Direkt zum Inhalt

Pfadintegral: Die Realität als Summe aller Eventualitäten

Die Methode des Pfadintegrals taucht in tausenden Fachartikeln der Quanten- und Teilchenphysik auf. Dennoch handelt es sich eher um eine Idee als um ein mathematisches Konzept. Teilweise ist immer noch offen, wie man es benutzt und was es bedeutet.
Interferenz
Glaubt man an die Quantenphysik, dann spielen alle Möglichkeiten für unsere Realität eine Rolle – auch wenn sich am Ende nur eine durchsetzt.

Die mächtigste Formel der Physik beginnt mit einem schlanken S, dem Symbol für ein Integral. Danach folgt ein zweites S, das für eine Größe steht, die als Wirkung bezeichnet wird. Zusammen bilden diese beiden S eine Gleichung, die wohl der beste bisher bekannte Weg ist, die Zukunft vorherzusagen.

Die Formel ist als Feynman-Pfadintegral bekannt und beschreibt das Verhalten jedes Quantensystems: eines Elektrons, eines Lichtstrahls oder sogar eines Schwarzen Lochs. Das Pfadintegral hat so viele Erfolge zu verbuchen, dass viele Fachleute glauben, es spiegele die Realität wider. »Es zeigt, wie die Welt wirklich ist«, sagt die Physikerin Renate Loll von der Radboud-Universität in den Niederlanden.

Obwohl Pfadintegrale tausende Seiten verschiedenster Publikationen zieren, handelt es sich dabei eher um eine Idee als um ein streng mathematisches Rezept. Die Formel legt nahe, dass sich unsere Realität aus der Summe aller vorstellbaren Möglichkeiten zusammensetzt. Aber sie erklärt nicht, wie dieses Integral genau zu Stande kommt. Daher haben Fachleute Jahrzehnte damit verbracht, ein ganzes Arsenal von Näherungsverfahren zu entwickeln, um Pfadintegrale für verschiedene Quantensysteme konkret zu berechnen.

Die Näherungen funktionieren so gut, dass Physikerinnen wie Loll nun das ultimative Pfadintegral anstreben: eines, das alle denkbaren Formen von Raum und Zeit miteinander verbindet und als Ergebnis unser Universum hervorbringt – und damit eine quantenphysikalische Version der Gravitation schafft. Doch welche Möglichkeiten genau soll das Pfadintegral umfassen?

Alle Wege führen zu einem Ergebnis

Die Quantenmechanik kam so richtig in Gang, als Erwin Schrödinger im Jahr 1926 die inzwischen nach ihm benannte Gleichung aufstellte. Diese beschreibt, wie sich die wellenförmigen Zustände von Teilchen von einem Moment zum anderen entwickeln. Im folgenden Jahrzehnt eröffnete Paul Dirac eine andere Sichtweise auf die Quantenwelt. Er ging von der Vorstellung aus, dass alle Objekte den Weg der »geringsten Wirkung« nehmen, um von A nach B zu gelangen – den Weg, der grob gesagt am wenigsten Zeit und Energie erfordert. Richard Feynman stolperte später über Diracs Arbeit und entwickelte die Idee weiter, indem er 1948 das Pfadintegral vorstellte.

Das Herzstück von Feynmans Idee lässt sich am besten durch eines der Schlüsselexperimente der Quantenmechanik verstehen, das Doppelspaltexperiment. In diesem Versuch schießt man nacheinander einzelne Teilchen auf eine Barriere, die mit zwei Schlitzen versehen ist, und bestimmt ihren Aufenthaltsort auf einem dahinter befindlichen Schirm. Würde man das Experiment mit Fußbällen durchführen, würden sich diese hinter jedem der zwei Spalte anhäufen. Doch mit quantenmechanischen Teilchen werden hingegen mehrere sich wiederholende Streifen auf dem Schirm sichtbar. Das Experiment legt nahe, dass sich die Teilchen wie Wellen verhalten. Sobald deren Fronten beide Schlitze passieren, überlagern sie sich und erzeugen ein Interferenzmuster auf dem Schirm. Ein Teilchen scheint also gewissermaßen beide möglichen Wege durch die Barriere zu beschreiten – auch wenn es am Ende nur an einem Ort auf dem Schirm landet.

