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Lehrreiches Gemetzel

Wenn ein renommierter Thrillerautor ein Manuskript eines unglaublich erfolgreichen Thrillerautors vollendet, weckt das hohe Erwartungen. Der 2008 verstorbene Michael Crichton versuchte sich mehrfach an der Gratwanderung zwischen Sciencefiction und lächerlichem Thrillerstoff, am besten glückte sie ihm in "Jurassic Park". Die Verfilmung war ein Kassenschlager und verhalf nebenbei gleich mehreren wissenschaftlichen Themen zu hoher Aufmerksamkeit. Der Zweitautor Richard Preston hat sich mit wissenschaftlich angehauchten Gruselwerken wie "The Hot Zone" und "Panic in Level 4" einen Namen gemacht. Hinter dem Niveau dieser Werke bleibt »Micro« allerdings deutlich zurück.

Zum Inhalt: Kennen Sie den Film "Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft"? Dort bringt ein klischeehaft verwirrter Wissenschaftler seine Kinder auf Ameisengröße, und die erleben daraufhin im eigenen Garten eine Safari zwischen den Monstern des Rasens. So ähnlich ist "Micro", nur ohne Disney-Faktor, dafür mit Gemetzel nach Art von "Nightmare on Elm Street".

Eine Gruppe ambitionierter Biologiestudenten – dazu ein Linguist – reist auf Einladung eines zwielichtigen Geschäftsmanns nach Hawaii, um dort mit der neuesten Technologie die Botanik nach Wirkstoffen für Medikamente zu durchsuchen. Als der nach ein paar weiteren Seiten schon mehr als nur zwielichtige Geschäftsmann die Studenten im Forschungszentrum herumführt, wird klar, was diese neueste Technologie ist: eine Apparatur, die vom Flugzeug bis zum Piloten alles klein schrumpft, ohne dessen Funktion zu zerstören. Na ja, Leser können durchaus eine krude Idee verkraften, wenn daraus Spannung erwächst.

Das passiert gelegentlich, auch wenn dafür die Handlung noch den einen oder anderen Haken schlagen muss. Getötete tauchen wieder auf, Polizisten spielen sinnlose Nebenrollen, und die Gründe für Ortswechsel werden an den Haaren herbeigezogen. Sehr vorhersehbar werden die Studenten gegen ihren Willen geschrumpft. Irgendwann landen sie dort, wo sie eigentlich die Proben für ihre Forschungsarbeit hätten sammeln sollen: im Wald auf Hawaii. Sowohl an Zahl als auch in der Größe deutlich reduziert, müssen sie in erster Linie ums Überleben kämpfen – bei einer Körpergröße von 1,2 Zentimetern ist das Leben an den Hängen eines Vulkans in Hawaii eben nicht einfach.

Ameisen, Wespen, Hundertfü.er, Spinnen und später auch noch Fledermäuse stehen bereit, aufkommende Gruppendynamik auf drastische Weise zu beeinflussen. Aber die Helden sind Biologen und Toxikologen, Insektenkenner und Spinnenspezialisten. Das gibt den Handelnden Chancen und dem Leser die Gelegenheit, etwas über Gifttiere, die Wirkung ihrer tödlichen Ausscheidungen, die Pflanzenwelt und andere Besonderheiten Hawaiis zu lernen. Das ist nett, informativ und auch dringend notwendig, denn ohne die wissenschaftskommunikativen Einsprengsel würde das Buch nur aus weit gehend sinnfreiem Gemetzel bestehen.

Die grausigen Szenen sind mit merkbarer Hingabe oder zumindest mit routiniertem Sadismus gestaltet; das erste blutige Highlight verspricht sogar Spannung und vermittelt dem Leser das masochistische Vergnügen des Ausgeliefertseins. Der spätere Kampf der Minimenschen im Dschungel Hawaiis ist allerdings eher eine Blutorgie: Ameisen zerlegen noch zuckende Körper, zwei Vögel teilen sich eine geschrumpfte Studentin wie einen Wurm, und ein Protagonist hat mit den Larven einer Schlupfwespe zu kämpfen, die sich in seinem Arm entwickeln. So weit, so widerlich.

"Micro" ist eine Berg- und Talfahrt; und damit ist weniger die Spannung gemeint als vielmehr das schwankende Niveau des Textes. Auf gute Szenen und Dialoge folgen unvermittelt platte Charaktere und endlos durchgekaute Beziehungsdramen. Die Grundidee mit geschrumpften Menschen ist weder neu noch eine aufregende, durchdachte Vision, aber für deftige Schockmomente natürlich tauglich.

Dennoch ist das posthume Erscheinen nicht das Interessanteste an diesem Roman. "Micro" ist lehrreich und schmückt sich am Ende mit einer Literaturliste, die vom ethnobotanischen Lehrbuch bis zum Handbuch der klinischen Toxikologie von Tiergiften reicht. Für den Leser ist es genau dann ein Vergnügen, wenn es ihm gelingt, die richtigen Teile seines Gehirns abzuschalten...

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 10/2012

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