maßeinheit, um die von Strahlung ausgehende Gefahr abzuschätzen, ist das Sievert. Sie gibt die so genannte Äquivalenzdosis an, die ionisierende Strahlung im menschlichen Gewebe deponiert. Wie viele Sievert bekommt ein ISS-Astronaut ab?

Im Mai 2016 betrug die tägliche Dosis 0,647 Millisievert. Das zeigen Messungen, die wir durchgeführt haben. Bei einer sechsmonatigen Mission summiert sich das dann auf ungefähr 120 Millisievert. Im Durchschnitt ist die Strahlenexposition auf der ISS also 250-mal höher als hier in Köln.

Ist diese Strahlenmenge bereits bedenklich für die Gesundheit?

Der Grenzwert für beruflich exponierte Personen – etwa den Mitarbeitern von Kernkraftwerken – liegt bei 20 Millisievert pro Jahr. Er wird auf der ISS also deutlich überschritten. Rein rechnerisch erhöht sich das Krebsrisiko durch eine ISS-Mission um bis zu zwei Prozent. Untersuchungen an ehemaligen US-Astronauten der Spaceshuttle-Missionen und der ersten ISS-Missionen haben jedoch gezeigt, dass diese seltener Krebs bekommen als die Normalbevölkerung.

Wie kann das sein?

Die Astronauten durchlaufen ein strenges Auswahlprogramm und sind wohl überdurchschnittlich gesund, wenn sie ins All starten. Im Vergleich zu ihren Kollegen, die am Space Center am Boden arbeiten, sind bei ihnen etwas mehr Krebserkrankungen aufgetreten. Diese Zahlen sind jedoch durchweg mit Vorsicht zu genießen, da sie nicht statistisch signifikant sind. Um belastbare Aussagen zu treffen, bräuchte man viel mehr Astronauten.

Sie und Ihre Arbeitsgruppe versuchen, die Strahlengefahr im Weltall besser abschätzen zu können. Wie gehen Sie dabei vor?

Zum einen ermitteln wir die Zusammensetzung der Weltraumstrahlung und die Exposition der Astronauten, zum anderen untersuchen wir die Strahlenwirkung auf Zellen und Organe. Über die Strahlung an sich wissen wir schon recht gut Bescheid, auch da es mittlerweile sehr gute Dosimeter gibt. Wir selbst entwickeln im Auftrag der ESA etwa die Messgeräte für die europäischen ISS-Astronauten. Die Raumfahrer tragen diese dann während ihrer Mission in der Hosentasche oder am Gürtel.

Wie funktionieren die Dosimeter?

Im Grunde speichern darin kleine Kristalle die Strahlungsenergie. Diese können wir nach der Mission rekonstruieren, indem wir die Kristalle erhitzen. Sie geben dann Licht ab – und dessen Menge ist proportional zur aufgenommenen Strahlendosis.

»Die Planer von Weltraummissionen sind sich eigentlich einig, dass solche Strahlendosen nicht akzeptabel sind«

Damit wissen Sie allerdings noch nicht, wie schädlich die Strahlung für den menschlichen Körper ist.

Richtig. Um die Wirkung auf biologisches Gewebe einordnen zu können, müssen wir wissen, um was für eine Art von Strahlung es sich handelt. Das Strahlenfeld im Weltall ist sehr komplex. Es handelt sich um viele unterschiedliche, sehr winzige, energiereiche Teilchen – von Wasserstoff- über Eisen- bis hin zu Uranionen. Sie bewegen sich enorm schnell durchs Weltall – und sind unterschiedlich gefährlich für die Zellen im Körper.

Woher kommen diese Teilchen eigentlich?

Teilweise von unserer Sonne, teilweise von außerhalb unseres Sonnensystems, sehr wahrscheinlich von explodierenden Sternen. Art und Energie der Teilchen lassen sich im Dosimeter dank spezieller Plastikfolien rekonstruieren. Die geladenen Teilchen hinterlassen im Molekülgitter der Folien kleine Defekte, die charakteristisch für das jeweilige Teilchen sind.

Und aus dem Teilchenmix folgt dann, wie gesundheitsschädlich die Strahlung ist?

Mit Hilfe der Informationen über die Zusammensetzung der Strahlung lässt sich zumindest ein so genannter Qualitätsfaktor für die Strahlung berechnen und sagen: Okay, die gemessene Energiedosis entspricht einer bestimmten Äquivalentdosis in Sievert. Dabei wird beispielsweise berücksichtigt, dass energiereiche Eisenionen eine höhere biologische Wirksamkeit haben als Röntgenstrahlung. Auch gewichten wir, dass verschiedene Gewebetypen und Organe unterschiedlich empfindlich sind. Letztlich ist die Abschätzung des Qualitätsfaktors aber natürlich mit Unsicherheiten behaftet.

Und dann müssen Sie noch die Strahlungsdosen bestimmen, die einzelne Organe abbekommen. Hier kommt die Puppe ins Spiel, welche die Abteilung Strahlenbiologie, in der Sie arbeiten, für die ISS entworfen hat, oder?