Doppelspalt
Doppelspalt | Wellen, die durch zwei räumlich getrennte Schlitze gelenkt werden, erzeugen Interferenzmuster auf einem Schirm.

In Feynmans Anschauung verhalten sich Teilchen auch im leeren Raum so, wenn es keine Barrieren oder Schlitze gibt. Zum Verständnis kann man sich vorstellen, beim Doppelspaltexperiment einen dritten Schlitz in die Barriere zu schneiden. Das Interferenzmuster auf dem Schirm wird sich dadurch verschieben und den dritten möglichen Weg widerspiegeln. Nun kann man weitere Schlitze hinzufügen, bis die Barriere schließlich aus nichts anderem mehr besteht. Das Interferenzmuster verändert sich zwar nach und nach, bleibt aber bestehen. Ein Teilchen, das sich durch den leeren Raum bewegt, nimmt insofern in gewissem Sinn alle denkbaren Wege durch sämtliche Schlitze bis zum entfernten Detektor. Zählt man sie richtig zusammen, ergeben all diese Möglichkeiten das, was man erwarten würde, wenn es keine Barriere gäbe: einen einzigen Auftreffpunkt auf dem fernen Schirm.

Dies ist eine radikale Sichtweise auf das Verhalten quantenmechanischer Objekte. »Ich halte sie für real«, sagt der Physiker Richard MacKenzie von der Université de Montréal. Aber wie lassen sich unendlich viele gewundene Pfade zu einer einzigen Bahnkurve addieren – dem Weg, den ein Teilchen am Ende wirklich beschreitet?

Feynmans Methode besteht darin, zu jedem möglichen Weg die dazugehörige Wirkung zu berechnen (die Zeit und Energie, die benötigt werden, um ihn zu beschreiten) und daraus eine so genannte Amplitude zu bestimmen, die angibt, wie wahrscheinlich ein Teilchen diesen Pfad zurücklegt. Dann addiert man alle einzelnen Amplituden, um die Gesamtamplitude für ein Teilchen zu erhalten, das von A nach B geht – das ist das Integral über alle möglichen Pfade.

Auf den ersten Blick wirken geschwungene Pfade ebenso wahrscheinlich wie gerade Wege, da die Beträge der Amplituden gleich sind. Bei den zugehörigen Amplituden handelt es sich jedoch um komplexe Zahlen. Während reelle Zahlen Punkten in einer Ebene entsprechen, lassen sich komplexe Zahlen wie Pfeile darstellen, zweidimensionale Vektoren. Je nach Pfad deuten die Pfeile in unterschiedliche Richtungen. Und zwei Pfeile, die voneinander wegzeigen, ergeben in der Summe null.

Wie sich herausstellt, verstärken sich die Amplituden von mehr oder weniger geraden Pfaden, weil sie alle im Wesentlichen in dieselbe Richtung zeigen. Die Amplituden der gewundenen Pfade zeigen jedoch in allerlei Richtungen, so dass sie sich gegenseitig aufheben. Für ein Teilchen, das sich im leeren Raum bewegt, bleibt also nur der geradlinige Weg übrig. So kommt es, dass aus unendlich vielen quantenmechanischen Optionen der klassische Weg der geringsten Wirkung übrig bleibt.

Feynman konnte zeigen, dass das Pfadintegral äquivalent zur Schrödingergleichung ist. Egal für welche Methode man sich entscheidet, am Ende der Berechnung kommt dasselbe Ergebnis heraus. Feynmans Methode ist jedoch etwas intuitiver, um mit der Quantenwelt umzugehen: Man fasst alle Optionen zusammen.

