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Mathematische Physik: Zwei bisher unbekannte Arten von Supraleitern vorhergesagt

Supraleiter bergen enormes technologisches Potenzial, ihre Funktionsweise gibt der Fachwelt aber bis heute Rätsel auf. Durch die Verallgemeinerung einer 300 Jahre alten Formel sind vier Forscher einem Verständnis der Materialien nun näher gekommen.
Würfel schwebt
Auch wenn sie schon seit vielen Jahrzehnten untersucht werden, sind zahlreiche Aspekte von Supraleitern (hier eine Illustration) noch mysteriös.

Die Quantenwelt erscheint selbst den meisten Fachleuten kontraintuitiv und seltsam. Das liegt daran, dass uns quantenphysikalische Phänomene im Alltag meist verborgen bleiben. Doch es gibt auch Ausnahmen: In manchen Materialien treten Quanteneffekte selbst auf makroskopischer Ebene auf. Mit bloßem Auge lassen sich dann Phänomene beobachten, die in der Welt der klassischen Physik unmöglich sind. Ein Beispiel dafür sind Supraleiter, die wegen eines quantenmechanischen Prinzips keinerlei elektrischen Widerstand aufweisen und daher Strom über beliebige Distanzen vollkommen verlustfrei transportieren können.

Solche Materialien lassen Physikerinnen und Physiker seit ihrer Entdeckung träumen: Man stelle sich Energienetze vor, die Strom, der in Windturbinen in der Nordsee erzeugt wird, verlustfrei ins gesamte Land bringen. Ein weiterer Quanteneffekt führt dazu, dass Supraleiter über Magneten schweben – somit könnten sie als Grundlage für »Maglev-Züge« dienen, die so schnell fahren, wie ein Flugzeug fliegt. Diese exotischen Stoffe könnten zudem in der medizinischen Bildgebung genutzt werden, um einzelne Lichtquanten nachzuweisen. Und schon heute dienen Supraleiter als Grundbaustein für moderne Quantencomputer.

Auch wenn sie in einigen Bereichen bereits eingesetzt werden, haben die wundersamen Materialien allerdings noch keine technologische Revolution eingeleitet. Grund dafür ist eine große Einschränkung, die Supraleiter mit sich bringen: Sie funktionieren nur bei äußerst niedrigen Temperaturen. Selbst Hochtemperatursupraleiter müssen in der Regel auf die Temperatur von flüssigem Stickstoff gekühlt werden, was weniger als −196 Grad Celsius entspricht.

Ein Supraleiter, der auch bei Raumtemperatur funktioniert, wird daher weithin als Heiliger Gral der Festkörperphysik angesehen. Erste Ankündigungen von solchen Raumtemperatursupraleitern (wie das Material LK-99, das im Sommer 2023 für Schlagzeilen sorgte) stellten sich bisher als Fehlschläge heraus. Ein großes Problem ist hierbei, dass Supraleiter, obwohl bereits im Jahr 1903 entdeckt, in der Theorie immer noch nicht vollständig verstanden sind.

Einem Verständnis dieser exotischen Materialien sind wir nun näher gekommen, wie wir in einer im Oktober 2023 bei »Physical Review Research« veröffentlichten Arbeit berichteten. Darin haben wir mit Hilfe der Verallgemeinerung einer 300 Jahre alten mathematischen Formel das Phasendiagramm von Supraleitern erweitern können. Sprich: Wir haben mit neuen mathematischen und physikalischen Methoden zwei bisher unbekannte Phasen von Supraleitern vorhergesagt – eine davon scheint extrem viel versprechend für die Entwicklung von Quantencomputern.

Elektronen prägen die verschiedenen Zustände von Supraleitern

Supraleiter ist nicht gleich Supraleiter. Ähnlich wie Wasser je nach Temperatur und Druck völlig unterschiedliche Zustände annehmen kann (von fest über flüssig zu gasförmig), weisen auch Supraleiter unterschiedliche Phasen auf. In welchem Zustand sich ein solcher befindet, hängt aber nicht nur von Druck und Temperatur, sondern vor allem von der Stärke und Reichweite der Wechselwirkungen der Elektronen innerhalb des Materials ab.

Während sich Elektronen in einem normalen Material wegen ihrer abstoßenden Ladung aus dem Weg gehen, entsteht in einem Supraleiter eine anziehende Kraft zwischen den negativ geladenen Teilchen. Ursache für diese Kraft können zum Beispiel Gitterschwingungen oder magnetische Anregungen im Material sein. Diese Kraft hat zur Folge, dass sich zwei Elektronen zu so genannten Cooper-Paaren verbinden können. Diese bewegen sich nicht mehr alle unterschiedlich, sondern weisen wegen eines quantenmechanischen Effekts ein kollektives Verhalten auf. Erzeugt man Strom in einem handelsüblichen Leiter, kollidieren die Elektronen mit Fehlstellen oder Defekten im Material, werden so gebremst und der Strom geht in Form von Wärme verloren. In einem Supraleiter hingegen nehmen die Elektronenpaare infolge des kollektiven Verhaltens die lokalen Defekte nicht mehr wahr und bewegen sich widerstandslos im Material fort.

