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Nachhaltigkeit: Veggie-Boom kann weltweiten Fleischkonsum nicht bremsen

Immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch, um Tiere, Umwelt und Klima zu schützen. Dass der globale Fleischverzehr ansteigt, lässt sich bislang aber nicht aufhalten.
Ein Fußabdruck aus Hackfleisch
Ein Drittel aller Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft könnten eingespart werden, wenn bis zur Mitte des Jahrhunderts die Hälfte der Fleisch- und Milcherzeugnisse durch pflanzliche Alternativen ersetzt würden.

Fleisch oder kein Fleisch essen? Diese Frage ist in Zeiten von globaler Nahrungsmittelknappheit, Klimakrise und Artensterben immer weniger eine reine Privatangelegenheit. Die Futtermittelproduktion beansprucht mit fast 80 Prozent einen enormen Teil der landwirtschaftlichen Flächen weltweit, Monokulturen für Mais oder Soja setzen die Artenvielfalt unter Druck und die in der Massentierhaltung freigesetzten Treibhausgase verschärfen die Klimakrise.

Deshalb sind es längst nicht mehr nur Tierschutzgruppen wie Peta oder der Deutsche Tierschutzbund, die unter Hinweis auf das Leid von Millionen Schweinen, Rindern und Hühnern für eine weniger fleischlastige oder sogar fleischlose Ernährung werben. Auch die Vereinten Nationen, der Weltklimarat und viele Umwelt- und Entwicklungsorganisationen sehen darin einen entscheidenden Schritt, um einige der drängendsten globalen Probleme zu lösen.

Die seit Jahren andauernde Debatte verfehlt ihre Wirkung nicht. Mit einem Pro-Kopf-Verzehr von 52 Kilogramm im vergangenen Jahr haben die Menschen in Deutschland so wenig Fleisch gegessen wie nie zuvor seit Beginn der Erhebung nach der Wiedervereinigung. Der Markt für pflanzenbasierte Ersatzprodukte verzeichnet entsprechend Jahr für Jahr satte Steigerungsraten von zuletzt 6,5 Prozent. Fast acht Millionen Deutsche bezeichnen ihren Ernährungsstil inzwischen selbst als vegetarisch oder vegan. Das sind etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung.

Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Bereich. Der hier zu Lande seit vielen Jahren anhaltende Trend zu pflanzenbasierter Kost ist aber keine deutsche Besonderheit. So weisen Österreich und Finnland mit 12 Prozent sogar einen etwas höheren Anteil an Fleischlos-Essern innerhalb Europas auf. Großbritannien liegt mit einem Anteil von rund zehn Prozent mit Deutschland gleichauf. Spanien, Portugal und Slowenien bilden mit jeweils weniger als 1,5 Prozent die Schlusslichter beim Fleischverzicht.

Weltweit ernähren sich fünf Prozent der Menschen fleischlos

Außerhalb Europas leben in Mexiko (19 Prozent), Australien (12 Prozent) und Israel (13 Prozent) angeblich besonders viele Menschen, die bewusst auf Fleischkonsum verzichten. Selbst im Steak-Land Argentinien bezeichnen sich zwölf Prozent der Bevölkerung als Vegetarierinnen oder Vegetarier. In den USA sind es fünf bis acht und in Russland nur ein Prozent. Die Zahlen beruhen auf Befragungen des Marktforschungsinstituts Ipsos im Jahr 2018 in 28 Ländern. Weltweit ernähren sich demnach rund fünf Prozent der Menschen vegetarisch und drei Prozent vegan. Die Angaben dazu variieren jedoch zwischen verschiedenen Umfragen teils erheblich.

