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Artensterben, Ökosysteme, Klima: Eine Krise kommt selten allein

Klima, Ökosysteme, Wasser: Zukünftige Krisen könnten sich gegenseitig verstärken. In einer solchen Polykrise wären die Veränderungen zu drastisch, als dass man sich noch anpassen könnte.
Rauch von Waldbränden färbt den Himmel über San Francisco orange.
Unerwartete Fernwirkungen: Waldbrände verschlechtern die Luftqualität noch hunderte Kilometer entfernt. Auf diese Weise können Krisen sich unerwartet gegenseitig verstärken.

Jedes Jahr wird es ein bisschen wärmer. Gletscher verlieren ein bisschen mehr Eis, Wälder trocknen ein bisschen mehr aus, der Meeresspiegel steigt weiter um ein paar Millimeter. So stellen sich viele Menschen den Klimawandel vor.

Auch in den gängigen wissenschaftlichen Prognosen für das Weltklima sind hauptsächlich Linien zu sehen, die ohne große Ausschläge konstant mit dem CO2-Gehalt in der Atmosphäre ansteigen. Manche Politiker und Wirtschaftslenker verleitet das zu der Annahme, dass es die menschliche Zivilisation doch schaffen müsste, sich an eine solche schrittweise Veränderung ebenso schrittweise anzupassen.

Das ist doppelt falsch: Einerseits wird nach derzeitigem Stand die globale Durchschnittstemperatur bis 2100 um drei Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit steigen. Das ist weit außerhalb der gewohnten Lebensbedingungen und würde die Wasser- und Nahrungsversorgung von Milliarden Menschen ernsthaft gefährden.

Andererseits warnt eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern davor, dass es nicht bei solchen graduellen Veränderungen bleiben wird. Eine »Polykrise« droht, bei der mehrere lebenswichtige Funktionen des Erdsystems gleichzeitig versagen. Zum Beispiel, wenn die Temperatur abrupt nach oben schießt oder wenn Ökosysteme, die für globale Ernten wichtig sind, in kurzer Zeit und dann dauerhaft ihren Dienst versagen. In einer solchen Polykrise wirken mehrere menschengemachte Umweltveränderungen fatal zusammen, also neben dem Klima etwa die massive Überdüngung, die zu Todeszonen im Meer führt, und der dramatische Verlust der Artenvielfalt. Die einzelnen Probleme addieren sich nicht nur, sondern verstärken sich gegenseitig.

Ein ganz anderer Planet

Eine solche klimatisch-ökologische Eskalation könnte menschliche Gesellschaften ins Chaos stürzen, etwa wenn in Asien im Sommer mangels Gletscherwasser hunderte Millionen Menschen Durst leiden und Hitzewellen Städte nahezu unbewohnbar machen. Sie könnte auch neue Konflikte heraufbeschwören, wenn wichtige Grundnahrungsmittel knapp werden oder wenn Küstenbewohner ins Binnenland und in andere Weltregionen fliehen müssen.

Der Klimaforscher Nico Wunderling vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung warnt vor einer drohenden »Kaskade von Kipppunkten«. An deren Ende könnte ein Planet stehen, der »bis zur Unkenntlichkeit verändert ist«, wie der Klimageologe Gerald Haug vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz befürchtet. Ein Zeitreisender, der ins Jahr 2100 geschickt wird, würde demnach nach seiner Rückkehr nicht nur von einer viel wärmeren Welt berichten, die unserer aber noch ähnelt. Er würde vielmehr eine Szenerie schildern, die eher nach einem fremden Planeten klingt.

Vor 16 Jahren lenkten Forscher aus Deutschland, USA und Großbritannien erstmals prominent die Aufmerksamkeit auf so genannte »Kippelemente« im Erdsystem. Das sind Regionen oder Prozesse, die besonders neuralgisch auf Veränderungen reagieren, und das nicht linear, sondern extrem – und dauerhaft. Als Beispiele nannte das Team um Timothy Lenton, der heute an der University of Exeter forscht, damals die Eisschilde der Arktis und der Antarktis, den Amazonas-Regenwald und die Atlantische Umwälzzirkulation im Meer, zu der auch der Golfstrom gehört.

Was steckt hinter diesen Warnungen?

Schon eine moderate Erwärmung könnte demnach an den Polen die dicken Eispanzer unwiederbringlich verschwinden lassen. Dann nämlich, wenn nicht mehr genug Meereis da ist, um die Gletscher davon abzuhalten, ins Meer zu rutschen, und wenn in der Westantarktis weite Gebiete, deren harter Untergrund unter dem Meeresspiegel liegt, durch immer wärmeres Wasser von unten abgeschmolzen werden. Ähnlich in der Arktis: Je stärker Gletscher schrumpfen, desto tiefer liegen sie und desto wärmer ist die Luft, der sie ausgesetzt sind – ein sich selbst verstärkender Prozess.

