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Vogelzug: Ein rätselhaftes Massensterben

Im Herbst fielen massenhaft tote Vögel im Südwesten der USA vom Himmel. Fieberhaft suchen Biologen nach den Ursachen. Ganz vorne dabei: Waldbrände und der Klimawandel.
Hunderttausende tote Zugvögel in New Mexico und dem Südwesten der USA

Der Vogelzug begann ungewöhnlich früh im Herbst 2020 im Südwesten der USA. In manchen Beringungsstationen zappelten in den Fangnetzen der Forscher schon Ende August weitaus mehr durchziehende Singvögel als in den Jahren zuvor. Auch freuten sich viele Vogelbeobachter über ungewöhnlich viele Sichtungen von Vogelarten, die hier sonst nicht durchkommen. Fachleute werten beide Phänomene im Nachhinein als Anzeichen dafür, dass das in hunderttausenden Jahren der Evolution sorgsam getaktete Naturwunder des Vogelzugs in diesem Jahr durch irgendetwas schwer durcheinandergeraten ist.

Für jeden sichtbar wurde das schließlich am 20. August. Mitarbeiter der White Sands Missile Range, des legendären Raketentestgeländes im Süden des US-Bundesstaates New Mexico, entdeckten hunderte verendete Vögel auf dem Areal. In den folgenden Tagen und Wochen bezeugten unzählige Fotos und Videos in sozialen Netzwerken, dass es sich nicht um ein isoliertes Ereignis handelte. Auf Wanderwegen, entlang des Rio Grande, inmitten von Ortschaften und auf Golfplätzen: Die Bilder toter oder sterbender Vögel der unterschiedlichsten Arten schockierten Vogelliebhaber und erschreckten Wissenschaftler. New Mexico war am stärksten betroffen, aber immer neue Meldungen toter Vögel kamen ebenso aus den benachbarten Staaten Texas, Arizona, Colorado, Utah und auch aus Mexiko. Selbst im Oktober werden immer noch vereinzelte tote Tiere gemeldet.

Betroffen sind Vogelarten quer über viele Familien hinweg: Eulen, Seetaucher, Spechte, Fliegenschnäpper wie der Buschland-Schnäppertyrann, Waldsänger wie der Mönchswaldsänger, Kolibris und immer wieder Schwalben: Fahlstirnschwalben, Veilchenschwalben oder die auch in Europa verbreiteten Ufer- und Rauchschwalben.

Insektenfresser sind überrepräsentiert

»Das Spektrum ist sehr groß, aber Insekten fressende Arten und Zugvögel sind statistisch eindeutig überrepräsentiert«, sagt Andrew Farnsworth. Der Evolutionsbiologe und Zugvogelforscher der Cornell University versucht gemeinsam mit Kollegen, dem Phänomen des Massensterbens auf den Grund zu gehen. Doch noch ist nicht einmal klar, wie viele Vögel betroffen sind. Eingesammelt worden sei eine hohe Tausenderzahl, sagt Farnsworth. »Berechnet man die Wahrscheinlichkeit ein, überhaupt tote Vögel zu finden, und betrachtet, wo die Leute gar nicht gesucht haben, können es zehntausende, hunderttausende oder sogar Millionen sein«, sagt der Forscher. »Wir wissen es nicht, aber diese Zahlen sind absolut im Bereich des Möglichen.«

Klar scheint inzwischen, dass die Sterbewelle weitgehend beendet ist. »Das Schlimmste ist wohl vorbei, und es sieht so aus, als habe sie mindestens vier bis fünf Wochen angehalten«, sagt Farnsworth. Auch über die Ursachen spekulieren die Wissenschaftler noch. Hunderte tot eingesammelter Vögel werden über die kommenden Wochen in Laboren der US-Wildtierbehörde USFWS seziert. In ersten Analysen wurden bei vielen Vögeln entzündete Lungen und beschädigte Nieren festgestellt. Viele waren stark unterernährt. Das könnten wichtige Spuren auf der Suche nach den Ursachen sein.