Die Summe aller Möglichkeiten

Kurz nach der Entwicklung der Quantenmechanik gingen Physikerinnen und Physiker noch einen Schritt weiter. Sie verstanden Teilchen bald als Anregungen in Quantenfeldern, die unsere gesamte Raumzeit ausfüllen. Während sich ein Teilchen auf verschiedenen Wegen von einem Ort zum anderen bewegen kann, werden die Quantenfelder von Wellen und Kräuselungen durchlaufen.

Glücklicherweise funktioniert das Pfadintegral auch für Quantenfelder. »Es ist offensichtlich, was zu tun ist«, erklärt der Teilchenphysiker Gerald Dunne von der University of Connecticut. »Anstatt alle Pfade zu addieren, summiert man über alle Konfigurationen der Felder.« Man identifiziert die Anfangs- und Endkonfiguration des zu untersuchenden Felds und betrachtet dann jede mögliche Geschichte, die sie verbindet.

»Das Pfadintegral ist absolut fundamental für die Quantenphysik«Gerald Dunne, Physiker

Feynman stützte sich auf das Pfadintegral, um 1949 eine Quantentheorie des elektromagnetischen Felds zu entwickeln. Fachleute fanden anschließend heraus, wie man Wirkungen und Amplituden für Felder berechnen kann, die andere Kräfte und Teilchen wie Quarks und Gluonen enthalten. Wenn heute das Ergebnis einer Kollision am Large Hadron Collider in Genf vorhergesagt wird, liegt den meisten Berechnungen das Pfadintegral zu Grunde. »Das Pfadintegral ist absolut fundamental für die Quantenphysik«, urteilt Dunne.

Trotz seines Siegeszugs in der Physik bereitet das Pfadintegral Mathematikerinnen und Mathematikern ein mulmiges Gefühl. Selbst ein einfaches Teilchen, das durch den Raum flitzt, kann unendlich viele Pfade beschreiten. Bei Feldern ist es noch schlimmer: Ihre Werte können sich auf unendlich viele Arten und an unendlich vielen Stellen ändern. Ausgeklügelte Techniken sollen dabei helfen, mit den vielen Unendlichkeiten zurechtzukommen. Aber manche argumentieren, dass das Integral nie dafür konzipiert wurde, in einer solchen Umgebung zu funktionieren. »Das ist wie schwarze Magie«, sagt der theoretische Physiker Yen Chin Ong von der Universität Yangzhou in China. »Mathematiker arbeiten nicht gerne mit Dingen, bei denen nicht klar ist, was vor sich geht.«

Dennoch führen die Berechnungen mit Pfadintegralen zu richtigen Ergebnissen. Es ist sogar gelungen, auf diese Weise die starke Kernkraft zu untersuchen: Die komplexe Wechselwirkung, die Quarks zu Protonen und Neutronen bindet und letztlich die Atomkerne zusammenhält. Dazu haben die Fachleute zwei Tricks verwendet. Zunächst haben sie für die Zeit eine imaginäre Zahl eingesetzt, wodurch die Amplituden nur noch reelle Werte annehmen. Und dann näherten sie das unendliche Raum-Zeit-Kontinuum durch ein endliches Gitter an. In dieser vereinfachten Form lässt sich das Pfadintegral verwenden, um die Eigenschaften von Protonen und anderen Teilchen zu berechnen, die der starken Kraft unterliegen. Die so erhaltenen Ergebnisse stimmen mit den experimentellen Ergebnissen überein. »Für jemanden wie mich ist das der Beweis, dass die Sache funktioniert«, sagt Dunne.

Was zählt man eigentlich zusammen?

Das größte Rätsel der Grundlagenphysik liegt jedoch außerhalb der experimentellen Reichweite. Dabei geht es um die lange ersehnte Vereinigung der Schwerkraft mit der Quantenmechanik. 1915 stellte Albert Einstein die Gravitation als Ergebnis von Krümmungen im Gewebe der Raumzeit dar. Seine Theorie zeigte, dass sich die Länge eines Maßstabs und das Ticken einer Uhr von Ort zu Ort ändern – die Raumzeit ist also ein formbares Feld. Die Felder der übrigen drei Grundkräfte (starke und schwache Kernkraft sowie die elektromagnetische Kraft) haben eine Quantennatur. Deshalb gehen die meisten Physiker davon aus, das gelte ebenso für die Raumzeit und man könne auch in diesem Fall ein Pfadintegral formulieren.

