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Klimaextreme am Mittelmeer: Am Rand des ökologischen Kollapses

In keiner anderen Weltregion abseits der Arktis schlägt der Klimawandel so schnell und hart zu wie am Mittelmeer, warnen Wissenschaftler. Im Meer, an Küsten und in den Städten sind die Lebensgrundlagen in Gefahr. Neben CO2-Reduktion braucht es rechtzeitige Anpassungsmaßnahmen.
Ein Mann steht vor lodernden Flammen während eines Waldbrandes auf Rhodos
Waldbrände verwüsteten 2023 die griechische Insel Rhodos. Feuerkatastrophen wie diese belasten zunehmend auch den Tourismus.

Seit vielen Jahren erforscht Joaquim Garrabou das Klima und die Natur des Mittelmeers. Der 57-Jährige arbeitet am Institut de Ciències del Mar in Barcelona, dem größten und wichtigsten Meeresforschungszentrum Spaniens. Garrabou gehört zu einer Gruppe von Pionieren, die seit Ende der 1990er Jahre in allen 22 an das Mittelmeer angrenzenden Ländern das erste gemeinsame Messnetz für Klimadaten namens T-MedNet aufgebaut hat. An etwa 90 Orten erfassen inzwischen rund um die Uhr Sonden im Meer von der Oberfläche bis in 40 Meter Tiefe alle fünf Meter die Wassertemperatur.

Garrabou hat zahlreiche Studien über die Korallenriffe des Mittelmeers verfasst und darüber, wie sie durch Hitzewellen im Meer gefährdet sind. Er ist Koordinator des Projekts »MedRecover«, in dem führende Forschungsinstitute aus dem Mittelmeerraum zusammen daran arbeiten, die Biodiversität des Meeres zu verstehen. In seinem Forscherleben hat er auf Tauchgängen schon viel gesehen: Schönheit und Vielfalt der mediterranen Natur mit ihren rund 17 000 verschiedenen Meeresbewohnern ebenso wie die negativen Folgen menschlichen Tuns, etwa in Form von Plastikmüll. Mit den beunruhigenden Szenarien dazu, wie der Klimawandel im Lauf des Jahrhunderts die Mittelmeerregion verändern wird, ist er bestens vertraut.

Klimawandel im Meer: Wie ein Waldbrand unter Wasser

Aber nichts, sagt er, hat ihn auf das vorbereitet, was er im Sommer 2022 gesehen hat, als er im Meer der Calanques-Region bei Marseille zu Forschungszwecken tauchen ging, um die Effekte einer marinen Hitzewelle zu untersuchen. Entlang der südfranzösischen Küste erstreckt sich ein vielfältiger Lebensraum. An flachen Stellen schwingt in dem klaren, blauen Wasser Seegras in der Strömung, leuchtend rote Edelkorallen besiedeln Felsen, bis in 30 Meter Tiefe erstrecken sich die Biotope der gelblichen Weichkorallen.

»So etwas habe ich noch nie gesehen: Bis in 30 Meter Tiefe war alles tot, komplett tot«
Joaquim Garrabou, Meeresbiologe

Hier leben Langusten, Oktopusse, Meeresschnecken, Schildkröten. Doch die auf 27 bis 30 Grad Celsius erhöhte Wassertemperatur war den Korallen zu viel. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagt Garrabou mit leiser Stimme, »bis in 30 Meter Tiefe war alles tot, komplett tot.« Die Gorgonien, wie die Weichkorallen wissenschaftlich heißen, bleichen nicht so aus, indem sie Algen als Symbiosepartner ausstoßen, wie es für Korallen in tropischen Breiten typisch ist. Vielmehr stirbt bei ihnen schrittweise Gewebe ab. »Man sieht es anfangs nicht so direkt, wenn sie abgestorben sind, aber tot sind sie trotzdem«, sagt Garrabou.

