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Klimawandel: Das Zeitalter der bösen Überraschungen

Nicht nur eine wärmere Welt, sondern blankes Chaos. Zwei aktuelle Meldungen verdeutlichen, wie unberechenbar der Klimawandel die Zukunft macht. Ein Kommentar von Lars Fischer.
Ein Mann mit geöffnetem Regenschirm steht auf einem wasserumspülten Felsen.
Die globalen Tagesmitteltemperaturen des Jahres 2023 lagen vor allem in der zweiten Jahreshälfte oft weit über den bisherigen Rekordwerten.

Zwei neue Befunde verwandeln die Klimakrise von einem abstrakten Konzept in greifbare, gegenwärtige Wirklichkeit. Der eine ist ein symbolischer Wert: Erstmals war laut dem Copernicus-Erdbeobachtungsprogramm der EU die Welt ein ganzes Jahr lang wärmer als 1,5 Grad über der Referenzperiode im 19. Jahrhundert – jener Marke, die als Pariser Klimaziel in die Geschichte eingegangen ist. Der andere verdeutlicht, welche dramatische Folgen sich hinter solchen scheinbar kleinen Zahlen verbergen. Eine Studie in der Fachzeitschrift »Science Advances« legt nahe, dass sich Europas Klima schon bald grundlegend ändern wird, sobald die großräumigen Meeresströmungen im Atlantik zusammenbrechen.

Beides klingt erst einmal nach den inzwischen üblichen generellen Warnungen vor dem Klimawandel. Die gemeldete globale Temperaturanomalie von 1,52 Grad ist nur ein einzelner Jahreswert; die Währung des Klimawandels dagegen sind Mittelwerte über Jahrzehnte. Und auch die Meldung, dass die Nordatlantische Zirkulation (AMOC) samt unserem Wärme liefernden Golfstrom kippen könnte, kommt alle zwei, drei Jahre mal wieder. Aber die Situation hat sich verändert.

Ein Grund dafür ist die ungewöhnliche Häufung extremer Wetterereignisse im Jahr 2023. Außerordentliche Hitzewellen auf allen Kontinenten, Überschwemmungen im Mittelmeerraum und verheerende Wirbelstürme wie Freddy in Ostafrika, Otis in Mexiko und Mocha in Myanmar sind nur Teil einer langen Liste von Katastrophen, die oft im Schatten weltpolitischer Dramen standen. Eine wärmere Welt ist eine gefährlichere Welt, in der Wetterextreme oft jedes Maß übersteigen und auf die menschliche Infrastruktur und Gesellschaft nicht vorbereitet sind.

Der andere Grund ist, dass manche Fachleute vermuten, die aktuellen Wärmerekorde ließen sich nicht durch den bekannten Erwärmungstrend und natürliche Schwankungen erklären. Womöglich, und das wäre eine wirklich böse Überraschung, treibt ein bisher unbekannter Effekt die globalen Temperaturen zusätzlich in die Höhe. Dafür sprechen vor allem Ausmaß und Dauer der Anomalie. Jeder einzelne Monat seit Juni war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, teilweise mit bemerkenswertem Abstand. So war der Dezember ein halbes Grad wärmer als der vorherige Rekord – eine enorme Spanne bei einem globalen Mittelwert.

Chaos am Horizont

Auffällig und Besorgnis erregend ist vor allem, dass die Weltmeere plötzlich außerordentlich warm sind. In der zweiten Jahreshälfte 2023 lag ihre Temperatur durchschnittlich mehr als 0,3 Grad über den Werten von 2022. Dieser Rekord ist deswegen so bedenklich, weil die Ozeane einerseits viel schwächer auf kurze Schwankungen reagieren und weil sie andererseits eine große Rolle für das Wetter spielen. Er zeigt auch, dass wir noch viel zu wenig davon verstehen, was in den Weltmeeren passiert und wie schnell sie sich wirklich verändern.

Es ist deswegen nur folgerichtig, dass nun die neue »Science«-Studie das bekannte Szenario vom Zusammenbrechen des nordatlantischen Strömungssystems viel klarer und vor allem näher darstellt, als es bisher meist der Fall war. Die Untersuchung ist die erste, die den AMOC-Kollaps in einem hoch aufgelösten globalen Klimamodell reproduziert, und sie bestätigt, dass die Gefahr des Zusammenbruchs real ist. Einfließendes Süßwasser aus schmelzenden Gletschern und zunehmenden Niederschlägen schwächt die AMOC nach und nach, bis sie ganz abrupt binnen weniger Jahrzehnte komplett zusammenbricht. Das, so die Studie weiter, würde in Europa – aber auch weltweit – bisher nicht gekanntes Wetterchaos auslösen.

Wann das genau passieren soll, ist noch ziemlich unklar – Beobachtungsdaten aus dem Südatlantik deuten aber darauf hin, dass sich die AMOC derzeit auf diesen Kipppunkt zubewegt. Bisher galt ein Zusammenbruch der ozeanischen Zirkulation im 21. Jahrhundert als sehr unwahrscheinlich. Diese Annahme fußte allerdings auf Modellen, die den entscheidenden Faktor – Veränderungen im Salzgehalt – nicht korrekt wiedergeben.

Nachdrücklich unterstrichen wird dieses sich abzeichnende Szenario einer bevorstehenden, dramatischen Verschiebung in den Weltmeeren durch den unerwartet starken Anstieg der globalen Temperatur über die symbolische Schwelle von 1,5 Grad. Zusammen mit der verheerenden Abfolge von Extremwetterereignissen und den schon sichtbaren Veränderungen im Ozean in den letzten zwölf Monaten sind diese beiden Momentaufnahmen das bisher klarste Warnsignal einer unkalkulierbaren Zukunft. Das Zeitalter des Klimawandels ist nicht bloß die Ära steigender Temperaturen, sondern das Zeitalter der bösen Überraschungen.

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