Ein weiterer von der Arbeitsgruppe beschriebener Kipppunkt ist der Amazonas-Regenwald. Der könnte von innen austrocknen und sich in eine Savanne verwandeln. »Die Erdgeschichte liefert Belege für nichtlineare Zustandswechsel; aber vom Menschen verursachte Veränderungen laufen in der Regel schneller ab«, schrieben die Autoren in der Fachzeitschrift »PNAS« und warnten: »Die Gesellschaft kann durch Prognosen eines nur graduellen globalen Wandels in ein falsches Gefühl der Sicherheit eingelullt werden.« In der Erdgeschichte gelten die Abkühlung am Übergang vom Eozän zum Oligozän vor 34 Millionen Jahren und mehrere Phasen schneller Erwärmung während der letzten Eiszeit als klassische Beispiele dafür, dass unser Planet zu abrupten extremen Klimaveränderungen grundsätzlich in der Lage ist.

Bei den Kippelementen von heute gibt es große Unterschiede, ab welcher Temperaturerhöhung der kritische Punkt erreicht ist und wie schnell die Veränderungen ablaufen. Am schnellsten könnten Amazonas und Korallenriffe kollabieren. Das weitgehende Abschmelzen der Polkappen würde sich dagegen über Jahrhunderte erstrecken. Doch eines ist klar: Einmal in Gang gekommen, gibt es kaum noch ein Halten. Künftige Erdbewohner müssten mit den dramatischen Veränderungen, die ihre Vorfahren in Gang gesetzt haben, klarkommen – ob sie das wollen oder nicht.

Kipppunkte und Dominoeffekte

Anfang Dezember 2023 unterzog ein Team von 200 Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus 26 Ländern anlässlich der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai diese Kippelemente einer umfassenden Überprüfung. Manche der frühen Szenarien wurden dabei wieder einkassiert. So gilt es auf der Grundlage neuerer Messungen und Modellierungen inzwischen nicht mehr als wahrscheinlich, dass das zyklische El-Niño-Wettersystem im Pazifik komplett aus den Fugen geraten könnte. Doch in dem Report lenken die Autorinnen und Autoren die Aufmerksamkeit auf die Gefahr der Polykrise: Mehrere Kippelemente könnten sich gegenseitig beeinflussen – und wiederum verstärken. »Es erscheint plausibel, dass Wechselwirkungen zwischen Klima-Kippsystemen das Erdsystem zusätzlich destabilisieren können«, schreiben die Hauptautoren Nico Wunderling vom PIK und Anna von der Heydt von der Universität Utrecht.

Das ist zum einen bei neuralgischen Punkten denkbar, die in denselben Weltregionen liegen, wie der Permafrostboden in der Arktis und boreale Wälder. Das Auftauen des Eisbodens könnte das Absterben des Nadelwalds verstärken, so die Befürchtung, die durchaus kontrovers diskutiert wird. Manche Wissenschaftler halten sowohl den Permafrost als auch die borealen Wälder jeweils für sich genommen für robuster als in den Kipp-Analysen angenommen.

»Klima-Dominoeffekte« könnten auch über sehr weite Entfernungen hinweg auftreten. Die einzelnen Kippelemente seien »keine isolierten Systeme, sondern über den ganzen Globus hinweg miteinander verbunden«, betonen Wunderling und von der Heydt. »Tele-Verbindungen« heißen in der Klimaforschung Wechselwirkungen zwischen weit voneinander entfernten klimatischen Phänomenen. So hat zum Beispiel der indische Monsunregen Einfluss auf das Wetter im Mittelmeerraum oder die Stärke von El Niño im Pazifik Einfluss auf Korallenriffe in anderen Meeren.

Auf dem Weg in die Heißzeit?

Die wichtigste Rolle in einer möglichen »Polykrise« hätte den Analysen zufolge die Atlantische Umwälzpumpe. Über die Wassermassen, die sie transportiert, sind Antarktis und Arktis miteinander verbunden. Wärme aus den Tropen gelangt mit dem Golfstrom in Richtung Grönland und Europa. Vom Nordmeer aus tritt das abgekühlte Wasser dann in großer Tiefe über Jahrhunderte hinweg die Rückreise gen Süden an. Als die Umwälzpumpe vor knapp 15 000 Jahren gegen Ende der letzten Eiszeit wieder ins Laufen kam, gab es in der Arktis einen regelrechten Temperatursprung.

Würde sie heute wieder erlahmen, wofür es Anzeichen gibt, wären die Folgen komplex. Während das im Norden eine Abkühlung bedeuten könnte, würde mehr Wärme im Süden bleiben und die Tropen und angrenzenden Wüstengebiete noch heißer machen, als sie ohnehin schon geworden sind. Der Indische Monsun würde ebenso beeinflusst wie das Klima im Pazifik. Auch hier sind die Unsicherheiten groß. Umso beunruhigender sind Messungen, denen zufolge der Golfstrom in den vergangenen Jahrzehnten schon um einige Prozent langsamer geworden ist.