Die Bilder von brennenden Wäldern in Griechenland, Italien, Frankreich und Spanien sind in Medien regelmäßig präsent. Die Bilder aus dem Sommer 2023, als in Griechenland zehntausende Touristen vor den größten in Europa je dokumentierten Waldbränden fliehen mussten, bleiben im Gedächtnis. Garrabou zufolge passiert unter der Wasseroberfläche etwas Ähnliches, nur weniger sichtbar. Der Calanques-Nationalpark bei Marseille ist nur einer von vielen Schauplätzen rund um das Mittelmeer, an denen der Klimawandel so epochale wie katastrophale Folgen zeitigt. Wie Bäume an Land, sagt Garrabou, könnten auch Korallen, Schwämme, Seegras und viele Algen nicht einfach abwandern, wenn es ihnen zu heiß wird, und sterben im Extremfall ab.

Lange Zeit galt die Mittelmeerregion als Inbegriff eines angenehmen Klimas. Doch 2006 erklärten Wissenschaftler sie zum Klima-Hotspot – also einer jener Weltgegenden, in der sich die Effekte des Klimawandels besonders schnell und besonders drastisch zeigen.

Hitze, Dürren, steigende Meeresspiegel

Der Weltklimarat IPCC hat dem Mittelmeerraum in seinem neuesten Report aus dem Jahr 2022 ein eigenes Kapitel gewidmet. Dessen Grafiken leuchten mit jedem dargestellten Jahrzehnt stärker in roter Warnfarbe. Das Expertengremium zeichnet eine stetige Erwärmung von Luft und Meer seit etwa 1980 nach und hält es für wahrscheinlich, dass

– sich die Luft im Mittelmeerraum um 20 bis 50 Prozent schneller erwärmen wird als das gleichzeitig im globalen Durchschnitt passiert

– die Erwärmung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts selbst dann um 2 bis 3,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen wird, wenn die langfristigen Ziele des Pariser Klimavertrags eingehalten werden, und um mehr als 5 Grad, wenn die Menschheit weiter große Mengen fossiler Brennstoffe verfeuert

– Dürren intensiver, häufiger und langwieriger ausfallen werden, verbunden mit austrocknenden Flüssen und einem wachsenden Risiko, dass Brandstiftung zu großflächigen Bränden führt

– die obersten Wasserschichten des Mittelmeers im Lauf des Jahrhunderts je nach CO₂-Ausstoß um weitere 1 bis 4 Grad wärmer werden, was dem marinen Lebensraum erheblich schaden wird

– Hitzewellen im Meer länger und intensiver ausfallen und größere Flächen betreffen werden, so dass Ereignisse, die bisher als seltene Extreme galten, künftig sehr häufig auftreten könnten

– der Meeresspiegel bis 2050 um bis zu 30 Zentimeter und bis 2100 um bis zu 60 Zentimeter steigen könnte

– das Meerwasser stetig saurer wird, weil es Kohlendioxid aufnimmt, das sich in Kohlensäure verwandelt, was Meeresorganismen schaden kann

– die Zahl der Menschen, die an Hitzestress sterben, sich bis 2050 bei moderater Erwärmung verdoppeln und bei starker Erwärmung um einen Faktor von 3 bis 7 erhöhen wird.

Im Mittelmeerraum würden »alle derzeit prognostizierten Pfade des Klimawandels die Risiken für die menschliche Gesundheit und das menschliche Wohlergehen verschärfen, und Ökosysteme wie auch die Wirtschaft unter Druck setzen«, resümiert der IPCC.

Extreme von heute werden zunehmend zum Alltag

Garrabou hat mit eigenen Augen unter Wasser gesehen, was das konkret bedeutet. Nicht nur in Südfrankreich, sondern rund ums Mittelmeer führen schon jetzt marine Hitzewellen zu dem, was in der wissenschaftlichen Literatur »mass mortality event« heißt und MME abgekürzt wird – ein klimabedingtes Massensterben. »Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, hätte ich gesagt, okay, das kann irgendwann in der fernen Zukunft passieren und klar kann es auch zum lokalen Aussterben einiger Arten kommen – aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Zeuge von etwas in dieser Dimension werden würde.« Wenn das die Zukunft sei, »dann haben wir ein ernsthaftes Problem«.