So sehr sich der Anteil von Vegetarierinnen und Vegetariern zwischen einzelnen Ländern auch unterscheidet, so ähnlich sind die Gründe, warum sich Menschen rund um den Globus vom Fleischkonsum abwenden. »Tierwohl, Umwelt- und Klimaschutz und die eigene Gesundheit sind die treibenden Motive hinter dem Trend zu einer fleischfreieren Ernährung«, sagt Beate Gebhardt. Die Lebensmittelexpertin am Lehrstuhl für Agrarmärkte der Universität Hohenheim hat mit Kollegen erforscht, welche Motive Verbraucherinnen und Verbraucher in verschiedenen europäischen Ländern haben, pflanzenbasierte Produkte zu kaufen. Für Menschen in Deutschland spiele neben Umwelt- und Klimaschutz vor allem die oft problematische Tierhaltung eine besonders große Rolle. »Die Tierethik treibt die Deutschen dazu, pflanzenbasierte Lebensmittel zu kaufen und zu konsumieren«, sagt die Wissenschaftlerin. »Von Verbrauchern in Polen wird neben Umweltaspekten als ein besonders wichtiges Motiv der Wunsch angegeben, etwas für die eigene Gesundheit tun zu wollen, und in Dänemark steht die Frage nach dem Geschmack etwas stärker im Vordergrund.«

Auch das Stadt-Land- und das Bildungsgefälle innerhalb einer Gesellschaft seien bedeutsam für die Ernährung, sagt Gebhardt. Während vegetarische Produktalternativen beispielsweise in den polnischen Großstädten starke Zuwachsraten verzeichneten, werde eine vegetarische Ernährung auf dem Land häufig noch negativ bewertet. So hätten ihre Kolleginnen und Kollegen bei ihren Befragungen etwa zu hören bekommen, die Abkehr vom Fleisch zerstöre die katholische Kirche.

Vor allem in den urbanen Zentren gewinnen die Umweltargumente angesichts der immer deutlicher spürbaren Folgen des Klimawandels an Gewicht. Und: Sie werden durch aktuelle wissenschaftliche Studien immer stärker untermauert. So modellierte ein internationales Team von Agrarwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gerade, welche Auswirkungen eine weltweite Ernährungsumstellung auf Klima und Natur hätte. In ihrer im Fachjournal »Nature Communications« erschienenen Studie kommen sie zu dem Ergebnis, dass ein Drittel aller Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft eingespart werden könnten, wenn bis zur Mitte des Jahrhunderts die Hälfte der Fleisch- und Milcherzeugnisse durch pflanzliche Alternativen ersetzt würden. Die Zerstörung natürlicher Wälder könne damit sogar nahezu gestoppt werden, schreiben die Forscherinnen und Forscher um die Agrarökonomin Marta Kozicka vom Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse in Laxenburg bei Wien. Würden die durch den Verzicht auf die Viehzucht frei gewordenen einstigen Waldflächen anschließend naturnah aufgeforstet, vervielfache sich der Nutzen für Klima und Natur sogar. Den Fleischkonsum insgesamt zu reduzieren, sehen die Wissenschaftler als einen Eckpfeiler, um die Ziele der beiden weltweit wichtigsten Umweltabkommen zu erreichen: die des Pariser Klimaabkommens und die des Weltnaturschutzabkommens von Montreal.

Eva Wollenberg, Koautorin der Studie und Nachhaltigkeitsforscherin an der University of Vermont in Burlington, betont in einer Presseaussendung: »Fleischersatz auf Pflanzenbasis ist eine hervorragende Möglichkeit, mehr Ernährungssicherheit und Klimaschutz zu erreichen und gleichzeitig die international vereinbarten Ziele in den Bereichen Gesundheit und biologische Vielfalt weltweit zu verwirklichen.«

Veganer hinterlassen den geringsten ökologischen Fußabdruck

Fachleute von der University of Oxford kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Sie werteten das langjährige Ernährungsverhalten zehntausender Menschen in Großbritannien aus und ermittelten dessen Auswirkungen auf das Klima und auf natürliche Ressourcen. Eine vegane Ernährung verursacht ihrer vor Kurzem im Fachjournal »Nature Food« veröffentlichten Studie zufolge bis zu 75 Prozent weniger Treibhausgase und verbraucht deutlich weniger Land als die Ernährung eines Menschen, der täglich mehr als 100 Gramm Fleisch isst. Im direkten Vergleich sparte die vegane Ernährung zudem die Hälfte des Wassers ein und verschmutzte die Umwelt deutlich weniger. Selbst eine fleischarme Ernährung hatte bei den meisten Umweltkennzahlen noch ein Drittel weniger negative Auswirkungen als eine fleischreiche Ernährung. »Das ist eine wichtige Erkenntnis«, schreibt Koautor Michael Clark in einem Beitrag für »The Conversation«. »Man muss sich nicht komplett vegan oder ausschließlich vegetarisch ernähren, um einen großen Beitrag leisten zu können.«

