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Winter: Das große Zittern

Frostig könnten die nächsten Tage werden. Für einen Dezember ist das nicht ungewöhnlich. Doch wegen der Energiekrise blickt Deutschland noch genauer auf die Wettervorhersage.
Menschen laufen durch den Schneeregen
Es wird nasskalt in Deutschland. Gebietsweise soll Schnee fallen. Das ist für Dezember nicht ungewöhnlich, aber dieses Jahr auch nicht besonders »erwünscht«.

Warm soll der Winter werden, verkündete der Deutsche Wetterdienst Mitte November 2022. Aber wer in diesen Tagen auf seine Wetter-App blickt, der erkennt genau das Gegenteil. Richtiges Winterwetter steht für die nächsten Tage an, mit Dauerfrost und Schnee bis ganz runter. Einige Wettermodelle rechnen sogar mit einem veritablen Schneesturm zu Wochenbeginn im Süden und Osten des Landes. Und das könnte erst der Auftakt eines grimmigen Winterabschnitts werden. Der Dezember will von milden Temperaturen vorerst jedenfalls nichts wissen.

Der frühe Winter kommt psychologisch zum schlechtesten Zeitpunkt. Denn an seinem Verlauf hängt die Versorgungssicherheit des ganzen Landes. Wird viel Gas nun gleich zu Beginn verbraucht, könnte das Unruhe verursachen. Und ein strenger Winter könnte schnell zur Belastungsprobe werden, weil das Gas dann knapp wird und auch die Stromproduktion an Grenzen gerät. Aber selbst eine durchschnittlich temperierte kalte Jahreszeit könnte für Engpässe sorgen und die Deutschen müssten womöglich mehr Gas einsparen als jene 20 Prozent, die die Bundesnetzagentur als Mindestziel ausgegeben hat. Haben sich die Meteorologen geirrt? Müssen wir jetzt doch vor dem Winter bibbern?

Novemberwetter

Florian Pappenberger ist vom frühen Wintergruß nicht überrascht. Als Chef der Vorhersageabteilung beim Europäischen Wetterdienst ECMWF in Reading bei London weiß er über die Wetterentwicklung bestens Bescheid; der erste Kälteeinbruch in West- und Mitteleuropa habe sich angekündigt, sagt er. Allerdings sei noch völlig offen, wie kalt es wirklich werde und wie lange die unterkühlte Wetterlage anhalte. Insgesamt hat die Großwetterlage jedenfalls das Zeug für grimmige Kälte.

Pappenberger erkennt in der aktuellen Großwetterlage ein Muster wieder, das ihm schon im Herbst beim Blick auf die hauseigenen Langfristkarten mehrfach begegnet ist. Denn das ECMMF gehört zu einem der acht Vorhersagezentren auf der Welt, die Prognosen über mehrere Monate im Voraus erstellen. Dem Modell zufolge dürfte der Winter von hohem Luftdruck in Europa dominiert sein, Atlantiktiefs mit milder und stürmischer Luft dringen zunächst schwerlich auf den Kontinent vor. Blockadelage nennen Meteorologen dieses Grundmuster, weil die Hochdruckgebiete in der Atmosphäre wie ein Bollwerk wirken, das die milde Luft vom Atlantik blockiert und weit nach Norden umlenkt. Und dennoch berechnet das Modell unterm Strich einen eher überdurchschnittlich warmen Winter, zumal je nach Position des Hochdruckgebiets auch warme Luftmassen aus Süden heranwehen und im neuen Jahr vermehrt Tiefs mit milder Luft vom Atlantik hereinziehen dürften.

Keine Überraschung: Es ist Winter

Ebenfalls nicht überrascht vom Kaltstart des Winters ist auch Kristina Fröhlich vom Deutschen Wetterdienst in Offenbach, die Expertin für saisonale Prognosen. »Mit zwei bis drei Wochen Kälte muss man immer rechnen«, sagt sie, selbst in einem milden Winter. Sie hat den Ausblick auf den Winter erstellt und ihre Expertise ist gefragt wie nie, auch bei der Bundesnetzagentur. Sie sei zwar eine Winterfreundin, erzählt sie, mit richtig Schnee und Kälte, aber in diesem Jahr wäre sie froh, wenn der Winter einfach ausfiele.

Insofern war sie im November erleichtert, als sie die Ergebnisse des Offenbacher Großrechners für die kommenden Monate sah. Vergleichsweise warm sollten Dezember, Januar und Februar werden, mit einem Durchschnittswert von zwei Grad Celsius. Das klingt kalt, ist aber relativ mild. Der Winter würde damit ein halbes Grad wärmer ausfallen als im Vergleichszeitraum von 1991 bis 2020 – und sogar rund zwei Grad Celsius wärmer als die kalten Winter der 60er, 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ähnliche Ergebnisse liefern auch die anderen sieben Wetterzentren, die globale Langfristmodelle erstellen, darunter das Modell des britischen Wetterdiensts UKMO. Gebündelt werden sie bei Copernicus, dem Erdbeobachtungsprogramm der Europäischen Union. Dessen Multimodellprognose von Mitte November sieht ebenfalls überdurchschnittliche Werte für Europa.