Anderen Wissenschaftlern geht es ähnlich. »Die Zahl der Tage mit hoher oder extremer Brandgefahr in Südeuropa hat bereits jetzt ein Niveau erreicht, das wir erst für 2050 erwartet hatten«, sagt Jesus San Miguel, Wissenschaftler an der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission. »Der Klimawandel läuft hier viel schneller, als wir dachten.«

Mit Daten zu bisherigen Hitzewellen im Meer – wie sie 2022 etwa zum Korallensterben vor Marseille geführt haben – hat Sofia Darmaraki, physikalische Ozeanografin von der Universität von Toulouse, analysiert, womit in Zukunft zu rechnen sein wird. Für das Szenario von fortgesetzt hohem CO2-Ausstoß prognostizieren die Klimamodelle, dass es am Ende des Jahrhunderts mindestens eine lang anhaltende marine Hitzewelle pro Jahr geben wird, die bis zu drei Monate länger, etwa viermal intensiver und in ihren Folgen 42-mal schwerwiegender sein wird als die heutigen Ereignisse, heißt es in ihrer Studie. Die Hitzewellen könnten von Juni bis Oktober auftreten und in der Spitze das gesamte Mittelmeer betreffen. Dass dieser extreme Effekt erst für 2100 errechnet wird, ist ein schwacher Trost: Bis dahin wird die Situation nämlich schlicht Jahrzehnt für Jahrzehnt schlimmer.

»Die Zahl der Tage mit hoher oder extremer Brandgefahr in Südeuropa hat bereits jetzt ein Niveau erreicht, das wir erst für 2050 erwartet hatten«
Jesus San Miguel, Wissenschaftler der Europäischen Kommission

Zu all diesen Prognosen gehört immer ein gewisses Maß an Unsicherheit. In den Studien wird eigentlich nie ein bestimmter präziser Wert – etwa für die erwartete Temperatur –, angegeben, sondern eine Spannbreite von Werten. Diese werden mit Anmerkungen versehen, die erklären, wie sicher sich die Forschenden sind. Die in diesem Report verwendeten Werte wurden in der Mehrzahl als »wahrscheinlich« oder »sehr wahrscheinlich« gelabelt. Hinzu kommt, dass das Mittelmeer keine einheitliche Ursuppe ist, sondern zwischen Alboran-Meer im Westen und dem Levantischen Meer im Osten, dem Libyschen Meer im Süden und der Adria im Norden aus mehreren Teilmeeren mit unterschiedlichen Tiefen, Temperaturen und Strömungsverhältnissen besteht. Dasselbe gilt für die Lebensräume an Land. Aus allen Studien geht aber glasklar eine Botschaft hervor: In der Sehnsuchtsregion so vieler Menschen auch in Deutschland wird es hart und immer härter. Die Bilder fliehender Touristen aus dem Sommer 2023 sind nur ein Vorgeschmack auf das, was kommt, wenn die Menschheit weiter beim Klimaschutz versagt.

Das Mittelmeer war schon einmal ganz weg

Erdgeschichtlich betrachtet sind Klimaextreme in der Mittelmeerregion nichts Neues. Vor etwa zehn Millionen Jahren entstanden in der Gegend des heutigen Gibraltar neue Gebirge und verschlossen die Verbindung des Meeres zum Atlantik. Im Osten lenkten neu entstandene Berge Flüsse um und kappten die Verbindung zum Schwarzen Meer. Die Mittelmeerregion war von ihren Wasserquellen abgetrennt. »Wegen dieser kompletten Isolation und der geografischen Lage im Trockengürtel verdunsteten etwa vier Millionen Kubikkilometer Wasser«, beschrieb der 2013 verstorbene Mittelmeerexperte und Klimatologe Hans-Jürgen Bolle von der FU Berlin diese dramatische Entwicklung. »Das ganze Mittelmeerbecken trocknete aus und es blieb nur eine salzbedeckte Oberfläche zurück, vielleicht mit der Ausnahme einiger Brackwasserseen.«

