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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Unendlich ist nicht immer gleich unendlich

In unserer Welt ist nichts unbegrenzt vorhanden. In der Mathematik ist das anders: Im Reich der Zahlen stößt man schnell auf Unendlichkeiten – und sie werfen viele Fragen auf.
Viele Unendlichkeit-Zeichen
Die Unendlichkeit ist keine gewöhnliche Zahl und gibt viele Rätsel auf. Zum Beispiel, ob es eine Unendlichkeit zwischen der Größe der natürlichen und der reellen Zahlen gibt.

In einer vergangenen Kolumne habe ich Sie herausgefordert, eine möglichst große natürliche Zahl zu finden. Durch das Wörtchen »natürlich« habe ich ausgeschlossen, dass Sie einfach mit »unendlich« antworten und damit das Spiel torpedieren. Doch selbst wenn ich als Schiedsrichterin unendlich große Werte zuließe, würden sich dadurch Probleme ergeben. Was wäre, wenn eine andere Person zum Beispiel »unendlich plus eins«, »unendlich im Quadrat« oder »unendlich hoch unendlich« anbringt? Wer hat in diesem Fall das »Spiel der großen Zahlen« gewonnen?

Keiner. Denn »unendlich« ist keine gewöhnliche Zahl, die den üblichen Rechenregeln folgt. So ist der Zahlenstrahl unendlich lang, unabhängig davon, ob Sie ihn bei minus unendlich, null oder eins starten lassen. Eine Aussage wie »unendlich plus eins« ergibt daher keinen Sinn. Außerdem gibt es auch bei unendlichen Werten Unterschiede: Wie sich nämlich herausstellt, ist unendlich nicht immer gleich unendlich. Damit wäre auch die bloße Aussage »unendlich« kein Garant für einen Sieg des Wettbewerbs.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Um das zu erkennen und in eine saubere Theorie zu gießen, hat die Menschheit mehrere Jahrtausende gebraucht. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstand ein mathematisches Konzept der Unendlichkeit. Die Grundlage dafür legte der Mathematiker Georg Cantor (1845–1918), als er sich Gedanken über Mengen und deren Größe machte. {1,2,3,4} und {x,y,z,q} bestehen zum Beispiel beide aus jeweils vier Elementen und haben daher die Größe 4, was Fachleute als »Kardinalität von 4« bezeichnen.

Die natürlichen Zahlen {0, 1, 2, 3, …} enthalten hingegen unendlich viele Elemente: Man kann zu jeder natürlichen Zahl eins addieren; das Ergebnis ist dann wieder eine natürliche Zahl. Wenn man nun die Menge aller geraden Zahlen {0, 2, 4, …} betrachtet, würde man vermuten, dass diese nur halb so groß ist – schließlich ist nur jede zweite natürliche Zahl darin enthalten. Doch Cantor erkannte, dass beide Mengen (die natürlichen und die geraden Zahlen) die gleiche Kardinalität haben.

Es gibt genauso viele natürliche wie gerade Zahlen

Zu diesem überraschenden Ergebnis gelangte er, als er die Elemente beider Mengen miteinander verglich. Möchte man herausfinden, ob eine Menge A (zum Beispiel Personen an einer Bushaltestelle) genau so groß ist wie eine andere Menge B (freie Plätze in einem Bus) ist, kann man jedem Element aus A ein Element aus B zuordnen: Man weist jeder Person einen Sitzplatz zu. Sind am Ende noch Personen übrig, die stehen müssen, dann ist A größer als B; gibt es hingegen noch freie Plätze, muss B größer als A sein. Wenn man aber jeder Person genau einen Sitzplatz zuordnen kann, dann sind beide Mengen exakt gleich groß und haben somit die gleiche Kardinalität. Auf diese Weise untersuchte Cantor auch die Kardinalität von unendlichen Mengen. Zum Beispiel die natürlichen und die geraden Zahlen: Man kann jede natürliche Zahl auf genau eine gerade Zahl abbilden, etwa indem man die Paare (0,0), (1,2), (2,4), (3,6), …, (n, 2n) bildet. Die Abbildung geht genau auf: Es bleiben weder natürliche noch gerade Zahlen am Ende übrig. Daher enthalten beide Mengen gleich viele Elemente.

Bijektion | Zwei Mengen sind gleich groß, wenn es eine Eins-zu-eins-Abbildung (Bijektion) zwischen den Elementen der jeweiligen Mengen gibt.

