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: Über die dritte Dimension hinaus

Universen auf der kosmischen Achterbahn
Was bringt die Zukunft? Diese Serie (hier geht es zur Übersicht) stellt Ihnen täglich eines von zwölf Szenarien vor, die die Welt verändern könnten.
Wäre es nicht großartig, wenn wir mit unseren Armen in eine vierte Raumdimension hineinreichen könnten? Das würde uns zum Beispiel von den Beschränkungen der dreidimensionalen Geometrie befreien. Ein hoffnungslos verheddertes Fadenknäuel ließe sich im Nu entwirren. Ein linker Handschuh ließe sich kinderleicht – man drehe ihn durch die vierte Dimension – in einen rechten verwandeln. Und Zahnärzte würden Wurzelbehandlungen durchführen, ohne zu bohren; die Patienten müssten nicht einmal mehr den Mund öffnen.

Auch wenn räumliche Extradimensionen an ScienceFiction-Fantasien erinnern, könnten sie tatsächlich existieren. Denn viele rätselhafte Eigenschaften unserer physikalischen Umwelt wie etwa die relative Schwäche der Schwerkraft – "versickert" sie in zusätzlichen Dimensionen? (SdW 7/2004) – deuten darauf hin, dass das bekannte Universum nur der Schatten einer höherdimensionalen Realität sein könnte. Träfe dies zu, könnte am Teilchenbeschleuniger LHC Faszinierendes geschehen: Wenn er die Partikel nur mit genügend Energie aufeinanderprallen lässt, sprengen sie möglicherweise die Fesseln der Dreidimensionalität und stoßen das Tor zu dieser faszinierenden Welt auf.

Eroberung der vierten Dimension mit Tetris

Der Nachweis von Extradimensionen "würde unsere gesamte Vorstellung von der Realität verändern", sagt der Kosmologe Max Tegmark vom Massachusetts Institute of Technology. Schon 1990 hatte er eine vierdimensionale Version des Videospiels "Tetris" programmiert, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was eine zusätzliche Dimension bedeuten könnte. (Dabei bleibt man den fallenden Blöcken auf der Spur, indem man eine Reihe dreidimensionaler "Ebenen" durch den vierdimensionalen Raum legt.)

Der in der modernen Physik wichtigste Grund dafür, die Existenz von Extradimensionen anzunehmen, ist die Supersymmetrie. Diese Theorie hat sich zum Ziel gesetzt, sämtliche Teilchenarten in einer großen, glücklichen Familie zu vereinen. Leisten kann sie dies aber nur, wenn der Raum insgesamt zehn Dimensionen (plus die Zeit) besitzt. Doch warum haben wir von den Extradimensionen noch nichts bemerkt? Sie dürften extrem klein sein, sodass wir schlicht nicht in der Lage sind, in sie vorzudringen. Oder aber es existieren physikalische Gesetzmäßigkeiten, die uns daran hindern, sie zu betreten – wir kleben wie die Raupe an ihrem Blatt.

Allerdings basiert nicht jede der vorgeschlagenen Vereinheitlichungstheorien, der "Weltformeln", auf Extradimensionen. Im Zweifel kämen wir also auch ohne sie aus. Der Nachweis ihrer Existenz oder Nichtexistenz ist dennoch wichtig. Je nach Ergebnis wüssten die Wissenschaftler dann endlich genauer, in welche Richtung sie weiterforschen müssen. "Das würde unsere Arbeit fokussieren", sagt die Physikerin Lisa Randall von der Harvard University, die das Raupe-Blatt-Szenario als mathematisches Modell ausformuliert hat.

Einer der Wege, in die Extradimensionen vorzustoßen, besteht darin, die Partikel in Teilchenbeschleunigern auf noch höhere Energien zu beschleunigen. Nach den Regeln der Quantenmechanik gilt nämlich: Je mehr Energie ein Teilchen besitzt, desto stärker ist es räumlich lokalisiert. So entspricht die Energie von einem Teraelektronvolt (TeV) einer Abmessung von 10-19 Metern. Besäße eine Extradimension tatsächlich diese Größe, könnte das Teilchen buchstäblich in sie hineinfallen und in der Folge zu vibrieren beginnen.

Extradimensionen im LHC?

1998 schon hatte sich der Physiker Gordon Kane von der University of Michigan in Ann Arbor überlegt, wie aus zwei im LHC aufeinandergeschossenen Protonen ein Elektron und andere Partikel entstehen. Sollten diese mal 1 TeV Energie, mal ganzzahlige Vielfache dieses Werts, also zum Beispiel 2 oder 3 TeV besitzen, könnten diese Vielfachen die Oberwellen der Schwingungen in den Extradimensionen repräsentieren, zu denen es bei der Kollision kommt. Denn weder die Wechselwirkungen der Teilchen, wie sie aus dem Standardmodell der Teilchenphysik bekannt sind, noch exotische Konzepte wie etwa das der Dunklen Materie könnten solche Vorgänge erklären – dafür wären zusätzliche Dimensionen erforderlich.

Extradimensionen offenbar sich vielleicht aber auch auf andere Weise. Falls der LHC subatomare Schwarze Löcher erzeugt, werden diese als unmittelbarer Beleg für die Existenz von Extradimensionen gelten. Denn die Schwerkraft im gewöhnlichen 3-D-Raum ist viel zu schwach, um Schwarze Löcher dieser Größe zu generieren. Höhere Dimensionen jedoch würden aus geometrischen Gründen die Schwerkraft in kleineren Raumvolumina verstärken und zugleich das Verhalten anderer Kräfte – etwa des Elektromagnetismus – in solchen Volumina verändern. Und schließlich könnten sie charakteristische, messbare Auswirkungen auf die Masse und andere Eigenschaften von Elementarteilchen haben.

Ist die Welt eine raum- und zeitlose Sphäre?

Erkenntnisse wie diese würden nicht nur die Physik umwälzen, sondern auch Kosmologie und weitere verwandte Gebiete. Extradimensionen könnten helfen, Rätsel wie das des beschleunigt expandierenden Universums zu lösen. Womöglich sind sie sogar die Vorstufe zu einem völlig neuen Verständnis der Dimensionen. Denn vielleicht basieren Raum und Zeit auf physikalischen Prinzipien, die ihre Wurzeln in einer raum- und zeitlosen Sphäre haben (Is Time an Illusion in Scientific American, demnächst in SdW).

Im Alltag werden die Extradimensionen aber wohl nie eine Rolle spielen. Das ist aber gut so – täten sie es, würden wir gar nicht existieren. Denn könnten sich die Teilchen, aus denen wir bestehen, tatsächlich in diese Dimensionen hineinbewegen, wäre ihre Bewegungsfreiheit sehr hoch. Dadurch wiederum würden sämtliche komplexen Strukturen destabilisiert – auch solche, die das Leben erst ermöglichen.

Eintrittsprognose: 50/50

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