Das Mittelmeer, das uns so vertraut und selbstverständlich erscheint – es war für lange Zeit einfach weg. »Messinische Salzkrise« nennen Geologen das Ereignis. Erst vor rund 5,5 Millionen Jahren fanden im Osten Flüsse wieder ihren Weg durch die Gebirge, auch die Rhone und der Nil begannen in die Salzwüste zu fließen. Vor rund 5,2 Millionen Jahren brach der Atlantik durch die Gesteinsbarriere – gigantische Wassermassen ergossen sich durch die Meerenge von Gibraltar in die tiefer gelegene Trockenebene. Das heutige Mittelmeer entstand. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 12 000 Jahren bietet es den Menschen an seinen Küsten die bekannten und beliebten angenehmen Lebensbedingungen: Im Sommer ist es warm, im Winter erneuert Regen die überlebenswichtigen Wasservorräte. Zudem bildet das Meer mit seinen Fischen, Weichtieren und Muscheln eine Nahrungsquelle, die bis vor Kurzem unerschöpflich schien.

Dieses Zusammenspiel von Wärme, Wasser und Natur machte die Mittelregion zu einer Wiege der menschlichen Zivilisation. Hier entstanden einige der frühen Großreiche, bis heute bedeutsame Bauten und Kunstwerke sowie Städte und Landschaften, in denen viele Menschen den Inbegriff guten Lebens erkennen.

Mehr als 500 Millionen Menschen von besonders schnellem Klimawandel bedroht

Doch diese förderlichen Lebensbedingungen sind in Gefahr. Von einem Risiko, dass das ganze Mittelmeer wie vor Millionen Jahren zu Wasserdampf wird und sich in Luft auflöst, kann heute natürlich keine Rede sein. Die Dimensionen des aktuellen Klimawandels sind ganz anders. Sie sind auf andere Weise hochdramatisch.

Im Unterschied zu der Zeit von vor zehn Millionen Jahren leben nämlich jetzt mehr als 500 Millionen Menschen zwischen Venedig, Gibraltar, Tripolis und Haifa. Jeden Sommer kommen viele hundert Millionen Menschen als Urlauberinnen und Urlauber dazu, wovon ein erheblicher Teil der Einkommen in der Region abhängt. Rund um das Mittelmeer erstrecken sich wichtige Anbaugebiete vor allem von Obst und Gemüse, das von dort in alle Welt exportiert wird – die aber auf Bewässerung angewiesen sind.

»Das große Risiko für den Mittelmeerraum ist, dass sich die Klimaphänomene, die aus der Sahara eine Wüste machen, nach Norden verschieben«
Giorgia Di Capua, Physikerin

Am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) erforscht die Physikerin Giorgia Di Capua, womit genau zu rechnen ist. Steigende Temperaturen und häufigere, längere Hitzewellen sind ihr zufolge eine ausgemachte Sache. Von den künftigen CO2-Emissionen der Menschheit hängt nur noch ab, wie stark die Erwärmung ausfällt. Schwieriger vorherzusagen sei dagegen, wie sich der für menschliches Leben alles entscheidende Niederschlag entwickeln wird. Denn Niederschlag hängt von mindestens zwei Faktoren ab: Wärmere Luft kann eigentlich mehr Wasser speichern, was zu mehr Niederschlag führen sollte. Rekordregen, wie er in diesem Jahr in Griechenland, in Libyen und zuletzt Anfang November in der Toskana vorkam, weisen in diese Richtung. Doch zusätzlich kommt die Zirkulation der Luftmassen in der Atmosphäre ins Spiel – und deren Kräfte können insgesamt zu Wassermangel führen.

Flutkatastrophe von Derna | Am 18. September 2023 sorgte das mediterrane Sturmtief »Daniel« für extreme Regenfälle an der libyschen Küste, in deren Folge mehrere Dämme im Hinterland der Stadt Derna brachen. Die Sturzfluten zerstörten Teile der Stadt und kosteten tausende Menschen das Leben.

Führt der Klimawandel zu mehr oder weniger Trockenheit?

