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Vittrup-Mann: Die Lebens- und Leidensgeschichte eines Menschenopfers

Vor mehr als 5000 Jahren starb dieser Mann mit zertrümmertem Schädel in einem dänischen Moor. Eine Studie zeichnet nun die Geschichte eines Fremden aus dem hohen Norden nach.
Der fragmentierte Schädel des Vittrup-Manns
Im Jahr 1915 wurde der Schädel eines 30- bis 40-Jährigen im Moor gefunden. Die Brüche deuten auf einen gewaltsamen Tod hin – vermutlich wurde der Mann ein Menschenopfer.

Spätestens mit Ende seiner Teenagerzeit hatte der Mann, dessen sterbliche Überreste 1915 in einem Moor beim dänischen Vittrup gefunden wurden, die Welt aus seinen Kindertagen hinter sich gelassen. Er lebte nun in einer gänzlich anderen Umgebung: Seine neuen Nachbarn hielten Tiere, anstatt auf dem Meer nach Robben zu jagen, sie bauten Pflanzen an, statt sie zu sammeln wie seine Eltern. Und auch äußerlich unterschied er sich von den hellhäutigeren Bauern, denen er bei seiner weiten Reise übers Meer in den Süden begegnet war.

Und spätestens mit 40 Jahren, vielleicht auch schon mit Anfang 30, endete sein Leben unter den Fremden. Acht mehr oder weniger gezielte Schläge einer Keule zertrümmerten seinen Schädel. Der Knüppel, der Jahrtausende später neben seiner Leiche im Moor gefunden werden wird, könnte das Instrument sein, mit dem seinem Leben ein Ende gesetzt wurde. Nicht auszuschließen, dass er bei einer Fehde getötet wurde. Oder bei einem Raubüberfall. Wahrscheinlicher aber ist es, dass sein Tod einen rituellen Hintergrund hatte: Der »Vittrup-Mann« dürfte eines der vielen Menschenopfer gewesen sein, die im Skandinavien jener Epoche in die Moore gelangten.

Wie er die Jahre dazwischen verbrachte, bei den Angehörigen der jungsteinzeitlichen so genannten Trichterbecherkultur, ist ungewiss. War er ihr Gefangener, ein Sklave, der zur Arbeit gezwungen wurde? War er seinen neuen Nachbarn sozial gleichgestellt, weil er ein Händler mit guten Kontakten war oder begehrtes nautisches Wissen mitbrachte? Zu wenig ist von seinem Skelett erhalten, um Genaueres über etwaige Härten oder Vorzüge während seiner Lebenszeit in Erfahrung zu bringen.

Dass er zum Menschenopfer wurde, sage jedenfalls nichts über seinen gesellschaftlichen Stand aus, erklären Anders Fischer und Karl-Göran Sjögren von der Universität Göteborg, die sich mit einem interdisziplinären Team auf die Spuren der Lebensgeschichte des Vittrup-Mannes gemacht haben. Manche Kulturen opferten die schwächsten Mitglieder ihrer Gesellschaft, andere brachten den Göttern die wertvollsten Opfer dar.

Einen Fischerjungen verschlägt es unter die Bauern

Im Fachmagazin »PLOS ONE« haben Fischer, Sjögren und ihre Kollegen nun detailliert zusammengetragen, welche Erkenntnisse sie aus dem erhaltenen Skelett, bestehend aus Schädel und Beinfragmenten, aus der DNA sowie aus den Isotopen seiner Zähne gewinnen konnten. Das Verhältnis der Sauerstoffisotope im Zahnschmelz verrate beispielsweise, dass er seine Jugend in einem kälteren Klima verbracht hatte als seine Erwachsenenjahre. Weitere Isotope und Proteine aus der Nahrung, die sich in den Zähnen erhalten haben, belegen eine einschneidende Ernährungsumstellung: Die Nahrung aus dem Meer, die er in seiner Kindheit verzehrte, wurde von landwirtschaftlichen Produkten abgelöst.

Zwischen 3100 und 3300 v. Chr. fiel sein Leichnam ins Wasser des Moors. Zu diesem Zeitpunkt war der Norden Dänemarks seit Jahrhunderten von einer jungsteinzeitlichen bäuerlichen Kultur dominiert. Deren Angehörige waren Jahrtausende zuvor aus dem Fernen Südosten zugewandert, aus Anatolien brachten sie Ackerbau und Viehzucht nach Europa. Dabei verdrängten sie die ursprünglich in Nordeuropa lebenden mittelsteinzeitlichen Jäger-und-Sammler-Gruppen. Zu Lebzeiten des Vittrup-Mannes waren diese nunmehr ausschließlich weiter nördlich im heutigen Schweden und Norwegen ansässig. Sie waren auch die Vorfahren des Vittrup-Mannes, ergab sein DNA-Profil.

Daneben lebte zeitgleich mit der bäuerlichen Trichterbecherkultur eine weitere Gruppe entlang der Südküsten von Schweden und Norwegen sowie auf der Insel Gotland: die grübchenkeramische Kultur, benannt nach der Verzierung ihrer Tongefäße. Sie stellte wohl eine Art Mittlerin zwischen den beiden anderen dar; auch genetisch bildeten ihre Angehörigen einen Mix zwischen Landwirten und den Wildbeutern im Norden. Funde legen nahe, dass sie wiederholt Reisen zwischen Nord und Süd unternahmen, vermutlich um Feuerstein aus Dänemark auf die skandinavische Halbinsel zu importieren. Dabei verhandelten sie wohl außerdem exotische Güter aus dem heutigen Norwegen zu den Angehörigen der Trichterbecherkultur, schreiben die Wissenschaftler. Man kann darüber spekulieren, ob auch Sklaven aus dem Norden zum Handelsgut zählten.

Nautisches Knowhow

Wie die Analyse der Ernährungsgewohnheiten nahelegt, lebte die Gruppe, aus der der Vittrup-Mann gebürtig stammte, am und vom Meer. Neben Fisch dürften Robben und sogar Wale auf dem Speiseplan gestanden haben. All das spricht laut den Forschern dafür, dass die mittelsteinzeitlichen Kulturen erfahrene Bootsbauer waren. Womöglich kam der Vittrup-Mann sogar auf direkter Route ins heutige Dänemark. Dazu hätte er mindestens 75 Kilometer offene See überqueren müssen, rechnen die Wissenschaftler vor. Das verlange geschickte Seemannskunst und seetüchtige Wasserfahrzeuge, was aber durchaus im Rahmen des Möglichen für alle drei Kulturen dieser Gegend liege. Auf entsprechendes Knowhow würden jedenfalls archäologische Funde deuten. Mindestens müssen die Menschen in der Lage gewesen sein, die Meerengen zwischen Dänemark und Schweden zu überwinden, was Distanzen von rund zehn Kilometern beinhaltete.

Wo genau der Geburtsort des Vittrup-Mannes lag, lasse sich jedoch nicht mehr rekonstruieren, so die Wissenschaftler. Einmal mehr aber zeigt ihre Untersuchung: In der europäischen Frühzeit war es nicht selten der Fall, dass Individuen im Lauf ihres Lebens weite Wanderungen zurücklegten.

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