Ja, mit diesem menschlichen Phantom – wir nennen es Matroschka – haben wir die Organdosen auf der Raumstation bestimmt. Spezielle Kunststoffe im Innern der Puppe ahmen das Absorptionsverhalten von menschlichem Gewebe und Organen nach, und Sensoren zeichnen die Strahlendosis in unterschiedlichen Körperregionen auf. Aus den Organdosen haben wir die biologisch gewichtete Gesamtdosis, die so genannte effektive Dosis, für den menschlichen Körper berechnet und mit der Dosis an der Körperoberfläche korreliert. So können wir aus den Messwerten der Astronauten-Dosimeter letztlich die persönliche effektive Missionsdosis in Sievert für die Astronauten bestimmen. Mit Modellen können wir dann berechnen, wie sich das Risiko erhöht, an Krebs, degenerative Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems sowie des zentralen Nervensystems zu erkranken. Auch auf geplanten Orion-Flügen zum Mond werden solche Phantome mit an Bord sein – und erstmalig werden weibliche Phantome eingesetzt. Der erste unbemannte Flug soll in ein bis zwei Jahren stattfinden. Dann wissen wir auch mehr über die Strahlenbelastung außerhalb des schützenden Magnetfelds der Erde.

Wir reden bislang von Strahlungsdosen, die man auf der ISS abbekommt. Bei künftigen Missionen – etwa eine Reise zum Mars – wird die Strahlungsbelastung aber ja deutlich größer sein, weil die Raumfahrzeuge das schützende Magnetfeld der Erde verlassen werden.

Richtig. Auf der ISS beträgt die Strahlenbelastung nur rund ein Drittel von der weiter draußen im freien Weltraum. Daneben wird eine Mission zum Mars wohl bis zu drei Jahre dauern.

Was würde das für die Gesundheit der Astronauten bedeuten?

Vermutlich würde das zusätzliche Krebsrisiko dadurch um mehr als drei Prozent ansteigen. Diese drei Prozent gelten aus Sicht der Weltraumagenturen als Limit für die im Lauf einer Astronauten-Karriere angesammelte Strahlendosis. Bei einer Missionsdauer von drei Jahren wäre es wohl nicht einzuhalten. Modellrechnungen – die mit großen Unsicherheiten behaftet sind – gehen eher von 4 bis 25 Prozent aus.

»Ein Flug zum Mars war in den vergangenen Jahrzehnten gefühlt immer 30 Jahre entfernt. In letzter Zeit sieht es allerdings so aus, als kämen die Dinge in Bewegung«

Das hört sich nach ziemlich viel an.

Die Planer von Weltraummissionen sind sich eigentlich einig, dass solche Strahlendosen nicht akzeptabel sind. Das muss jedoch nicht heißen, dass man solch eine Mission nicht trotzdem durchführen kann, entsprechende Freiwillige vorausgesetzt. Für einen einzelnen Raumfahrer, der zum Mars fliegen will, ist ein Krebsrisiko zunächst nur eine abstrakte Folge, die vielleicht gar nicht eintritt. Die Organisatoren der Missionen müssten sie natürlich eingehend über die potenziellen Risiken aufklären. Und sie müssten die Missionsdauer so gering wie möglich halten – das ist der beste Weg, die Strahlungsdosis zu minimieren und das Risiko für Spätfolgen deutlich herabzusetzen.

SpaceX hat konkrete Ziele und plant angeblich eine bemannte Marsmission in den 2020er Jahren. Der Flug soll demnach nur rund fünf Monate dauern. Wäre das eine Dauer, die vertretbar wäre?

Je weniger Zeit im freien Weltraum, desto besser. Bei einer fünfmonatigen Marsmission kommen wir für die Strahlenbelastung in den Bereich von zwei sechsmonatigen ISS-Aufenthalten, sofern ausreichend Abschirmung vorhanden ist. Insofern wäre damit zumindest eine zentrale Forderung des Strahlenschutzes – die Expositionszeit zu reduzieren – sehr gut umgesetzt.

Wie ließen sich die noch großen Unsicherheiten bei der Risikoabschätzung reduzieren?

Für präzise Vorhersagen bräuchte man zehn- bis hunderttausende Menschen, die der Weltraumstrahlung ausgesetzt waren. Diese Datenbasis gibt es bisher nicht – und wird es auch in naher Zukunft nicht geben. Bisher stützt man sich stark auf die Erkenntnisse aus den Atombombenabwürfen über Japan im Jahr 1945. Darauf basiert viel Wissen über Spätfolgen einer Strahlenexposition. Man hat zum Beispiel Wirkungsbeziehungen für die Entstehung von verschiedenen Tumoren und die Krebsmortalität auf Grund von erhöhten Strahlendosen.

Und dieses Wissen versucht man auf die Situation im Weltraum zu übertragen?

Ja, allerdings haben wir es im Weltraum mit anderen Strahlenarten zu tun als bei den Atombombenabwürfen. Zudem bekamen die Betroffenen in Japan in sehr kurzer Zeit – wenigen Stunden – eine sehr hohe Dosis ab. Im Weltraum hingegen wirkt die Strahlung über einen langen Zeitraum. Daher behelfen wir uns mit Korrekturfaktoren, die aber natürlich erneut mit Unsicherheiten behaftet sind.