»Das große Risiko für den Mittelmeerraum ist, dass sich die Klimaphänomene, die aus der Sahara eine Wüste machen, nach Norden verschieben«, sagt Di Capua. Es geht dabei um die Wärme, die in den tropischen Breiten durch die Dauerbestrahlung mit Sonnenlicht entsteht. Die warmen Luftmassen steigen auf – und kommen dann unter anderem weiter nördlich wieder herunter, um in Bodennähe wieder Richtung Äquator zu strömen. Als »Hadley-Zelle« ist der Effekt schon lange bekannt. Klimamodelle zeigen, dass der Rand dieses Zirkulationssystems immer weiter nach Norden rückt. »Dies führt zur Gefahr von Wüstenbildung oder Dürren, zu einer geringeren Verfügbarkeit von Wasser, besonders im südlichen Mittelmeerraum«, sagt sie.

Ein zweiter Effekt kommt hinzu: Das Mittelmeer steht über die Luftzirkulation auch in Verbindung mit dem indischen Monsunsystem. Das zum Monsun gehörige Tiefdruckgebiet hat im Sommer Ausläufer bis ins östliche Mittelmeer, während im westlichen Mittelmeerraum eher Hochdruck herrscht. »Indien und das östliche Mittelmeer sind über so genannte Rossby-Wellen miteinander verbunden«, sagt Di Capua. Wenn sich der Monsun in Indien verstärkt, wird mehr Wärme produziert – und kann dann im Mittelmeerraum die Austrocknung verstärken. »Wir nennen das eine Televerbindung im Klimasystem«, sagt Di Capua, »und es kann für den östlichen Mittelmeerraum ein höheres Risiko für Wassermangel und Wüstenbildung bedeuten.«

Das macht deutlich, wie entscheidend die Klimapolitik von heute ist. Werden die Ziele des Pariser Klimavertrags erreicht, wird der Niederschlag über das gesamte Mittelmeerbecken nur moderat um vier Prozent zurückgehen, bei einem fortgesetzt hohen CO2-Ausstoß dagegen droht ein Minus von bis zu 22 Prozent, was auch die Existenz vieler landwirtschaftlicher Anbauformen gefährden kann.

Der Meeresspiegel steigt schneller als je zuvor

Vor zehn Millionen Jahren vollzog sich der Klimawandel im Mittelmeerraum langsam und in einer riesigen menschenleeren Ebene. Der Klimawandel von heute passiert dagegen schnell. »Die Mittelmeerregion hat sich bereits jetzt um jene 1,5 Grad Celsius erwärmt, die weltweit als Schwelle zu gefährlichen Veränderungen gilt«, sagt der Geograf Wolfgang Cramer, »und der Meeresspiegel steigt mit vier Millimetern pro Jahr doppelt so schnell wie noch vor 20 Jahren, mit weiter zunehmender Geschwindigkeit.«

Der aus Deutschland stammende Wissenschaftler leitet in Aix-en-Provence eine Forschungsabteilung am Institut Méditerranéen de Biodiversité et d’Ecologie marine et continentale (IMBE). Er ist einer der zwei Hauptautoren des Kapitels zum Mittelmeer im jüngsten IPCC-Report. Zudem ist er Hauptautor der ersten umfassenden wissenschaftlichen Analyse von Klima- und Umweltveränderungen im Mittelmeerbecken, die ein Konsortium von Wissenschaftlern und Institutionen namens MedECC 2020 publiziert hat. Im Mai 2022 hat der französische Präsident Emmanuel Macron ihn zu Beratungen über die Zukunft des Klimas in den Élysée eingeladen.

Cramer strahlt eine große Ruhe aus und spricht mit bedächtiger Stimme – aber was er sagt, könnte kaum alarmierender sein. Denn nur bis zu einem Plus von 1,5 Grad im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung liegt ihm zufolge die Erwärmung innerhalb der natürlichen Schwankungen, die aus der jüngeren Erdgeschichte für den Mittelmeerraum bekannt sind. »Jede weitere Steigerung, schon um 0,1 Grad, fällt aus der historischen Variabilität heraus«, sagt Cramer.