Als wahrscheinlich, aber nicht bewiesen gilt bisher, dass das Zusammenspiel einer Reihe von Extremereignissen eine fatale Rolle gespielt hat. Alle stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Klimawandel: Viele westliche US-Bundesstaaten verzeichneten in diesem Jahr den trockensten und heißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Folge sind die Rekordbrände in zahlreichen Staaten.

Toxischer Rauch

Die Brände könnten zum einen viele Vögel frühzeitig zum Wegzug aus den Brutgebieten gezwungen haben, was ihr frühes Eintreffen in einigen südlichen Staaten erklären würde. Zum anderen könnten die riesigen Mengen giftigen Rauchs die inneren Organe der Tiere angegriffen und – wie auch die vorangegangene Dürre – zu einer Vernichtung vieler Insekten und damit der überlebenswichtigen Nahrung vieler Vögel geführt haben, vermuten die Forscher.

Zum Ende der ersten Septemberwoche ereignete sich in Teilen des Südwestens der USA dann ein weiteres historisches Wetterextrem: Von einem Tag auf den anderen sanken die Temperaturen um fast 30 Grad Celsius – von 35 Grad Celsius auf Werte knapp über dem Gefrierpunkt. So kalt war es beispielsweise in Albuquerque, New Mexico, in dieser Jahreszeit seit mehr als 100 Jahren nicht. Heftige Stürme brachten sogar Schneefälle mit sich.

Die Ornithologiestudentin Jenna McCullough vom Andersen Lab der University of New Mexico in Albuquerque ist sich sicher, dass dadurch die meisten Vögel starben. »Es ist unwahrscheinlich, dass die Brände allein den Tod so vieler Vögel verursacht haben«, sagt sie. Plausibler sei, dass der plötzliche radikale Wegfall von Insektennahrung durch den Kälteeinbruch die Hauptursache ist.

Das würde erklären, warum so viele Insektenfresser und besonders Schwalben betroffen sind, die während des Zugs in der Luft nach Insekten jagen und so ihre Treibstoffreserven auffüllen. Zudem verursachen ungünstige Witterungsbedingungen wie Kälteeinbrüche oder längere Regenperioden parallel zum Wegfall der Nahrung einen höheren Energiebedarf bei ziehenden Vögeln. Sie müssen gegen den Wind ankämpfen und sind zugleich mit durchnässtem Gefieder deutlich schwerer.

McCullough hat mit Kollegen mehr als 200 tote Schwalben eingesammelt und untersucht. Die Körpermasse der Vögel sei deutlich zu niedrig gewesen, und viele hätten ausgezehrte Brustmuskeln und keinerlei der sonst auf dem Zug in die Winterquartiere normalen Fettdepots aufgewiesen, berichtet die Ornithologin. Das würde die These vom Hungertod durch den Kälteeinbruch stützen.

»Wir wissen nicht, wie sich Rauch auf Vögel hunderte Kilometer entfernt von den Bränden auswirkt und wie schnell auch über längere Zeit aufgenommene geringere Mengen sie vergiften können«, sagt McCullough. »Wir wissen aber, dass Kälteeinbrüche schon häufig zu Massensterben geführt haben.«

Massensterben sind selten, aber nicht so selten

In der Tat sind in der ornithologischen Forschung zahlreiche Massensterben von Vögeln durch plötzliche Kälteeinbrüche dokumentiert. Solche Ereignisse kommen selten vor, aber sind keineswegs so rar, wie vielfach angenommen wird. Häufig spielen sie sich unbeobachtet über dem Meer ab.