Also weiß man eigentlich nichts Konkretes?

Wissenschaftler haben viele biologische Experimente an Schwerionenbeschleunigern gemacht. Dort beschleunigt man Atomkerne, die auch in der Weltraumstrahlung vertreten sind, und schießt sie auf biologisches Gewebe. Damit haben wir eine relativ gute Vorstellung davon entwickelt, wie die Zellen auf einen Treffer mit einem Schwerion reagieren und welche Schäden in Gewebe und Organen entstehen. Die Unsicherheiten betreffen eher die Auswirkungen eines komplexen Strahlenfelds, die Übertragbarkeit von Kurzzeit- auf Langzeitexposition und die Risiken für bestimmte Organe, wie etwa das Gehirn. Diese bestehenden Unsicherheiten versuchen wir weiter zu reduzieren.

Wie?

Wir machen zum Beispiel Versuche mit vielen unterschiedlichen Zelltypen und schauen uns die Schäden an und wie die Zellen damit umgehen, ob sie beispielsweise andere Zellen darüber informieren. Es könnte sein, dass überlebende Zellen einen Treffer durch ein Schwerion nicht »vergessen« und damit der erste Schritt in Richtung eines Krankheitsprozesses getan ist.

Kann man Raumfahrer nicht einfach besser gegen kosmische Strahlung abschirmen?

Ein wenig besser als bislang geht es wahrscheinlich schon – aber bei Weitem nicht vollständig. Die kosmische Strahlung aus den Tiefen unserer Galaxie besteht zum Teil aus Teilchen mit sehr hoher Energie, welche die Außenwände der Raumschiffe durchdringen können.

Und dicker machen hilft nicht?

Da sind die Weltraumingenieure begrenzt durch das Gewicht, das sie mit den Raketen ins All schießen können. Man könnte aber beispielsweise einen kleinen Schlafbereich des Raumschiffs besser abschirmen als den Rest. Oder man kann Wasservorräte so platzieren, dass sie auch dazu dienen, Strahlung abzuschirmen. Doch eine komplette Abschirmung geht im Raumschiff nicht. Allein deshalb, weil die Teilchen der kosmischen Strahlung mit dem Abschirmmaterial interagieren, wodurch Fragmente mit niedrigerer Energie entstehen können. Diese fliegen dann einfach weiter – und sind oft noch schädlicher für den Körper als das ursprüngliche Teilchen. Ein bisschen Abschirmung kann also sogar schlechter sein als gar keine.

Wenn nun Astronauten beispielsweise auf dem Mars landen, ist die Strahlungsdosis dort immer noch gesundheitsschädlich?

Ja, die Dosisrate auf dem Mars ist ungefähr ein Drittel von derjenigen im freien Weltraum – und damit so hoch wie auf der ISS. Das liegt daran, dass der Mars im Vergleich zur Erde nur eine sehr dünne Atmosphäre hat und kein Magnetfeld. Man benötigt also auch dort ein sehr gut abgeschirmtes Habitat, in dem die Astronauten sich die meiste Zeit aufhalten. Lediglich bei Außeneinsätzen würden sie dann relativ hohe Dosen abbekommen. Gefährlich dabei können auch Sonneneruptionen sein, die nur sporadisch auftreten. Dabei werden große Mengen an Teilchen enorm beschleunigt und fliegen dann in einem großen Schwall durchs All.

Können solche Eruptionen für Astronauten lebensgefährlich werden?

Die Dosisraten können tatsächlich Werte erreichen, die für einen Menschen tödlich wären, wenn er etwa gerade in einem Raumanzug draußen ist. Aber mit einem Schutzraum im Raumschiff oder in einem Habitat ließe sich diese Art der Strahlung relativ gut abschirmen.

Kann man die Ereignisse denn mit einigem zeitlichem Abstand vorhersagen und Astronauten warnen?

Ich sage mal so: Die Wettervorhersage für die Sonne ist sehr, sehr schwierig. Doch es wird viel daran geforscht, und die Astronauten können mit der richtigen Technik noch rechtzeitig gewarnt werden. Sonnennahe Satelliten würden dann vor einem starken Anstieg der Teilchenrate warnen. Und es wäre in der Regel auch nicht so, dass ein Astronaut bereits binnen weniger Minuten eine tödliche Dosis abbekäme, das dauert schon Stunden oder sogar Tage. Mit den Warnsystemen ließe sich also verhindern, dass die Besatzung einer tödlichen Dosis ausgesetzt würde.

Was glauben Sie: Landen die ersten Menschen tatsächlich in einigen Jahren auf dem Mars?

Ein Flug zum Mars war in den vergangenen Jahrzehnten gefühlt immer 30 Jahre entfernt. In letzter Zeit sieht es allerdings so aus, als kämen die Dinge in Bewegung. Vielleicht führt der Weg zum Mars tatsächlich über den Mond, wo wir viel über geeignete Habitate, Abschirmung und Warnsysteme lernen können. Die befraute und bemannte Marsmission wird dadurch mehr »Science« als »Fiction«.

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