Wirtschaftliche Ungleichheit als Risikofaktor im Klimawandel

Der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels könnte dann besonders gefährlich werden. »Weil es keine Gezeiten gibt, haben die Menschen seit Jahrhunderten haarscharf an den mittleren Wasserstand gebaut«, sagt Cramer. Schon ein Anstieg um durchschnittlich 30 oder 50 Zentimeter kann da den Unterschied zwischen trockenen Füßen und überschwemmten Städten ausmachen. Was Menschen an Städten, Kulturerbe und Infrastruktur küstennah gebaut hätten, sei »alles genau auf den jetzigen Wasserstand eingestellt und entsprechend gefährdet«.

Die ökonomische Ungleichheit rund um das Mittelmeer beunruhigt Cramer besonders. »Ich mache mir große Sorgen, dass es ärmere Länder am Mittelmeer viel härter erwischen wird als reichere Länder, die das Geld haben, sich besser zu schützen«, sagt er. Manche der Regionen sind sehr reich, wie die Gegend um Nizza, manche bitterarm, wie rund um die libysche Stadt Derna, die im September 2023 Opfer einer gewaltigen Flutwelle nach einem Starkregen wurde.

Politische und militärische Spannungen prägen den Süden der Region – vor allem zwischen Israel und Arabern, aber auch zwischen der Türkei und Griechenland oder zwischen den libyschen Bürgerkriegsfraktionen. Der Nordrand des Mittelmeers ist seit Jahren Ziel einer der größten Wanderungsbewegungen in der Geschichte der Menschheit, bei der hunderttausende versuchen, von Afrika in ein Europa zu kommen, dessen Regierungen ihre Länder zunehmend abschotten wollen. Zu dieser Gemengelage kommen nun häufigere Hitzewellen, Unwetter sowie massive Schäden an Ökosystemen an Land und im Meer hinzu.

Auch am Mittelmeer drohen Inseln zu verschwinden

Als Geograf untersucht Cramer deshalb die Sozialökologie der Region. In Venedig könne man es sich noch leisten, eine viele Milliarden Euro teure Wassersperre zu bauen, in der Hoffnung, dass sie halte. »Aber es gibt eben auch sehr viele arme Menschen«, sagt Cramer, »wie die Kleinbauern im Nildelta, die keine Rückzugsmöglichkeiten haben und dem Meeresspiegelanstieg praktisch vollkommen schutzlos ausgeliefert sind.« Als weiteres Beispiel nennt der Forscher die Kerkenna-Inseln in Tunesien, die zu weiten Teilen nur einen Meter über dem Meeresspiegel liegen und deshalb davon bedroht seien, ganz zu verschwinden.

Als mindestens genauso bedrohlich wie den Anstieg des Meeresspiegels erachtet Cramer den Wassermangel, der mit längeren und intensiveren Trockenperioden einhergehen wird: »Das hat einen direkten Einfluss auf die Nahrungsmittelproduktion, auf Gartenbau, Weinproduktion, Olivenanbau – alles wird ziemlich schnell an Grenzen stoßen.«

»Wer sich keine Klimaanlage leisten kann, ist inmitten einer Hitzewelle noch zusätzlicher Hitze durch seine reicheren Mitbürger ausgesetzt«
Wolfgang Cramer, Geograf

Aber auch innerhalb der reicheren Staaten prallen die Gegensätze hart aufeinander. Im vergangenen Hitzesommer bekam Cramer das in den Dörfern und Städtchen Südfrankreichs hautnah zu spüren. Denn zur Glut der Sonne kam dort noch eine weitere Wärmequelle hinzu: »Wer es sich leisten kann, lässt seine Klimaanlage auf Hochtouren laufen«, erinnert sich Cramer. Die Welt draußen mag sich wie ein Backofen anfühlen, drinnen in den Wohnungen ist es dann angenehm kühl. Doch die Anlagen verbrauchen viel Energie und sie erzeugen, ganz wie ein Kühlschrank, Abwärme. »Diese Abwärme der Wohlhabenden staut sich in den engen Gassen der Dörfer und Städte«, erzählt Cramer, »und wer sich keine Klimaanlage leisten kann, ist inmitten einer Hitzewelle noch zusätzlicher Hitze durch seine reicheren Mitbürger ausgesetzt.«

Hitzewellen an Land und im Meer, zunehmender Wassermangel, häufigere Unwetter, Massensterben im Meer, eskalierende ökonomische Ungleichheiten – die Zukunftsaussichten des mediterranen Klima-Hotspots können Angst machen. Umso wichtiger finden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es, schon heute alles zu tun, um das Schlimmste abzuwenden und um für die unvermeidlichen Probleme nach Lösungen zu suchen. »Es bedarf deutlich stärkerer Anstrengungen, um die Anpassung an die unvermeidlichen Veränderungen zu leisten, die Treiber der Veränderungen abzumildern und die Resilienz zu erhöhen«, heißt es im MedECC-Report von 2020.

