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Lobes Digitalfabrik: Die KI als Gutachter

Bei Verkehrsunfällen und der Schadensregulierung menschelt es den Versicherern offenbar zu sehr. Können es unbestechliche Algorithmen richten?, fragt unser Kolumnist Adrian Lobe.
Aus den Bildern vom Unfall errechnet eine KI, wie teuer es wird

Autofahrer kennen das Problem: Selbst wenn man den Unfallgegner nur leicht touchiert, kommen schnell ein paar tausend Euro zusammen. Und fast schlimmer noch sind die Scherereien, die der Vorfall auslöst – mit den Versicherungen, mit Gutachtern und Gegengutachtern und womöglich sogar mit dem Gericht.

Immer mehr Versicherungen setzen darum bei der Schadensregulierung auf künstliche Intelligenz. Das Versprechen: Die unbestechlichen Algorithmen bewerten einen Schaden objektiv. Schluss mit parteiischen Gutachten und überteuerten Reparaturen.

So hat das Start-up Tractable bereits vor einigen Jahren eine App entwickelt, die mit Hilfe einer Software Schäden an Fahrzeugen erkennt und bilanziert. Der Nutzer macht mit seinem Handy Fotos des Fahrzeugs und lädt diese in der App hoch. Ein Objekterkennungsalgorithmus erkennt dann, um welches Fahrzeugteil es sich handelt – zum Beispiel die Stoßstange. Ist die Datenbasis zu dünn, bittet der virtuelle Assistent den Nutzer, weitere Fotos zu machen. Das KI-System scannt dann Pixel für Pixel die Fotos und identifiziert das jeweilige Teil.

In einem weiteren Schritt erkennt die Software, welche Teile ersetzt werden müssen und was das erwartungsgemäß kostet. Schließlich bekommt der Nutzer ein Gutachten auf sein Handy, in dem die einzelnen Schadensposten aufgelistet sind. Der Vorgang dauert nur ein paar Minuten. Der Algorithmus als Gutachter.

»Spektrum«-Kolumnist Adrian Lobe kommentiert den digitalen Wandel. Wie gehen wir um mit fortschreitender Digitalisierung? Wie mit Bots und Meinungsmaschinen? Und welche Trends dominieren die Gesellschaft in Zukunft?
Alle Folgen von »Lobes Digitalfabrik« finden Sie hier.

Autos liefern ideales Datenmaterial für das maschinelle Lernen: Sie verfügen über eine einheitliche Form, die Modelleigenschaften gehorchen geometrischen Regelmäßigkeiten. Zwischen Windschutzscheibe und Heckscheibe zu unterscheiden, ist für einen Algorithmus deutlich leichter als, sagen wir einmal: zwischen Chihuahua und Heidelbeermuffin.

Computer sind gut darin, regelmäßige Muster zu erkennen. Je mehr Trainingsdaten der Algorithmus verarbeitet, desto präziser kann er eine Abweichung vom Sollzustand erkennen, und nicht anderes versteht das Zivilrecht unter einem Schaden. Tractable hat in den vergangenen Monaten Kooperationen mit zahlreichen Autoversicherern geschlossen, unter anderem Admiral Seguros (Spanien), Covéa (Frankreich) und The Hartford (USA).

Schon vor Corona wurden Schäden teils von Algorithmen beziffert, doch die Pandemie hat der computergestützten Schadensregulierung einen Schub gegeben. Ein zentraler Grund: Die algorithmische Auswertung von Fotos reduziert Kontakte – und damit Kosten. Man braucht keinen Gutachter mehr zu beauftragen, wenn ein Computer Schäden bewertet.

KI rekonstruiert den Unfallverlauf

Die Digitalisierung wirbelt die Versicherungsbranche durcheinander. So hat das israelische Softwareunternehmen Nexar kürzlich in Zusammenarbeit mit dem japanischen Versicherer Mitsui Sumitomo Insurance ein KI-System entwickelt, das mit Hilfe von Dashcam-Aufnahmen und Fahrzeugdaten Unfälle rekonstruiert. In dem automatisch erstellten Unfallbericht wird die Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie die darauf einwirkenden Beschleunigungskräfte angegeben. Unter Rückgriff auf den Unfalldatenspeicher (die »Black Box«) erfasst das System auch Beschleunigungen oder Bremsvorgänge.

Kfz-Versicherer greifen schon seit einiger Zeit im Rahmen von Telematik-Policen auf Fahrdaten zurück, um umsichtiges Fahren mit entsprechenden Prämien zu bonifizieren. Fraglich ist, ob diese Daten zur Klärung der Schuldfrage herangezogen werden dürfen. Der Bundesgerichtshof hat 2018 in einem Urteil entschieden, dass Dashcams einen Verstoß gegen den Datenschutz darstellen, aber als Beweismittel vor Gericht zulässig sind.

Auch bei der algorithmenbasierten Fotoanalyse von Fahrzeugteilen stellen sich Fragen. Was, wenn es bewölkt ist? Wenn an Fahrzeugteilen Schmutzpartikel vorhanden sind? Wenn Teile fehlen? Dann kann der Algorithmus schon mal einen zu hohen Schaden errechnen. Die Modelle werden meist nur unter Laborbedingungen trainiert. Im Realbetrieb, wo Licht- und Sichtverhältnisse meist nicht optimal sind, offenbart die Software häufig Schwächen.

Vor Irrtümern sind auch die KI-gestützten Schätzungsinstrumente nicht gefeit. Gewiss, Computer können gerade bei leicht klassifizierbaren Schäden bestimmte Vorprüfungen durchführen. Den Gutachter wird die Maschine aber nicht ersetzen können. Am Ende braucht es neben künstlicher noch immer menschliche Intelligenz, um einen Schaden korrekt zu bilanzieren.

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