Hier zeichnet sich schon eine wichtige Lehre ab: Sobald man mit Unendlichkeiten zu tun hat, sollte man sich nicht auf sein Bauchgefühl verlassen. Tatsächlich stößt man in dem Bereich immer wieder auf unerwartete Ergebnisse.

Wie sich herausstellt, ist nicht nur die Kardinalität der natürlichen und der geraden Zahlen gleich. Der Trick mit der Abbildung zwischen zwei Mengen lässt sich ebenfalls auf andere Beispiele anwenden. So sind die ungeraden Zahlen genauso groß wie die natürlichen, ebenso wie die ganzen Zahlen (die auch negative Werte enthalten) und die Menge aller Primzahlen – und sogar die rationalen Zahlen (die Bruchzahlen umfassen) haben die gleiche Kardinalität. Für jede dieser Mengen gibt es eine Abbildung, die jedem Element eindeutig eine natürliche Zahl {1, 2, 3, …} zuordnet. Das heißt, man kann die Elemente dieser Mengen – zumindest theoretisch – nummerieren (wenn man unendlich viel Zeit und Muße zur Verfügung hätte). Dieser Tatsache verdankt die kleinste Unendlichkeit ihren Namen: Die Kardinalität der natürlichen Zahlen heißt »abzählbar unendlich« und wird durch ℵ0 dargestellt. Anstatt also bei dem Wettbewerb der großen Zahlen bloß mit »unendlich« zu antworten, könnte man die Aussage mit ℵ0 (gesprochen: Aleph null) verdeutlichen.

Erstes Diagonalargument von Cantor | Man kann alle rationalen Zahlen auflisten, indem man den Pfeilen folgt und alle unechten Brüche ignoriert.

Die bisher vorgestellten Mengen haben also alle dieselbe Kardinalität. Doch die reellen Zahlen durchbrechen das Muster. Lässt man zusätzlich zu den rationalen Zahlen auch irrationale Werte wie die Wurzel aus zwei, Pi oder die Chaitinsche Konstante zu, dann wird die Menge plötzlich so groß, dass man ihre Elemente nicht mehr aufzählen kann – selbst wenn die Liste unendlich lang wäre.

Die Unendlichkeit der reellen Zahlen ist größer als die der natürlichen

Cantor konnte diese Tatsache mit seinem zweiten »Diagonalargument« beweisen. Dabei handelt es sich um einen Widerspruchsbeweis: Man beginnt mit der Annahme, es gäbe abzählbar unendlich viele reelle Zahlen und leitet daraus eine widersprüchliche Aussage her. Nach den Gesetzen der Logik folgt daraus, dass die Grundannahme (»Es gibt abzählbar unendlich viele reelle Zahlen«) falsch sein muss.

Für das Diagonalargument muss man nicht einmal die gesamten reellen Zahlen betrachten, sondern es genügt schon anzunehmen, dass alle reellen Werte zwischen null und eins abzählbar seien (was sich als falsch herausstellen wird). Demnach könnte man also all diese Werte in einer unendlich langen Liste untereinanderschreiben, etwa:

0,32476834567854765…
0,84737834527845745…
0,78347864586745768…
0,78347863763547879…

Wie die Liste sortiert ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie vollständig ist. Sie muss jede reelle Zahl zwischen null und eins enthalten. Cantor konstruierte aber eine weitere Zahl zwischen null und eins, die nicht in der Liste auftaucht. Und zwar auf folgende Weise: Die erste Nachkommastelle der neuen Zahl entspricht der ersten Dezimalstelle der ersten Zahl in der Liste plus eins, also im obigen Beispiel vier. Die zweite Dezimalstelle erhält man, indem man die zweite Dezimalstelle der zweiten Zahl plus eins rechnet, also fünf. Für die dritte erhöht man die dritte Nachkommastelle der dritten Zahl um eins und so weiter. Auf diese Weise ergibt sich eine irrationale Zahl mit unendlich vielen Nachkommastellen, die nicht in der Liste auftaucht, da sie sich stets in mindestens einer Ziffer von jeder aufgelisteten Zahl unterscheidet. Damit kann die Liste nicht vollständig sein – was der ursprünglichen Annahme widerspricht. Cantor konnte somit folgern, dass es »überabzählbar viele« reelle Zahlen gibt.

