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Leseprobe »Leadership in Game of Thrones«: Populäre Kultur und Leadership-Forschung

In Game of Thrones geht es nicht nur um Fantasy, sondern um die Menschen in unsicheren Zeiten. Zentrale Themen der Serie sind Macht, Führung und Folgen – die Kernthemen der Leadership- Forschung, die uns heute allerorts begegnen. Medienprodukte zeigen uns die Komplexität von Führung ganz anders als Lehrbücher mit ihren oft blutleeren Erklärungen.
Viele Menschen laufen einer Person nach

In Game of Thrones geht es nicht primär nur um eine Fantasiegeschichte, sondern um die Menschen. Die Serie lässt sich als eine ernsthafte Erkundung der menschlichen Natur in unsicheren Zeiten sehen. Die HBO-Serie, die sich als düstere Qualitätsserie gegenüber dem normalen öffentlichen TV-Programm positioniert, hat immense globale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im Ranking der am häufigsten ausgezeichneten TV-Serien liegt Game of Thrones mit 38 Emmys und 128 Nominierungen zwischen 2011–2019 fast ganz vorne, hinter Saturday Night Live (seit 1975), vor Frasier, den Simpsons, und vielen anderen großen Serien dieser Dekade wie Breaking Bad und Mad Man. Das kontroverse Interesse ist auf jeden Fall hoch. So hatte in der Anfangszeit Laurie Penny im New Statesman Game of Thrones als »präkulturelles Disneyland mit Drachen« bezeichnet, voll von Frauenfeindlichkeit, Heterosexismus, Cissexismus und toxischer Männlichkeit. Der Überfluss an Blut, Brüsten und Vergewaltigungen gepaart mit Gewalt und Machtkämpfen in der Serie von David Benioff und D. B. Weiss, die auf der Romanreihe A Song of Ice and Fire von George R. R. Martin basiert, war ein grober Schock für das globale Publikum, das strategisch kalkulierte und sanitäre Machtspiele in House of Cards gewöhnt war oder zumindest halbwegs beherrschte Bösartigkeit in medial geläufigen und damit weniger befremdlichen Drogenkriegen wie in Breaking Bad. Der Kampf um die Macht in Westeros ist körperlicher und blutiger als in jedem heutigen wirtschaftlichen oder politischen Zusammenhang, aber genauso hintertrieben was die Verfehlungen, Manipulationen und Niederlagen angeht.

Über die acht Staffeln hinweg vertieften und differenzierten sich die Analysen von Game of Thrones und das populärkulturelle Phänomen ließ sich in vielerlei Hinsicht melken. Es ist zum beliebten Objekt von Mediendiskussionen über das Heute, die Menschheitsgeschichte und sogar die Flüchtlingskrise in Syrien geworden. Im Wirtschaftsbereich präsentierten alsbald Online-Portale wie Businessinsider Rankings der »Leadership-Skills« der Serien-charaktere, und der Economist publizierte einen Beitrag über das virulente Thema Frauen in Führungsposition in Hinblick auf die Machtverschiebung in Westeros: »Women rule Westeros. How strange«.

In diesem Buch benutze ich eben diesen Themenbereich der Macht, der Herrschaft oder Führung – neudeutsch: Leadership – als Ausgangspunkt für eine Analyse von Game of Thrones. Ich begreife populäre Kultur als performative Praxis, die den Menschen Sinn vermittelt und Verständnis ermöglicht, auch von zwischenmenschlicher Interaktion und uns alle betreffenden Kämpfen um Einfluss, Geltung und Bedeutung. Damit bringe ich die Forschung im Bereich populärer Kultur mit der Managementforschung zusammen, was zunächst überraschend klingen mag, aber fast notwendig erscheint, wenn man länger über die zentralen Machtkämpfe und ihre Protagonisten nachdenkt. So möchte ich zunächst die Wahl des Themas »Leadership« weiter erörtern, und dann auch skizzieren, wie selbst die rationalistisch erscheinende Managementforschung eine Bereicherung für die Analyse, Kritik und Bedeutung von Serienkulturen sein kann. Ebenso profitiert die medien- und kulturwissenschaftliche Forschung zu Serienkulturen von dieser interdisziplinären Erweiterung in Richtung Wirtschaftswissenschaften, obwohl und gerade weil die Disziplinen Management mit dem Paradigma der Effizienz und die Kulturwissenschaften mit ihrem Paradigma der Wirksamkeit sich lange kaum vereinen ließen, in der deutschsprachigen Forschung noch weniger als international.

