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Das Grauen des Kraken

Ein Tsunami überrollt den kleinen neuseeländischen Ferienort Kaikoura, während der deutsche Wissenschaftler Hermann Pauli gerade vor Ort zufällig eine Walbeobachtungstour mitmacht. Nur mit knapper Not entkommt der Kraken- und Kalmarexperte an Bord seines Ausflugsschiffs den Wellen – ahnungslos, dass er bald eine der Hauptrollen in den Tagen nach der Tragödie spielen muss. Ähnlich ergeht es der einheimischen Biologin Barbara MacPherson, die in der Bucht von Kaikoura durchziehenden Pottwalen nachforscht, und die sich mit ihren Kollegen gerade noch so in Sicherheit bringen kann. Ihre Zukunft ist jedoch plötzlich unsicherer als je zuvor.

Denn die Naturkatastrophe zerstört nicht nur Teile des Städtchens, sondern bringt auch die Umwelt gehörig durcheinander: Die Wale – die wichtigste Einkommensquelle Kaikouras – fliehen, das einst klare Meer ist nun eine verschmutzte Brühe, und tausende toter Kalmare werden an den verwüsteten Strand gespült. Durch den Tipp eines einheimischen Alkoholikers und Ex-Walfängers wird Pauli auf dieses Szenario aufmerksam, und er stürzt sich sofort mit Eifer in die wissenschaftliche Aufarbeitung, bietet sich ihm doch eine einmalige Gelegenheit unbekannte Krakenarten zu studieren und zu beschreiben: der Traum eines jeden Forschers.

Ganz anders sieht die Situation für MacPherson aus, denn ihre Studienobjekte haben das Weite gesucht, und damit steht ihre Doktorarbeit vor dem Scheitern, fehlen ihr doch viele Daten zum Tauchverhalten der Pottwale. Der Tsunami hat allerdings noch einen dritten Akteur an die Oberfläche gespült, der bald die Handlung bestimmen wird: den Roten, wie Pauli kurz und prägnant einen unbekannten, weil überdimensionierten Riesenkalmar titulieren wird, der sich plötzlich vor der Küste herumtreibt, statt in der Tiefsee nach Beute zu jagen.

Als er in Strandnähe vor Dutzenden Augenzeugen – inklusive einiger Wissenschaftler – einen jungen Delfin mit seinen Fangarmen erbeutet und tötet und kurze Zeit später ein Taucher spurlos verschwindet, nimmt das Drama nach dem Drama seinen Lauf. Es entspinnt sich ein atemraubender Wettlauf zwischen engagierten Wissenschaftlern um Hermann und Barbara auf der einen Seite, die den "Roten" in Freiheit studieren wollen und ihn als Symbol für die bedrohte Meeresfauna an sich sehen. Ihnen gegenüber stehen Raymond Holmes, ein weiterer Krakenforscher, ein Tierfilmer, der Bürgermeister Kaikouras und örtliche Geschäftsleute, die aus den unterschiedlichsten Motiven nur eines wollen: dass der Rote schnellstmöglich gefangen und damit beseitigt wird.

Mit "Der Rote" legt Bernhard Kegel einen spannenden Wissenschaftsroman vor, der wie nebenbei treffend beschreibt, was Forscher antreibt, ihr Forschungsgebiet voranzubringen, und mit welchen Schwierigkeiten sie bisweilen zu kämpfen haben: von der mangelnden Finanzierung ihres Fachs, weil es Politikern oder Ökonomen als wenig nutzbringend erscheint, bis hin zum Zerstörungswerk der Menschheit, die selbst entlegene Tiefseeregionen umpflügen, um der dort lebenden Fischen habhaft zu werden. Authentisch beschreibt das Buch die Konkurrenzkämpfe unter Wissenschaftlern, ihre Nöte mit mangelnder Finanzierung ihrer Arbeit oder das Unverständnis mit dem ihnen andere Menschen bisweilen begegnen.

Gleichzeitig hält Kegel einen flammenden Appell für einen Teil der Biologie, der heute zunehmend in Existenznöten ist und von scheinbar moderneren Richtungen wie der Genetik verdrängt wird: die Systematik. Wer aber soll einst noch die Artenvielfalt der Erde bestimmen und ihre Bedeutung für Evolution, Pharmazie, Naturstoffchemie und so weiter erkennen, wenn die entsprechend ausgebildeten Zoologen und Botaniker wegrationalisiert oder gar nicht mehr ausgebildet werden?

Die Wissenschaft ist dabei nicht nur schmückendes Beiwerk des Buchs, sie ist vielmehr zentraler Bestandteil und wird in lebendige Sprache verpackt leicht verständlich dem Leser nahe gebracht. Kegel hat schließlich mit vielen Meeresbiologen gesprochen und neueste Forschungsergebnisse verarbeitet. Damit ähnelt "Der Rote" Frank Schätzings Werk "Der Schwarm". Doch pflegt Kegel nicht nur seinen ganz eigenen Stil, sondern verlässt bis zum Schluss des Buchs nie den Boden der Wissenschaft, während Schätzing im zweiten Teil seines Romans bisweilen arg ins Esoterische abgleitet.

Das Szenario in Kegels Buch könnte dagegen jederzeit an irgendeinem Küstenort der Ort tatsächlich so ablaufen – auch dies macht "Der Rote" von der ersten bis zur letzten Seite zum absolut lesens- und empfehlenswerten Thriller.

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