Das gebundene Elektronenpaar ist dabei stabil. Das heißt, die Elektronen müssen eine Energiebarriere überwinden, um aus dem supraleitenden Zustand auszubrechen. Diese Barriere wird als supraleitende Energielücke bezeichnet und ist ein Schlüsselmerkmal eines Supraleiters. Um den Supraleiter zu simulieren, muss man daher die Energielücke berechnen.

Mathematisch lässt sich die Energielücke als Lösung einer Integralgleichung auffassen. Bislang hatten sich Fachleute auf kurzreichweitige Wechselwirkungen konzentriert, bei denen sich Elektronen erst sehr nahe kommen müssen, um sich gegenseitig zu spüren. Dass das nicht unbedingt der Wirklichkeit entspricht, war vielen klar – doch Interaktionen über große Distanzen zu beschreiben, ist extrem aufwändig und lag bisher außerhalb der rechnerischen Möglichkeiten. Unserem Team ist es nun gelungen, mit Hilfe einer neuen mathematischen Methode auch langreichweitige Wechselwirkungen zwischen Elektronen in die Beschreibung von Supraleitern miteinzubeziehen. Das hat zu überraschenden Ergebnissen geführt.

Wenn man die Stärke und Reichweite der Elektronen-Wechselwirkung verändert, entstehen unterschiedliche supraleitende Phasen – ähnlich wie beim Variieren von Druck und Temperatur bei Wasser. Dabei stießen wir auf ein erstaunliches Resultat: Supraleiter trifft man nämlich typischerweise in zwei Phasen an; eine ist der »s-Wellen-Supraleiter«, die andere der »nodale d-Wellen-Supraleiter«. Hierbei bezeichnen die Buchstaben die verschiedenen Symmetrien der Energielücke, zum Beispiel s, p, oder d, wie sie auch bei Elektronenorbitalen vorkommen.

Der s-Wellen-Supraleiter besitzt die einfachste Form: Die Energielücke sieht räumlich überall ähnlich aus. Beim d-Wellen-Supraleiter ändert sich die Energielücke dagegen je nach Geschwindigkeit der Elektronenpaare deutlich. Bei nodalen d-Wellen-Supraleitern gibt es sogar knotenartige Strukturen, in denen die Energielücke bei gewissen Geschwindigkeiten der Elektronen verschwindet. Dort verhält sich der Supraleiter ähnlich wie ein normales Material. Kupferoxidbasierte Hochtemperatursupraleiter sind hierfür ein berühmtes Beispiel.

Zwei neue supraleitende Zustände machen Hoffnung

Wie wir nun entdeckt haben, entstehen bei langreichweitigen Wechselwirkungen zwei neue Phasen. So wie Eis und Gas unterschiedlicher kaum sein könnten, weisen diese supraleitenden Zustände ebenfalls völlig andere Eigenschaften auf als herkömmliche Supraleiter. Der erste ist die s+d-Welle, die Eigenschaften von s- und d-Wellen-Supraleitern kombiniert. Hierbei entfernt der s-Wellen-Anteil die Knoten des d-Wellen-Leiters und macht das Material überall supraleitend. Allerdings bleibt die komplexere Struktur des d-Wellen-Supraleiters erhalten.

Die zweite neu entdeckte Phase tritt bei sehr langreichweitigen und starken Wechselwirkungen auf. Wir nennen sie p+ip+d-Wellen-Phase, da sie gleich drei unterschiedliche Symmetrien verbindet. Sie hat einen d-Wellen- sowie einen p-Wellen-Anteil. p-Wellen-Supraleiter besitzen, ähnlich wie die d-Welle, eine komplexe räumliche Struktur. Doch das ist nicht alles: Der p-Wellen-Anteil der neuen Phase wird mit einem gedrehten p-Wellen-Anteil verwoben, was wir als p+ip bezeichnen. Dadurch entsteht eine äußerst komplexe und stabile Struktur, so als würde man zwei Schnüre miteinander verknoten. Die resultierende Phase zeigt interessante Eigenschaften. Ähnlich wie ein Knoten in einem Faden ist der Zustand sehr stabil, was Theoretiker als topologisch bezeichnen: Man kann ihn dehnen und verformen, aber der Knoten bleibt bestehen – ebenso wenig können äußere Schwankungen oder Unreinheiten im Material diesem supraleitenden Zustand daher etwas anhaben.

