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Warkus' Welt: Die Jugend von heute

Egoistisch, partysüchtig, verantwortungslos: An jungen Menschen wird derzeit kaum ein gutes Haar gelassen. Das hat Tradition: Schon Sokrates regte sich seinerzeit über die Jugend auf. Das wird zumindest gerne behauptet. Die Wahrheit sieht anders aus, erklärt unser Kolumnist Matthias Warkus.
Junge Menschen feiern ausgelassen

Im »heute journal« des ZDF war am 18. Oktober eine Schülerin zu sehen, die erklärte, »darauf angewiesen zu sein«, dreimal die Woche zu »feiern«. Die Aussage sorgte angesichts der zweiten Covid-19-Welle für Aufsehen, wurde in den sozialen Medien herumgereicht und mit viel Häme bedacht. Wahrscheinlich auch, weil sie so gut in das Schema passt, demzufolge das Freizeitverhalten verantwortungsloser junger Menschen der Grund für den aktuellen Anstieg der Infektionszahlen sei.

Ob »die Jugend« solche Schelte derzeit verdient hat, ist keine philosophische Frage. Doch es ist längst Allgemeingut, dass sich schon seit der Antike jede Generation über die Fehler und charakterlichen Defizite derjenigen nach ihr auslässt. Und dieser Gedanke ist untrennbar verbunden mit dem Namen eines der größten antiken Philosophen: Sokrates (469–399 v. Chr.). Er soll seinerzeit angeblich Folgendes gesagt haben:

»Die Jugend liebt den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.«

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Kommt Ihnen dieses Zitat bekannt vor? Ich erinnere mich daran, dass ich es vor fast 20 Jahren einmal in einem politischen Redebeitrag gehört habe und damals schon dachte: Meine Güte, so ein alter Hut. Es scheint geradezu ein Gesetz, dass die beliebtesten Zitate großer Persönlichkeiten grundsätzlich nicht authentisch sind. Dies gilt nicht nur für Mark Twain, Albert Einstein und Benjamin Franklin, denen nun bereits wirklich jeder Quatsch in den Mund gelegt worden ist, sondern auch für Sokrates. Bei ihm ist es sogar besonders einfach, da er keine Schriften hinterlassen hat, sondern nur als mehr oder weniger literarisierte Figur bei seinen Schülern und Zeitgenossen auftaucht.

Nicht Sokrates, sondern Freeman

Tatsächlich ist das obige Zitat ein verfremdeter Auszug aus der 1907 publizierten, sonst aber vergessenen Dissertation Kenneth John Freemans an der Universität Cambridge. Darin ging es um das Schulwesen im alten Griechenland. Das heißt nicht, dass Verachtung für die laschen Sitten der »Jugend von heute« damals kein Thema gewesen wäre. In Akt 3, Szene 3 von Aristophanes' Komödie »Die Wolken« (in der übrigens auch eine sehr lächerliche Version des Sokrates auftaucht) gibt es einen Dialog, in dem ein »Vertreter des Rechts« lang und breit schildert, wie vorbildlich sich die Jugend früher in der Schule angestellt habe, ganz im Gegensatz zur verderbten Gegenwart. Die Sache mit den übereinandergelegten Beinen scheint ihn besonders zu ärgern, hebt er doch innerhalb von siebzehn Versen dreimal hervor, dass früher die Jungen ihre Beine immer sittsam gerade gehalten hätten. Dies hat es dann auch zu Freeman und ins angebliche Sokrates-Zitat geschafft.

Der »alte Hut« kommt also auf einem langen Umweg aus der Antike. Er ist die 1907 entstandene umgekehrte Paraphrase eines Auszugs aus einer Komödie von 423 v. Chr. Man kann vermuten, dass es damals bereits ein lange gängiges Klischee war, dass sich die Alten stets über die angebliche Verweichlichung der jüngeren Generationen beschwerten, sonst wäre es wenig lustig gewesen, sie damit in einer Komödie zu Wort kommen zu lassen.

Sokrates hingegen wurde unter anderem zum Tode verurteilt, weil man ihn angeklagt hatte, die Jugend zu verderben und von den rechtschaffenen Sitten der Vorväter abzubringen – und zwar, indem er eine Art des unabhängigen und kritischen Denkens lehrte, die heute als wichtige Keimzelle der westlichen Philosophie gilt. Er ist insofern die völlig falsche Galionsfigur für das ewige Geschwätz vom jugendlichen Sittenverfall.

Und übrigens nicht nur dafür. Sokrates wurde seinerzeit auch vorgeworfen, den jungen Athenern ein – wie wir heute sagen würden – zu naturwissenschaftliches Weltbild zu vermitteln, sie zum Beispiel zu lehren, Sonne und Mond seien keine Götter, sondern bloß Gegenstände wie Stein und Erde. Wenn sich heute Corona-Leugner, die esoterische Haltlosigkeiten über die simpelsten naturwissenschaftlichen Befunde stellen, »Querdenker« nennen und sich auf die abendländische Tradition des kritischen Selbstdenkens berufen, deren Wappenträger Sokrates bis heute ist, fände der alte Mann mit dem Bart das vermutlich wirklich komisch.

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