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Die Umwälzung Europas

Innerhalb von nur sieben Jahren ändert sich das Gesicht Europas und der bisherigen Kräfteverhältnisse: Gemeint ist die Zeit zwischen 1864 und 1871, die wandelreiche Ära am Vorabend des Deutschen Kaiserreichs, dessen Gründung sich zum 150. Mal jährt.

In seinem neuen Werk »Blut und Eisen« untersucht der Historiker Christoph Jahr die deutsche Epoche zwischen 1864 und 1871 mit Fokus auf die treibende Kraft: Preußen und insbesondere dessen Bundes- und späterer Reichskanzler Otto von Bismarck. Dazu gliedert Jahr das Buch entlang dreier Kriege, denen er jeweils einen Abschnitt widmet: der Deutsch-Dänische 1864, der Deutsch-Österreichische 1866/67 und schließlich der Deutsch-Französische Krieg 1870/71.

Machtgewinn Preußens

Der Autor arbeitet dabei deutlich heraus, wie die Siege Preußens politische, militärische, wirtschaftliche und administrative Position innerhalb der deutschen Staaten und in Europa stärkte. Zugleich trieb der Machtgewinn die Idee eines geeinten Deutschlands nach preußischer Vorstellung voran. Ebenso facettenreich schildert Jahr die Hürden auf dem Weg zu einem vereinigten »Gesamtdeutschland« – bildeten die Länder doch zu jener Zeit noch einen Flickenteppich mit verschiedenen Herrschafts- und Gesellschaftsmodellen sowie politisch-dynastischen Verflechtungen. Ähnlich divers waren die Interessen und Erwartungen von nationaler und internationaler Seite an einen Zusammenschluss Deutschlands.

Um diesen zu beschleunigen, wurden Kriege geführt und sogar bewusst provoziert. Man setzte Konflikte gezielt ein, um innenpolitische Veränderungen voranzutreiben. Vermutlich lehnt sich der martialisch wirkende Titel wie auch das Buchcover an dieses Vorgehen an. Der Autor sieht in dieser Taktik eine Ursache für das ambivalente Bild der Preußen und später der Deutschen im Kaiserreich. Daneben spielt sicherlich auch die generelle militaristische Einstellung des preußischen Staats eine wichtige Rolle. Zudem war der teilweise toxische Gebrauch des Begriffs »Nationalismus« in der politischen Argumentation, mit Folgen für Minderheiten wie polnisch und dänisch sprechende Gruppen oder auch Deutschjuden, prägend für das umstrittene Bild der Deutschen.

Der spannende vierte Abschnitt widmet sich der Erinnerungskultur an diese Ära. Dabei geht der Historiker unter anderem auf bekannte Straßen und Plätze ein, die nach Kriegsorten oder -teilnehmern benannt sind. Ebenso thematisiert er verschiedene Denkmäler an Schlachten und Opfer – zum Beispiel die Berliner Siegessäule, in der sich die drei Einigungskriege mit 60 dabei erbeuteten Kanonenrohre baulich manifestieren. Differenziert betrachtet Jahr das Gedenken in den nachfolgenden Epochen, etwa im Deutschen Kaiserreich, dem Dritten Reich sowie BRD und DDR. Seine Auseinandersetzung beschränkt sich dabei nicht auf Deutschland, sondern widmet sich auch beteiligten europäischen Nachbarstaaten wie Frankreich oder Dänemark.

Jahrs Sprachrohre sind Zeitzeugen der entsprechenden Epoche – er lässt sie mittels zahlreicher Zitate das Erlebte reflektieren. Neben Politikern kommen auch einfache Bürger, Soldaten, Journalisten und Dichter zu Wort, die insbesondere über Konflikte und die Innenpolitik berichten. Dabei lässt sich herauslesen, wie stark sich die Kriegstechnik und -taktik in weniger als einer Dekade wandelte.

Erschreckend deutlich transportieren die Akteure dabei die gesellschaftliche Inszenierung des Kriegs: etwa durch Picknicks, bei denen man eine Schlacht beobachten konnte. Dem gegenüber steht die steigende Anzahl an Todesopfern und Verwundeten, die durch die zunehmende Effizienz der neuen Waffen entstanden. Ähnlich heterogen sind die politischen Reflexionen der Zeitzeugen, die zum Teil sehr modern wirken. Daraus liest sich die schrittweise Installation einer Monarchie mit preußischem König und späterem deutschem Kaiser.

Gerade diesen fortschreitenden Machtausbau hätte der Autor in den jeweiligen Kapiteln detaillierter ausarbeiten können. Es wäre schön gewesen, vielleicht ein Diagramm der politischen Organe zu zeigen, das die jeweiligen Veränderungen gegenüberstellt. Insgesamt ist das Buch nur knapp bebildert. Die 20 Abbildungen stellen meist politische Karikaturen beziehungsweise politisch motivierte Gemälde dar. Zudem gibt es fünf Karten im Appendix – eine Gebietskarte sowie vier mit Kriegsverläufen.

Eine gewisse Vorkenntnis der historischen und politischen Situation vor den 1860er Jahren wie auch im folgenden Kaiserreich ist sicherlich hilfreich. Dankbar nimmt man als Leser die zusammenfassende Zeittafel von 1815 bis Februar 1871 im Appendix an, wenngleich man einige Begebenheiten und Begriffe vielleicht noch einmal nachschlagen muss.

Der Fokus des Buchs liegt auf den preußischen Landen, weniger auf den weiteren bedeutenden Akteuren Dänemark, dem Deutschen Bund, Österreich und Frankreich. Es wäre jedoch interessant, die geopolitischen Veränderungen der Machtzunahme Preußens und später auch Deutschlands aus dem Blickwinkel der europäischen Großreiche wie England und Russland zu erfahren. Diese schneidet Jahr zwar an, thematisiert sie jedoch nicht genauer.

Die militärhistorischen Entwicklungen der Kriege, darunter die Gründung des Roten Kreuzes, der Einsatz von Propaganda sowie neuer Waffentechniken und Taktiken arbeitet der Autor gut heraus. Äußerst spannend ist auch das Zusammenspiel zwischen Militärbeobachtern aus den USA und Preußen im Deutsch-Französischen Krieg. Dessen Verlauf – ebenso wie die Erfahrungen des amerikanischen Sezessionskriegs zwischen 1861 und 1865 – werfen einen düsteren Ausblick auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs.

Insgesamt hätte Jahr die soziopolitischen wie auch die technischen Veränderungen (Stichwort Industrialisierung) stärker beleuchten können. Sie werden zwar erwähnt, meist unter dem Oberbegriff der Kriegstechnik, die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen scheinen jedoch unterrepräsentiert.

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