Schaut man sich die Details an, wird die Sache kniffliger. Um eine ganze Jahreszeit vorherzusagen, lassen die Meteorologen das normale Wettervorhersagemodell nicht nur mehrere Tage, sondern Monate rechnen. Anschließend wiederholen sie den Rechenprozess mit leicht veränderten Anfangsbedingungen. 50 Resultate spuckt der Computer am Ende beim Deutschen Wetterdienst aus, jedes zeigt ein Szenario für den kommenden Winter: Meteorologen sprechen von Ensemblevorhersagen. Anschließend bilden sie den Mittelwert der 50 Läufe, so kam Kristina Fröhlich auf den Durchschnittswert von zwei Grad. Außerdem sortierte die Meteorologin die einzelnen Szenarien, um sich in die Wetterlage zu vertiefen. Auch hier zeigte sich erwartungsgemäß, dass die kalte Lösungen Ausnahmen blieben.

Eine Erfolgsgeschichte der Meteorologie

Langfristprognosen sind eine Erfolgsgeschichte. Dank potenter Computer können die Meteorologen Fortschritte vorweisen, die vor Jahren noch undenkbar waren. Im Frühling etwa lagen die Forscher mit ihrer Prognose für Europa richtig, als sie einen sonnigen und trockenen Sommer für große Teile Europas vorhersagten. Und doch liegt es in der Natur der Sache, dass sich das Chaos der Atmosphäre über einen längeren Zeitraum nur begrenzt vorhersagen lässt. Daher sollte man die Aussagekraft von Langfristprognosen nicht überbewerten. Sie erlauben keine tagesgenauen Vorhersagen wie beim Wetterbericht, sondern bieten nur grobe Aussagen für größere Gebiete. Und die Unsicherheiten können je nach Jahreszeit und Großwetterlage beträchtlich sein.

Das ist die Krux an der Winterprognose: Kleine Positionsänderungen der Hochs und Tiefs haben große Wirkung. Zudem haben die Modelle in der kalten Jahreshälfte Schwierigkeiten, das Wetter am Boden korrekt vorherzusagen. Anders als im Sommer bedeutet hoher Luftdruck dann nicht immer Sonne, sondern häufig kaltes, trübes Wetter in den Niederungen, während es in der Höhe schön ist.

Florian Pappenberger vom europäischen Wetterdienst in Reading empfiehlt daher, nicht nur die Temperaturen im Blick zu behalten, sondern auch Wind und Sonnenschein. Denn Inversionswetterlagen sind tückisch: Es fließt dann weniger Solarstrom, zudem herrscht verbreitet Flaute, im schlimmsten Fall sogar eine Dunkelflaute, was die Gefahr von Stromausfällen erhöht. Produzieren die Erneuerbaren aber weniger Strom, wird mehr Gas verstromt, der Verbrauch steigt. Hinzu kommt wie in jedem Winter die Möglichkeit einer so genannten Stratosphärenerwärmung, die in vielen Fällen heftige Kälteeinbrüche nach sich zieht. Und wenn das frostige Winterwetter doch nicht weicht? Wird dann alles ganz anders als in den Langfristprognosen vorausgesagt? Davon geht Florian Pappenberger nicht aus. »Es wird wohl ein milder Winter mit kalten Ausreißern«, lautet sein Fazit. Und die erste Hälfte werde vermutlich kälter ausfallen als die zweite.

Wie sieht es mit der Energiesicherheit aus?

Was das für die Energiesicherheit im Land bedeutet, ist schon eine große Frage. Seit Monaten rechnen Experten mögliche Szenarien durch, um die Wahrscheinlichkeit einer Gasmangellage zu ermitteln. Das Winterwetter ist dabei ein wichtiger Faktor. Viele überschätzen aber den Einfluss der Witterung, sagt Gunnar Luderer, Energieexperte am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die Schwankungen im Gasverbrauch zwischen kalten und warmen Winter betragen nur etwa 15 Prozent.

Darüber hinaus gibt es weitere Einflussfaktoren, die Deutschland – genau wie das Wetter – ebenfalls nicht im Griff hat. Dazu gehören die Gasimporte, die über die gesamte kalte Jahreszeit möglichst hoch bleiben sollten, sowie die Gas- und Stromexporte in die Nachbarländer. »Beispielsweise führen die anhaltenden technischen Probleme bei den französischen Kernkraftwerken dazu, dass Deutschland mehr Strom exportiert – was tendenziell den Gasverbrauch hier zu Lande steigert«, sagt Energieexperte Luderer. Fallen noch mehr Kernkraftwerke aus, leeren sich die deutschen Gasspeicher noch schneller.

Um eine nationale Gasmangellage am Ende zu vermeiden, kommt es deshalb auf die Verbraucher an. Halten sie das Sparziel von 20 Prozent ein, dürfte das Land über den Winter kommen. Nur wenn der Winter strenger ausfällt, droht eine Gasknappheit, hat die Bundesnetzagentur Ende Oktober vorgerechnet. Die Berechnungen von Gunnar Luderer sind weniger optimistisch, er rechnet sogar mit einer Gasmangellage bis zum Jahr 2025. In diesem Winter könnten 20 Prozent Einsparungen womöglich nicht reichen, deshalb fordert der Energieexperte ein noch höheres Sparziel : 30 Prozent sollten es schon sein, damit die Preise nicht wieder explodieren. Nach Entspannung in der Energiekrise sieht es jedenfalls nicht aus, selbst in einem milden Winter.

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