Seegraswiesen als Kohlenstoffspeicher im Klimawandel

Wichtigste Lösung und absolute Priorität ist es, den globalen Ausstoß an Treibhausgasen rasch so zu senken, dass die Erderwärmung möglichst unter 1,5 Grad Celsius bleibt und in jedem Fall unter 2 Grad. Es macht einen gigantischen Unterschied aus, ob nur noch so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt, wie der IPCC das für verantwortbar hält – oder mehr. Zwischen den verschiedenen Szenarien des Weltklimarats liegen gerade im extrem klimasensiblen Mittelmeerraum regelrecht Welten. Der Mittelmeerraum hat ein großes ungenutztes Potenzial, vor allem Fotovoltaik und Solarthermie viel stärker zu nutzen als bisher. Das hilft, fossile Energieträger zu ersetzen und ermöglicht das umweltfreundliche Kühlen von Räumen. Zudem sind Seegraswiesen wichtige Kohlenstoffspeicher, ihr Erhalt und ihre Renaturierung sind daher sehr wichtig.

Wichtig ist es auch, marine Lebensräume widerstandsfähiger zu machen, vor allem durch das Einrichten von Schutzgebieten, in denen sich Arten abgeschirmt vor menschlichen Eingriffen besser vermehren können. Es gilt, andere Stressfaktoren aus der Umwelt zu vermindern, etwa die Verschmutzung des Meeres mit Plastik oder Chemikalien und die Fischerei nachhaltig zu machen.

Warum Klimaanpassung so wichtig ist

Um die Landwirtschaft auf den Klimawandel vorzubereiten, sollten auf den landwirtschaftlichen Flächen rund um das Mittelmeer rechtzeitig Bäume gepflanzt werden, die in Zukunft Schatten spenden und zu einer Abkühlung beitragen können. Ähnliches gilt für Städte: Sie müssen rasch begrünt werden, wie dies etwa in Barcelona geschieht, um dafür zu sorgen, dass es gerade für ärmere Menschen kühle, schattige Orte gibt.

Für die Wissenschaft rund um das Mittelmeer braucht es neue Strategien: Steigende und dauerhafte Budgets sind nötig, um die Erforschung von Klima und Natur auszubauen. Dafür sind flächendeckende und langfristig angelegte Monitoring-Systeme jenseits der üblichen dreijährigen Projektlaufzeiten nötig. In der Wirtschaftspolitik ist es für die reicheren Länder im Norden des Mittelmeerraums in ihrem eigenen Interesse, die ökonomische Entwicklung der südlichen Länder durch Investitionen und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Die anhaltend große Ungleichheit wird in Kombination mit dem Klimawandel ansonsten die Migration noch verstärken und kann zu Unruhen und Konflikten führen.

All das sind gigantische Herausforderungen – aber es geht um sehr viel. Die menschengemachte Erderwärmung hat das Potenzial, den Mittelmeerraum bis zur Unkenntlichkeit zu verändern und das Leben von hunderten Millionen Menschen auf den Kopf zu stellen. Im Meer könnten die Effekte für dessen Bewohner ebenfalls katastrophal sein und die für Menschen wichtige Nahrungsquelle stark beschädigen. Der spanische Meeresbiologe Joaquim Garrabou hält das, was im Mittelmeerraum passieren wird, für einen Vorboten globaler Veränderungen: »Das Mittelmeer ist ein Weltmeer im kleinen Maßstab – was dort passiert, wird nach einiger Zeit im gesamten Ozean passieren.«

Das Projekt »Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren« wird gefördert von Okeanos-Stiftung für das Meer.

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