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News: Fehlendes Protein schuld an vererbtem Muskelschwund

Muskelschwund ist eine für alle Betroffenen entsetzliche Krankheit, vor allem, wenn mehrere Mitglieder einer Familie daran leiden. Möglicherweise haben Wissenschaftler nun die genetische Ursache für eine neue Form von erblichem Muskelschwund aufgeklärt. Sie wiesen destabilisierenden Defekt in Muskelstrukturen nach, der bisher bei anderen Muskelkrankheiten nicht beobachtet worden ist. Mit der Identifizierung dieses neuen, krankheitsverursachenden Gens können degenerative Muskelerkrankungen besser diagnostiziert und in Zukunft gezielter therapiert werden.
Degenerative Muskelkrankheiten, sogenannte Muskeldystrophien oder allgemein als Muskelschwund bezeichnet, treten in vielen klinischen Varianten mit unterschiedlichem Verlauf und Schweregrad in einer Häufigkeit von etwa 0,2 bis 0,3 Promille in der Bevölkerung auf. Die schwersten Formen offenbaren sich schon beim Neugeborenen, die milderen erst im Erwachsenenalter. Obwohl in den meisten Fällen erbliche Faktoren als wesentliche Ursache für Muskelschwund angesehen werden, können auch bei maximaler Ausnutzung des bisher verfügbaren Wissens in höchstens dreißig Prozent aller Fälle die molekulargenetischen Ursachen gefunden werden. Die größte wissenschaftliche Herausforderung für den Genetiker sind jene Muskeldystrophien, die wegen ihres sogenannten "autosomal-rezessiven Erbganges" in Familien nur vereinzelt, scheinbar sporadisch auftreten. Sie präsentieren sich klinisch sehr ähnlich, obwohl sehr unterschiedliche Störungen vorliegen, und sind – bei der heute vorherrschenden Kleinfamilienstruktur in westlichen Industrieländern – trotz modernster genetischer Untersuchungsmethoden kaum erforschbar.

Um dies besser zu verstehen, ist es wichtig, die Grundzüge Mendelscher Vererbungslehre zu verstehen: Bei einem autosomal-rezessivem Erbgang liegt das krankheitsverursachende Gen nicht auf einem geschlechtsbestimmenden Chromosom – daher die Bezeichnung "autosomal". Es tritt normalerweise auch nicht "krank machend" in Erscheinung, da es im Körper des Betroffenen eine "gesunde" Version dieses Gens gibt, die, weil es sich um die "dominante" Erbinformation handelt, vorrangig genutzt wird. Tragen jedoch beide Eltern die "krank machende" Version des Gens, so kann es in der darauf folgenden Generation zum Ausbruch der Krankheit kommen, wenn keine "gesunde" Version des Gens weitervererbt wurde, sondern lediglich die beiden rezessiven "krank machenden" Versionen. Die Wahrscheinlichkeit, dass genau dieser Fall eintritt, steigt mit der Anzahl der Nachkommen.

Eine solche neuartige Form von Schulter-Becken-Muskeldystrophie wurde zuerst in Brasilien von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Maria Rita Passos-Bueno in Sao Paulo beschrieben und in einer kinderreichen Familie entdeckt. Erbliche Veranlagungen der Eltern waren nicht bekannt, und dennoch blieben nur zwei der insgesamt acht Kinder gesund.

Zunächst gelang es der brasilianischen Arbeitsgruppe durch klassische Koppelungsanalysen, diese Erkrankung von anderen Formen der Gliedergürteldystrophien abzugrenzen und die Vererblichkeit des Defektes mit einem bestimmten Chromosomenabschnitt in Verbindung zu bringen. Eine weitere Eingrenzung der genetischen Ursache war aufgrund der niedrigen Zahl erkrankter Familienmitglieder nur bis zu einem bestimmten Maße in erster Annäherung möglich. Die mühevolle Aufgabe bestand nun darin, diesen kompletten Chromosomenabschnitt auf mögliche Veränderungen hin abzusuchen und einen krankheitsrelevanten Fehler im genetischen Bauplan der Betroffenen im Vergleich zu den nicht erkrankten Eltern und Geschwistern zu finden.

Im Rahmen eines Projektes, das sich mit diesem Chromosomenabschnitt befasst, haben Dieter Jenne und seine Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie eine fast lückenlose physikalische Karte für diesen Abschnitt erstellt und durch Computeranalysen von genau lokalisierten Genfragmenten den entscheidenden Defekt in der Architektur der Muskelfasern dieser Patienten gefunden. Durch die Zusammenarbeit mit Maria Rita Passos-Bueno konnte dieser Zusammenhang anhand von Muskel- und DNA-Proben der betroffenen Familienmitglieder bewiesen und dokumentiert werden (Nature Genetics vom Februar 2000). Ursache des fortschreitenden Muskelabbaus war das Fehlen eines Muskelproteins, das bei der Erstbeschreibung seiner cDNA-Sequenz "Telethon" getauft wurde – nach dem Namen einer italienischen Forschungsstiftung. Telethonin ist das zur Zeit kleinste bekannte Muskelprotein, das wohl nur bei Säugern, nicht jedoch bei niederen Wirbeltieren vorkommt. Es wird durch verschiedene Faktoren reguliert und schirmt seinerseits – wie eine Mütze – das längste überhaupt bekannte Protein Titin an einer kritischen Stelle ab. Aus diesem Grund wird es auch T-cap genannt. Es ist von besonderer Bedeutung für die Längsstabilisierung der Muskelfasern und in der sogenannten Z-Scheibe der Muskelfaserfibrillen lokalisiert.

Die Entdeckung dieses Zusammenhangs von Mutationen im Telethonin-Gen und einer langsam voranschreitenden Form der Muskeldystrophie eröffnet neue Möglichkeiten in der differentialdiagnostischen Analyse von Muskeldystrophien durch DNA-Sequenzierung und für die Therapie degenerativer Muskelerkrankungen. Die Träger "krankmachender" Gene können somit frühzeitig identifiziert werden und eine präventive Familienberatung erhalten. In Tiermodellen für degenerative Muskelerkrankungen wurden mit der somatischen Gentherapie bereits erste Erfolge erzielt.

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