Exotische Phasen | Neben der bekannten s-Wellen- (blau) und d-Wellen-Phase (grün) treten bei langreichweitigen Wechselwirkungen zwei neue exotische Phasen (rot und gelb) auf (links). Die Diagramme rechts zeigen die Struktur der supraleitenden Energielücke (z-Achse), je nach Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung der Elektronen (xy-Achse).

Diese Stabilität könnte für technologische Anwendungen relevant sein, insbesondere für Quantencomputer. Deren Quantenprozessoren setzen sich aus einzelnen Qubits zusammen, die sehr empfindlich sind und deshalb sehr gut von der Außenwelt isoliert und gekühlt werden müssen. Die stabilen Anregungen, die an den Rändern von p+ip-Supraleitern entstehen, könnten sich nutzen lassen, um robustere und skalierbare Quantencomputer zu entwickeln.

Die dafür nötigen langreichweitigen Wechselwirkungen zwischen den Elektronen können entweder auf natürliche Art in Hochtemperatursupraleitern auftauchen oder man kann die Wechselwirkungen auch künstlich im Labor erzeugen – damit ließe sich zum Beispiel ein gewöhnliches Material supraleitend machen. Das funktioniert durch geeigneten Beschuss eines Stoffs mit Laserlicht, das durch hochreflektierende Spiegel in einem so genannten Hohlraumresonator verstärkt wird.

Die komplexe Mathematik hinter langreichweitigen Wechselwirkungen

Die zwei bisher unbekannten Phasen blieben so lange verborgen, weil ihre korrekte Berechnung bisher extrem aufwändig war. Der Grund dafür liegt in der enormen Anzahl von Elektronen in einer Materialprobe; typischerweise reden wir hier von etwa 1023 Teilchen. Während kurzreichweitig wechselwirkende Objekte nur durch ihre unmittelbare Umgebung beeinflusst werden, muss man im langreichweitigen Fall den Einfluss aller Elektronen auf ein einzelnes Teilchen miteinbeziehen. Für die Berechnung bedeutet das, dass man eine Summe über 1023 Teilchen berechnen muss. Diese Aufgabe ist selbst für moderne Großrechner nicht bewältigbar.

In einer im Dezember 2021 im »Journal of Scientific Computing« veröffentlichten Arbeit sowie einer Folgearbeit in der Fachzeitschrift »Nonlinearity« haben wir eine exakte Formel vorgestellt, mit der sich diese riesige Summe auf einem handelsüblichen Laptop berechnen lässt. Unsere Methode ist eine Verallgemeinerung der 300 Jahre alten Euler-Maclaurin-Summenformel für langreichweitige Wechselwirkungen im dreidimensionalen Raum.

Die Idee ist hierbei, die Summe der langreichweitigen Wechselwirkungen in zwei Beiträge aufzuteilen. Der erste lässt sich als Integral schreiben, das die mikroskopische Struktur des Materials ignoriert und nur berücksichtigt, was auf großen Skalen passiert. Das mikroskopische Kristallgitter im Material spielt jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die physikalischen Effekte korrekt vorherzusagen. Dieses wird im zweiten Term behandelt, dem Gitterbeitrag. Er fußt auf einer Verallgemeinerung der riemannschen Zetafunktion, die Anfang des 20. Jahrhunderts vom Mathematiker Paul Epstein untersucht wurde und dessen Namen trägt. Während die in der Zahlentheorie bekannte Zetafunktion über die natürlichen Zahlen summiert, bildet die epsteinsche Zetafunktion eine Summe über ein mehrdimensionales Kristallgitter. Mit bekannten Techniken aus der Zahlentheorie können wir nun die epsteinsche Zetafunktion effizient auswerten.

Unsere neue Gleichung zur Berechnung der Energielücke von Supraleitern enthält die epsteinsche Zetafunktion, die sowohl die langreichweitige Wechselwirkung als auch die mikroskopische Struktur des Materials berücksichtigt. Damit konnten wir das Phasendiagramm von Supraleitern erweitern und untersuchen, wie sich die exotischen Materialien verhalten, wenn die Elektronen über lange Distanzen hinweg miteinander interagieren. Unsere neuen Erkenntnisse, vor allem der Fund der besonders stabilen topologischen Phase, könnte anderen Forschungsfeldern wie der Entwicklung von Quantencomputern einen großen Schub verleihen.

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  • Quellen

Buchheit, A. A. et al.: Exact continuum representation of long-range interacting systems and emerging exotic phases in unconventional superconductors. Physical Review Research 5, 2023

Buchheit, A. A., Keßler, T.: On the efficient computation of large scale Singular sums with applications to long-range forces in crystal lattices. Journal Scientific Computing 90, 2022

Buchheit, A. A., Keßler, T.: Singular Euler–Maclaurin expansion on multidimensional lattices. Nonlinearity 35, 2022

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