Die meisten Todesfälle hängen mit den enormen Anstrengungen zusammen, die Vögel bewältigen müssen, um zu überleben. Nur wenige Gramm schwere Singvögel ziehen oft Nonstop über viele tausende Kilometer von Nord nach Süd und wieder zurück. »Vögel müssen über unbekannte Gebiete ziehen, oft durch ihnen fremde Landschaften, die nicht zu den heimischen Jagdgründen passen und es für sie schwer macht, Futter zu finden, natürliche Feinde zu erkennen und ihnen auszuweichen«, erklärt Ian Newton, der britische Ornithologe und Autor des Standardwerks zur Ökologie von Zugvögeln, die Herausforderungen, denen sich Vögel oft schon im Alter von wenigen Monaten gegenübersehen. Der britische Biologe Reginald Ernest Moreau schätzte in seinem posthum erschienenen Standardwerk zum Vogelzug, dass nur rund die Hälfte aller Zugvögel die Reise in das Winterquartier überlebt und in ihr Brutrevier zurückkehrt. Stimmen seine Schätzungen auch nur annähernd, bedeutet das ein praktisch unsichtbares Massensterben gigantischen Ausmaßes.

Gerade Arten wie die jetzt betroffenen Schwalben und andere Singvögel, die während des Zugs oder in kurzen Pausen Insekten jagen, um ihre Energiereserven aufzufüllen, sind besonders anfällig. Die letzte große Schwalbenkatastrophe in Deutschland und den angrenzenden Ländern gab es im Herbst 1974. Eine mehrwöchige Regen- und Kälteperiode am Nordrand der Alpen machte es den Vögeln unmöglich, ihren Flug in den Süden fortzusetzen. Ein Massensterben mit vielen hunderttausenden toten Vögeln war die Folge.

Orientierungslos ins Verderben

Neben Sturm und Regen ist Nebel eine ernste Gefahr für Zugvögel. »Dieser Stress, oft verschärft durch Orientierungsverlust, kann sie dazu zwingen, niederzugehen, wo sie gefährdet sind und durch einen Aufprall auf ein Gebäude, durch Unterkühlung oder durch Ertrinken sterben«, sagt Newton, der sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Auswirkungen dieses Phänomens können gelegentlich auch in Deutschland registriert werden, wenn ziehende Enten oder Kranichtrupps bei Nebel auf regennassen Straßen landen, die wie überschwemmte Wiesen glitzern.

Das letzte sichtbare große Massensterben von Vögeln in Europa ereignete sich im Frühjahr 2020 in Griechenland. Dort strandeten riesige Gruppen von Zugvögeln auf den Inseln der Ägäis. Wahrscheinlich hunderttausende erreichten das Land aber nicht mehr und ertranken, als sie auf ihrem Weg aus den afrikanischen Winterquartieren in die europäischen Brutgebiete über dem Mittelmeer von einer Kaltfront überrascht wurden. Und die größte bislang dokumentierte Zahl von verendeten Vögeln wurde 1904 aus den US-Staaten Minnesota und Iowa gemeldet, als 1,5 Millionen Spornammern – ein finkengroßer Singvogel – in einem gewaltigen Schneesturm starben.

Trotz dieser enormen Zahlen glauben Biologen nicht, dass Massensterben allein ganze Arten zum Aussterben bringen. Im Zusammenspiel mit anderen menschengemachten Gefahren seien sie aber ein weiterer Baustein, der Vögeln das Überleben schwer mache. »Ein Ereignis wie dieses führt zwar nur dazu, dass ein kleiner Prozentsatz einer Population getötet wird, wir müssen es aber in einem größeren Zusammenhang sehen«, sagt Vogelforscher Farnsworth.

»Hinzu kommen große Verluste durch streunende Katzen, Kollisionen mit Leitungen und Gebäuden, Krankheiten, die Zerstörung des Lebensraums und natürlich die vielfältigen Folgen des Klimawandels«, zählt der Biologe auf. Und Zugvögel trifft es gleich an vielen verschiedenen Orten der Erde. »Ich fürchte, wir sehen hier die neue Normalität«, sagt Farnsworth.

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