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Eine Analyse des Leidens

Fast 600 Buchseiten über Schmerz? Obwohl Harro Albrechts Werk schwer in der Hand liegt, ist seine Lektüre zu empfehlen. Denn mag Schmerz auch als alltägliches und vermeintlich profanes Reizphänomen erscheinen, so ist seine Natur rätselhaft und komplex. Schmerz stellt eine Grenzfläche zwischen Körper und Seele dar, wie Albrecht schreibt. Er kann Menschen verbinden oder isolieren, prägt Kulturen und wird seinerseits von ihnen geprägt. Allein in Deutschland leiden 16 Millionen Menschen regelmäßig unter Schmerzen, und die moderne Medizin und Wissenschaft haben dem nicht wirklich etwas entgegenzusetzen. Das Thema ist also mehr als ergiebig. Medizinjournalist Albrecht hat sich die ambitionierte Aufgabe gestellt, es umfassend zu behandeln.

Der Autor entscheidet sich für eine ganzheitliche Herangehensweise. Kulturgeschichte und Soziologie des Schmerzes sind ihm nicht minder interessant als dessen Neurophysiologie. All dem widmet sich der Medizinjournalist, der für die "Zeit" arbeitet, ausführlich. Dabei macht er auf anschauliche Weise deutlich, auf welch komplexe Weise Schmerzen entstehen und wirken. Albrecht erzählt unter anderem von Menschen ohne jedes Schmerzempfinden und macht deutlich, welch große Nachteile ihnen diese vermeintliche Gnade beschert und wie sehr sie sie der Welt entfremdet. Auch von Schmerzpatienten, ihren Ärzten oder von Protagonisten der Wissenschaft berichtet der Autor lebendig und auf einer persönlichen Ebene, so dass sein Buch trotz inhaltlicher Akribie nie in lexikalische Diktion verfällt.

Ein wenig verstandenes Phänomen

Albrecht, ganz journalistischer Profi, weiß verschiedene Thesen gekonnt zu pointieren, um sein Publikum zu fesseln. So sei beispielsweise die kulturell und philosophisch tradierte Trennung von Körper und Geist ein wesentlicher Grund für das bis heute unzureichende Verständnis von Schmerzen. Da mag viel dran sein, und des Autors praktische Schlussfolgerung daraus ist insofern richtig, als psychische und soziale Faktoren bei der Therapie chronischer Schmerzen eine wichtige Rolle spielen, die lange vernachlässigt wurde. Allerdings gilt die psychologische Komponente in der modernen Schmerzmedizin inzwischen als unstrittig. Zudem unterläuft Albrecht ein formaler Widerspruch, denn er argumentiert selbst "dualistisch", wenn er Einflüsse wie Psyche und Kultur diffus kategorisiert und sie einer "materiellen" Medizin gegenüberstellt. Aus naturwissenschaftlicher Sicht aber gibt es diesen Unterschied nicht und damit auch nicht die beklagte Dichotomie. Denn: Auch Psychotherapie erzeugt Nervenströme – zumindest, wenn sie wirkt.

Dass dem Mediziner Albrecht dieser Gedanke nicht fremd ist, lässt sich mancher Stelle seines Buchs entnehmen. Offenbar liegt dem Journalisten Albrecht aber an Fallhöhe und er kennt die Erwartungshaltung seiner Leser, die psychische Belange ungern "technisch" erläutert haben möchten. Schade, dass seine manchmal populäre und ungenaue Rhetorik Erkenntnisse vernebelt, die das Thema ja tatsächlich bereit hält.

Kein Nachteil ist hingegen, dass Albrecht mehr fragt, als er Antworten liefert. Seine Überlegungen etwa zur Unvereinbarkeit von Kontrollbedürftigkeit und tatsächlichen Schmerzkontrolle machen einen bleibenden Eindruck über die Lektüre des Buches hinaus. Hier erklärt er wenig, macht aber viel begreifbar.

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