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Der Reiz des Mehrdeutigen

Unser Gehirn denkt in Schubladen. Genau das macht es so leistungsfähig und erlaubt uns, Gegenstände, Gesichter oder Situationen schnell zu erfassen. Wir erkennen ein Haus als Haus, egal welche Sichtverhältnisse gerade herrschen, und das Blatt eines Baums erscheint uns grün, selbst wenn es in der Morgendämmerung mehr rötliches Licht reflektiert. Welche Rolle solche mentalen Konzepte in Kunst, Musik und Literatur spielen, erläutert Semir Zeki, Professor für Neurobiologie am University College London, der selbst viele Jahre auf dem Gebiet der visuellen Wahrnehmung und Neuroästhetik forschte.

Der Autor demonstriert aber auch, wie sich das Gehirn mit seinem Schubladendenken manchmal selbst austrickst. Das ist zum Beispiel der Fall bei optischen Täuschungen – etwa wenn wir glauben, Figuren zu erkennen, wo nur Linien angedeutet sind. Oder beim "Necker- Würfel", dessen sichtbare Kanten zwei mögliche Perspektiven und damit zwei Interpretationen seiner räumlichen Lage erlauben.

Die Möglichkeit, ein und dasselbe Bild unterschiedlich zu deuten, verleiht vielen Kunstwerken erst ihren speziellen Reiz: Liegt ein Lächeln auf den Lippen von Leonardo da Vincis "Mona Lisa"? Wirkt Jan Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring" scheu oder sinnlich? Unser Denkorgan kann sich aber auch in so genannte synthetische Konzepte "verbeißen" – in Ideen, die wir uns quasi in den Kopf setzen, etwa das Idealbild romantischer Liebe. Dann sind wir zum Scheitern verurteilt, wie Zeki anhand zahlreicher Beispiele aus Kunst und Literatur belegt. So wird die Figur "Majnun" (der Verrückte) in einer alten arabischen Geschichte schließlich irre, weil ihn die Liebe zur unerreichbaren Leila verzehrt. Für Tristan und Isolde aus Richard Wagners gleichnamiger Oper führt der einzige Ausweg aus dem utopischen Liebesideal gar in den Tod.

Vollendung im Geiste

Ganz ähnlich scheint es Künstlern zu ergehen, die ein vollkommenes Werk vor ihrem inneren Auge sehen, dieses aber nicht umzusetzen vermögen – das belegen die zahlreichen unvollendeten Werke von Michelangelo oder Cézanne, glaubt Zeki. Während wir im Leid derer, die einem romantischen Ideal hinterherlaufen, nur wenig Sinn erkennen, eröffnen sich beim unvollendeten Kunstwerk neue Perspektiven: Hier erlaubt das Unvollständige dem Betrachter, das Bildnis im Geiste nach seinen eigenen Vorstellungen zu vollenden.

Der Titel des Buchs ist etwas unglücklich gewählt, denn auch wenn Zeki eindrucksvoll beschreibt, wie das Schubladendenken an seine Grenzen stößt, ist in diesem Glanzstück der wissenschaftlichen Literatur wenig "Elend" zu finden. Der Autor hat sich die Aufgabe gestellt, für Laien verständlich und zugleich für Fachleute interessant zu schreiben, und er meistert diesen Spagat mit Bravur. Zeki führt den Leser in die neuroanatomischen Grundlagen ein, ohne lehrbuchhaft daherzukommen, und er erläutert seine Schlussfolgerungen präzise, ohne sich dabei in Details zu verlieren. So verbindet er die Neurowissenschaft mit Kunst, Musik, Literatur und Philosophie zu einer großen Theorie des menschlichen Denkens und Fühlens.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 9/2010

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