Zu den größten Langfrist-Sorgen von Klimafachleuten gehört es, dass die Erde in einen neuen, stabilen Grundzustand gerät. In diesem »Hothouse«-Szenario mit vier bis fünf Grad höherer Durchschnittstemperatur droht sich dann ein neues Gleichgewicht einzustellen – mit für uns lebensfeindlichen Umweltbedingungen, denen nichts mehr entgegenwirkt. Noch ist dies näher an einer Dystopie als an einem wissenschaftlich fundierten Modell; aber allein schon, dass es mit einer geringen Wahrscheinlichkeit so kommen könnte, ist mehr als beunruhigend. Denn mit einem neuen Gleichgewichtszustand könnten selbst die umfassendsten menschlichen Bemühungen, zum Klima des Holozäns zurückzukehren, aussichtslos sein. Und bedroht wäre in jedem Fall das, was die Menschheit existenziell braucht: die Erzeugung von Nahrungsmitteln.

Zwar hat mehr CO2 in der Luft einen düngenden Effekt auf Pflanzen und wärmere Sommer könnten das Wachstum begünstigen. Doch mit steigendem Kohlenstoffgehalt droht der Nährwert der Produkte zu sinken, weil etwa weniger Eiweiße und Fette enthalten sind. Und auch wachsende Vegetationszonen und -zonen reichen nicht aus, wenn Wasser fehlt und Extremtemperaturen den Stoffwechsel von Pflanzen überfordern. Zudem begünstigt die Erwärmung Pflanzenkrankheiten.

Zu viel, zu schnell, zu gleichzeitig

Modellrechnungen und Prognosen dazu, wie gut es im 21. Jahrhundert inmitten von Klimaextremen gelingen wird, die Menschheit zu ernähren, fallen sehr unterschiedlich aus. Der Weltklimarat IPCC gibt aber als Faustformel aus: »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass (…) sich der Klimawandel mit fortschreitender Erwärmung zunehmend nachteilig auf die Pflanzenproduktivität auswirken wird.« Die Welternährung hängt noch von anderen Faktoren ab: Wenn zum Beispiel Transportwege wie der Panamakanal oder wichtige Flüsse in Dürrezeiten trockenfallen, kann dies die Versorgung sehr schnell gefährden. Wenn dann etwa ein Krieg in einem agrarisch wichtigen Land, ausgetrocknete Transportwege dort und Missernten zusammenkommen, ergibt das schnell einen Dominoeffekt hin zu einer Welternährungskrise.

In politischen Prozessen betrachtet man Klimawandel, Welternährung, Artensterben und andere Umweltprobleme meist getrennt voneinander: Es gibt unterschiedliche Konferenzen und unterschiedliche Zirkel von Fachleuten. Allerdings wirken in einer vernetzten Biosphäre alle Veränderungen zusammen. Wissenschaftler sprechen deshalb inzwischen vom Anthropozän, einer neuen, nach dem Einfluss des Menschen benannten Erdepoche. Für dieses neue Kapitel der Erdgeschichte ist es prägend, wie verschiedene Stressfaktoren zusammenwirken: Die Ostsee käme vielleicht mit der Überdüngung aus der industriellen Landwirtschaft klar, aber die Kombination mit einer drastischen Erwärmung könnte ihr den Todesstoß geben. Der Regenwald könnte eventuell gegen die Erwärmung resilient sein, aber nicht, wenn er gleichzeitig von mehreren Seiten für Sojafarmen und Bergwerke zerlöchert wird. Pflanzenzüchter könnten Weizen an höhere Temperaturen erfolgreich anpassen – wenn Felder aber dann im Frühsommer durch rekordbrechende Starkregen überschwemmt werden, nützt das wenig.

Bei so vielen gefährlichen Umbrüchen geht es auch darum, wie »Klimakaskaden« künftige Gesellschaften umkrempeln: Demokratieforscher sehen die Gefahr, dass sehr schnelle und drastische Verschlechterungen der Lebensumstände, die mit chronischen Notständen und einer Rationierung des Konsums einhergehen, Diktaturen begünstigen könnten. Schon jetzt erfüllen Regierungen eine ihrer wichtigsten Aufgaben, den Schutz von Leib und Leben, nicht so, wie es eigentlich nötig wäre, warnt auch Michael Oppenheimer vom Center for Policy Research on Energy and the Environment an der Princeton University. Das sei »ein weiterer Faktor, der Druck auf die Demokratie ausübt«.

In sechs von neun untersuchten Bereichen hat die Menschheit bereits den »sicheren Betriebsbereich« des Planeten verlassen und so genannte »planetare Grenzen« durchbrochen, also Schwellen, über denen die Zivilisation und Biosphäre in große Gefahr geraten. Das ergab 2023 eine Studie unter Leitung von Katherine Richardson von der Universität Kopenhagen. Sie sagt: »Wir wissen mit Sicherheit, dass die Menschheit unter den Bedingungen, die seit 10 000 Jahren herrschen, gedeihen konnte – wir wissen aber nicht, ob das bei den großen, dramatischen Veränderungen, die in Gang sind, noch geht.« Dafür, dass Umbrüche im Erdsystem nur schrittweise kommen werden und mit ausreichend Zeit für den Menschen, sich anzupassen, spricht so gut wie nichts.

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