Hierbei stellt sich jedoch die Frage, welche Feldkonfigurationen berücksichtigt werden sollten. Denn es ist denkbar, dass sich die Raumzeit aufspaltet und einzelne Orte voneinander trennt. Oder sie könnte wie ein Schweizer Käse von Wurmlöchern durchdrungen sein, die unterschiedliche Orte miteinander verbinden. Einsteins Gleichungen lassen solche exotischen Formen zu. Allerdings verbietet die Theorie Übergänge zwischen einigen dieser Konfigurationen: Die Übergänge würden Risse oder Verschmelzungen erfordern, welche die Kausalität verletzen und Zeitreiseparadoxien aufwerfen. Wenn man nun also ein Pfadintegral der Gravitation aufstellt, sollte man dann die Schweizer-Käse-Raumzeit mit einbeziehen oder nicht?

»Das euklidische Pfadintegral ist völlig unphysikalisch«Renate Loll, Physikerin

In dieser Hinsicht ist die Physik-Gemeinschaft gespalten. Die eine Seite vermutet, dass alle erlaubten Möglichkeiten dazugehören. Stephen Hawking hatte sich zum Beispiel für ein Pfadintegral eingesetzt, das Risse, Wurmlöcher und andere wilde Veränderungen zwischen den Formen des Raums zulässt. Um die Mathematik zu vereinfachen, betrachtete auch er die Zeit als imaginäre Größe. Dadurch wird sie im Prinzip zu einer weiteren Dimension des Raums. In einer solchen zeitlosen Welt gibt es keine Vorstellung von Kausalität, die Wurmlöcher oder zerrissene Universen stören können. Hawking nutzte dieses zeitlose, »euklidische« Pfadintegral für seine Arbeiten zum Urknall und zu Schwarzen Löchern.

»Das scheint die umfassendere Sichtweise zu sein«, sagt der theoretische Physiker Simon Ross von der Durham University. »Das Pfadintegral der Gravitation, das alle Topologien einschließt, hat einige schöne Eigenschaften, die wir noch nicht ganz verstehen.« Doch die universellere Perspektive hat ihren Preis. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln, dass ein tragendes Element der Realität wie die Zeit wegfällt. »Das euklidische Pfadintegral ist völlig unphysikalisch«, warnt Renate Loll.

Sie gehört dem anderen Lager an, das die reelle Zeit im Pfadintegral behalten will. Damit stelle man sicher, die Wirkung stets auf die Ursache folgen zu lassen und nicht umgekehrt. Nachdem Loll jahrelang an der Entwicklung von Näherungsverfahren für dieses viel kompliziertere Pfadintegral gearbeitet hatte, fand sie 2004 endlich Hinweise darauf, dass der Ansatz funktionieren kann. Zusammen mit ihren Kollegen hat sie dazu eine Reihe von gewöhnlichen Formen der Raumzeit addiert und ein Ergebnis erhalten, das unserem Universum ähnelt. Damit legten das Team nahe, die Summe der beschränkten Raumzeit-Möglichkeiten könnte durchaus zu unserem Kosmos führen.

Andere Fachleute entwickeln hingegen das euklidische Pfadintegral für alle Raumzeit-Versionen weiter. 2019 haben einige von ihnen das vollständige Integral (und nicht nur eine Näherung) für zweidimensionale Universen definiert – allerdings mit extrem komplexen mathematischen Methoden. Solche Arbeiten verstärken den Eindruck, dass das Pfadintegral noch viel unausgeschöpftes Potenzial besitzt, das nur darauf wartet, genutzt zu werden. »Vielleicht müssen wir Pfadintegrale dafür erst richtig verstehen«, sagt Ong, »aber ich denke, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir so weit sind.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.