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Von wegen dunkel

Kein anderes Zeitalter muss so oft als Vorlage für Historienschinken herhalten und ist derart klischeebehaftet wie das Mittelalter – jene Epoche, die der italienische Humanist Francesco Petrarca (1304–1374) als "media aetas", als Antike und Neuzeit trennendes "mittleres Zeitalter" bezeichnete. In erschreckendem Ausmaß finster sei dieser Abschnitt der Geschichte gewesen, so Petrarca – eine Wertung, die noch der Aufklärer Voltaire (1694-1778) vertrat, indem er das Bild vom "pfäffisch gegängelten, feudal tyrannisierten und materiell wie geistig rückständigen Mittelalter" zeichnete.

Erst die Mediävistik als eigenständige historische Disziplin räumte mit diesem Vorurteil auf, indem sie belegte, dass die Zeit von 500 bis 1500 mehr von Erfindergeist geprägt war als von Rückständigkeit und Aberglaube. Diese progressive Sichtweise macht sich auch Michael Prestwich, emeritierter Professor für Geschichte an der Durham University of England, zu Eigen. In seinem facettenreichen und unterhaltsam geschriebenen Buch "Von Karl dem Großen bis Gutenberg" erzählt er die Geschichte des Mittelalters in Kurzporträts. Aus denen geht hervor, dass die Jahrhunderte zwischen Antike und Neuzeit höchst innovativ waren und jede Menge Erfindungen hervorbrachten – darunter Universität und Reisescheck, Kompass und Brille, Turmuhr und Steigbügel, Versicherungspolice und Buchdruck sowie den Beruf des Auslandskorrespondenten.

Ob Kaiser (Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Karl IV.), Könige (Hakon von Norwegen, Ludwig IX. von Frankreich), Päpste (Urban II., Innozenz III.), Philosophen (Ibn Sina, Thomas von Aquin), bedeutende Heerführer (El Cid, John Hawkwood) oder auch Personen, die auf der sozialen Leiter weiter unten standen, etwa der französische Bauernführer Guillaume Caillet (gest. 1358) – sie alle haben ihrer Zeit den Stempel aufgedrückt oder sind umgekehrt von ihrer Zeit geprägt gewesen. Damit dienen sie Prestwich als Kronzeugen dafür, dem Leser "einen Eindruck von der Vielfalt und der Komplexität des Mittelalters" zu vermitteln.

Tüftler, Denker und Neuerer

Für den damaligen Erfindungsreichtum stehen zuvorderst Menschen wie Johannes Gutenberg (um 1400-1468), der den Buchdruck mit beweglichen Lettern erdachte, oder der italienische Baumeister Filippo Brunelleschi (1377-1446), der die architektonischen Grundlagen schuf, um den Florentiner Dom mit einer gigantischen Kuppel zu überspannen. Bedeutende Schrittmacher waren auch der päpstliche Leibarzt Guy de Chauliac (um 1300-1368), welcher im 14. Jahrhundert an der Hochschule von Montpellier Studien an geöffneten Leichen durchführte, sowie der französische Sprengstoffexperte Jean de Lamouilly – er wendete anno 1304 erstmals Schießpulver in der westeuropäischen Kriegsführung an. Nicht zu vergessen der italienische Ingenieur Mariano di Jacopo (1382-1453), dessen Erfindungen (mobile Kräne für Bauarbeiten, Pumpsysteme) wesentlich zur Stadtentwicklung beitrugen, oder der einäugige hussitische General Jan Žižka (gest. 1424), der mit Eisenplatten und Schießscharten versehene Streitwagen bauen ließ und als Erfinder der Wagenburg gilt. Sie alle finden in Prestwichs Buch ihren Platz.

Der Leser erfährt auch von dem englischen Geistlichen und Gelehrten Geoffrey von Monmouth (um 1100-1155), der die Artus-Legende populär machte, und dem Benediktinermönch Guibert von Nogent (1060-1124), dessen Beschreibung seiner Kindheit eine der wenigen Autobiografien des Mittelalters darstellt. Zusammen mit vielen anderen Denkern haben diese Intellektuellen das mittelalterliche Geistesleben inspiriert. Unter ihnen waren auch zahlreiche Frauen, etwa Hrotsvit von Gandersheim (935-1000), die erste deutsche Geschichtsschreiberin, sowie die Mystikerinnen Hildegard von Bingen (1098-1179) und Katharina von Siena (1347-1380).

Weibliche Machtworte

Überhaupt zeigt der Autor, dass die manchmal geäußerte Auffassung, Frauen hätten im Mittelalter nichts zu sagen gehabt, fehlgeht. Auch in vermeintlichen Männerdomänen tummelten sich mächtige Damen, etwa Herzogin Eleonore von Aquitanien (1124-1204) oder Markgräfin Mathilde von Tuscien (1046-1115), deren Wort sowohl beim Kaiser als auch beim Papst Gewicht hatte und die wesentlichen Einfluss auf die Politik nahmen.

Es ist das große Verdienst des Buchs, dem Leser anhand historischer Porträts das vielschichtige Spektrum der mittelalterlichen Welt zu eröffnen. Allerdings werden die beschriebenen Personen nicht immer in ihren geschichtlichen Kontext eingebettet. Hierin liegt eine Schwäche des Werks. Ein weiteres Manko ist die allzu strikte chronologische Kapiteleinteilung in ein "Zeitalter der Imperien (800-1100)", eine "Epoche der Zuversicht (1100-1200)", eine "Epoche der Reife (1200-1300)", ein "Zeitalter der Pest (1300-1400)" und so weiter. Diese Unterteilung lässt Übergänge, Kontinuitäten und Brüche nicht zu und wird dem Mittelalter als heterogener Epoche im ständigen Fluss nicht gerecht.

Insgesamt präsentiert sich "Von Karl dem Großen bis Gutenberg" als durchaus lesenswertes Buch mit interessanten Details, aber ohne Blick für das große Ganze.

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