Eine beweisbar unbeweisbare Vermutung

Neben der Kardinalität ℵ0 der natürlichen Zahlen gibt es also (mindestens) noch eine größere (überabzählbare) Unendlichkeit. Diese wäre also eine noch bessere Wahl als ℵ0 beim Wettbewerb der großen Zahlen. Aber wie groß ist die Menge der reellen Zahlen? Das fragte sich auch Cantor, als er untersuchte, ob es sich dabei um die nächstgrößere Kardinalität nach ℵ0 handelt. Sprich: Gibt es eine Menge, die größer ist als die natürlichen Zahlen, aber kleiner als die reellen? Da der Mathematiker keine solche Menge fand, formulierte er 1878 seine berühmte »Kontinuumshypothese«. Es gibt keine Menge, deren Kardinalität zwischen der der natürlichen und der der reellen Zahlen liegt. Beweisen konnte er seine Vermutung allerdings nicht.

Und auch keiner sonst. Denn wie sich herausstellt, gehört die Kontinuumshypothese zu jenen Aussagen, die sich unserem mathematischen Grundgerüst entziehen. Sie sind beweisbar unbeweisbar: Man kann die Vermutung mit den gängigen mathematischen Mitteln weder beweisen noch widerlegen. Dass es in jeder sinnvollen Formulierung der Mathematik solche Unvollständigkeiten gibt, hat Kurt Gödel 1931 bewiesen.

Das heißt, man könnte annehmen, die Kontinuumshypothese sei wahr und würde niemals auf einen Widerspruch stoßen. Umgekehrt könnte man aber auch postulieren, dass es weitere Unendlichkeiten zwischen der Kardinalität der natürlichen und der reellen Zahlen gibt – und würde ebenso wenig Probleme bekommen. Das ist für Mathematikerinnen und Mathematiker nicht besonders zufrieden stellend. Immerhin geht es dabei um die Größe der reellen Zahlen: Niemand weiß, wie viele dieser Werte existieren. Daher versuchen einige Personen das Grundgerüst des Fachs zu erweitern, um aus dieser größeren Theorie das mögliche Werkzeug abzuleiten, mit dem sich die Kontinuumshypothese beweisen oder widerlegen lässt.

Bei diesem Vorgehen sind sich die Fachleute jedoch keineswegs einig. Das Fundament der Mathematik, die »Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre«, besteht aus neun unbewiesenen Grundaussagen (so genannte Axiome), aus denen man das gesamte Fach ableitet. Es hat mehrere Anläufe gebraucht, bis man einen passenden Satz aus Axiomen gefunden hatte, der sich für die Aufgabe eignet. Denn die Axiome müssen mehrere Eigenschaften erfüllen: Es sollen möglichst wenige sein, sie sollen intuitiv wahr und nicht allzu kompliziert sein. Ein Beispiel dafür ist das Leermengenaxiom, das besagt, dass eine Menge ohne Elemente (die leere Menge) existiert. Oder das Paarmengenaxiom, wonach zwei Mengen mit denselben Elementen gleich sind.

Die neun Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (zusammen mit dem Auswahlaxiom) genügen, um die uns bekannte Mathematik aufzubauen. Doch die Kontinuumshypothese entzieht sich ihnen. Um die Kardinalität der reellen Zahlen genauer zu untersuchen, muss man die aktuelle Mengenlehre um weitere Grundaussagen erweitern. Man könnte beispielsweise die Aussage »Die Kontinuumshypothese ist wahr« an den jetzigen Satz anhängen. Allerdings wäre das kein gutes Axiom: Im Gegensatz zu den anderen ist nicht direkt ersichtlich, warum die Aussage wahr sein sollte.

Daher suchen Fachleute nach anderen Axiomen, die intuitiv wahr sind und mit deren Hilfe sich die Kontinuumshypothese untersuchen lässt. Es gibt bereits ein paar vielversprechende Kandidaten – einige würden Cantors Vermutung bestätigen, während andere sie widerlegen. Welche erweiterte Version der Mengenlehre sich (wenn überhaupt) durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Und so lange bleibt auch die Frage ungeklärt, wie viele reelle Zahlen es überhaupt gibt. Doch auch wenn das ein Rätsel bleibt, ist schon lange bekannt, dass es wesentlich größere Mengen gibt als die der reellen Zahlen – und somit bessere Kandidaten, um das Spiel der großen Zahlen zu gewinnen. Mehr dazu erfahren Sie in der nächsten Kolumne.

In die Kolumne hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Nicht nur zwischen den reellen Zahlen findet sich stets eine weitere reelle Zahl, das gilt auch für die rationalen Zahlen. Außerdem wurde »die Wurzel aus minus zwei« als Beispiel für einen reellen Wert aufgeführt – das sollte aber natürlich die »Wurzel aus zwei« heißen. Wir bitten, dies zu entschuldigen.

​​Was ist euer Lieblingsmathethema? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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