Trotz solcher Argumente und steigender Vegetarier-Zahlen: Mit rund fünf Prozent der Weltbevölkerung bleiben Menschen, die sich vegan oder vegetarisch ernähren, eine kleine Minderheit in der Gesamtmenge aller Verbraucherinnen und Verbraucher. Ihre Marktmacht reicht nach Prognosen bei Weitem nicht aus, um die weltweit weiter wachsende Fleischnachfrage zu bremsen. Die Vereinten Nationen erwarten, dass der weltweite Fleischkonsum bis 2030 um 14 Prozent gegenüber den Durchschnittswerten der vergangenen Jahre steigen wird. Zwar rechneten die UN-Experten hoch, dass sich der Fleischkonsum in den reichen Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen wegen veränderter Verbraucherpräferenzen und des langsameren Bevölkerungswachstums abflachen wird. Vor allem das Einkommens- und Bevölkerungswachstum in vielen Schwellenländern wird dagegen als treibende Kraft hinter der insgesamt wachsenden Nachfrage gesehen – allen voran in Asien.

Dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern zuletzt deutlich weniger Fleisch gegessen wurde als in den Jahren zuvor, relativiert sich bei genauerem Hinsehen

Das Beispiel Indien zeigt, dass Fleisch in vielen aufstrebenden Ländern, vergleichbar mit den Nachkriegsjahren in Deutschland, ein Statussymbol ist. Kein Land hat auf der einen Seite mit mehr als 30 Prozent einen so hohen Anteil an Vegetariern und Veganern wie der stark vom Hinduismus geprägte Staat. Gleichzeitig nimmt mit dem Wachstum einer wohlhabenden Mittel- und Oberschicht der Fleischkonsum dort insgesamt besonders stark zu.

Dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern zuletzt deutlich weniger Fleisch gegessen wurde als in den Jahren zuvor, relativiert sich bei genauerem Hinsehen. Einige Experten sehen darin eher so etwas wie einen Normalisierungsprozess nach Jahrzehnten exzessiven Fleischkonsums. Denn die Fleischproduktion hat sich in den vergangenen 50 Jahren in Europa etwa verdoppelt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, pro Woche nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch zu essen, das entspricht rund 30 Kilogramm im Jahr – und damit liegt dieser Wert noch mal deutlich unter den 52 Kilogramm, die derzeit immer noch im Schnitt konsumiert werden.

Allzu große Sorgen vor einem Einbruch der Nachfrage muss sich die Fleischindustrie hier zu Lande durch den Veggie-Trend also offenbar nicht machen – zu gefestigt scheint die Marktdominanz gegenüber Fleischersatzprodukten. Das immense Interesse von Medien, Öffentlichkeit und Verbrauchern an der Fleischlos-Ernährung spiegele sich trotz Zuwächsen bislang nicht im gleichen Maße in den Absatzzahlen von Ersatzprodukten wider, sagt auch Forscherin Gebhardt. »Der Boom ist da, aber er verläuft bislang auf dem niedrigen Niveau eines Nischenmarktes«, betont sie. Ein Blick auf die Umsatzzahlen der Branche bestätigt die Einschätzung. Betrug der Wert der in Deutschland produzierten und verkauften Fleischersatzprodukte im vergangenen Jahr insgesamt rund eine halbe Milliarde Euro, lag der Wert des hergestellten Fleisches mit mehr als 42 Milliarden Euro fast 80-mal so hoch. Bis Veggie-Burger, Seitansteaks oder Tofuwürstchen den tierischen Originalen den Rang ablaufen, wird es also noch eine Weile dauern.

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