Zentrale Themen der Serie sind Macht, Führung und Folgen. Das sind die Kernthemen der Leadership-Forschung, und vor allem Themen, die uns heute allerorts begegnen. So haben die kritischen Managementforscher Learmonth und Morrell die »Allgegenwärtigkeit von Leadership« im heutigen Diskurs festgestellt. Es gibt keine allgemeingültige Definition von Leadership, aber aktuelle Sichtweisen sehen Führung als einen Prozess, der die Beeinflussung anderer beinhaltet, der im Kontext einer Gruppe geschieht und bestimmte Ziele verfolgt, die mehr oder minder von Führenden und Geführten geteilt werden. Führung ist also nicht klassisches Management mit Funktionen wie Planen, Organisieren, Steuern und Kontrollieren, sondern hat mit Sinngebung, Motivation und Beeinflussung zu tun.

Das Thema ist virulent, und auch in der Weltpolitik erleben wir den Aufstieg und das Scheitern großer Politiker, von denen sich die Menschen zunächst inspiriert führen und dann doch abwenden. Noch direkter und interaktiver gesehen, wollen in der heutigen Arbeitswelt Menschen nicht nur Anweisungen erhalten, sondern motiviert und inspiriert werden, Sinn erfahren und sich selbst verwirklichen, sie suchen nach Orientierung und Personen, die ihnen die Richtung weisen. Aber das alleine reicht nicht. Sie setzen sich mit diesen Führungspersonen permanent auseinander und entscheiden, ob überhaupt und wie lange sie ihnen folgen. Das gilt vor allem für Bereiche der Kreativwirtschaft und der Wissensarbeit, der Dienstleistungen und vielen anderen Situationen in unserer dynamischen Welt, und so lässt sich von den Prinzipien der Führung und Interaktion, die wir in Serienkulturen verhandelt sehen, auch für unser Leben lernen.

Die vielfältigen Ansätze zwischen Kooperation und Konkurrenz, die wir am Bildschirm vorgeführt bekommen, lassen sich überall einsetzen, in der Arbeit, im Alltag, bis zum Privatleben. Kritisch wurde schon angemerkt, dass die Diskurse, Techniken und Imperative von Management zunehmend Einzug in unsere Lebenswelt erhalten, wo auch das Privatleben schon »gemanaged« wird. Wenig verwunderlich also, dass ein breites Publikum jenseits typischer Fantasy-Konsumenten Game of Thrones rezipiert, wo uns diese Themen um Macht und Einfluss dauernd begegnen und verhandelt werden.

Oder andersherum: Die Serie ist um diese Themen herum aufgebaut. Verschiedenste Management-Theorien und Praxiserfahrungen werden von den Massenmedien und gerade auch in TV-Serien verarbeitet, bearbeitet und an die Mediennutzer vermittelt – wobei die Programminhalte die zeitgemäßen, aktuellsten Theorien wiedergeben. Auch wenn das Fantasy-Drama nicht als Leadership-Parabel geschaffen wurde, so sind doch diese Themen heute virulent und zeigen sich in dem Medienprodukt, das sich im psychoanalytischen Vokabular als »sozialer Traum«, als Produkt vielstimmiger und kreativer Zusammenarbeit, bezeichnen ließe und damit als eine Reflexion unserer heutigen Gesellschaft.

Über das Thema Leadership im Besonderen erfährt die Öffentlichkeit nicht nur durch ein Managementstudium, Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journalen und Fachzeitschriften, Fortbildungen oder aus eigenen Erfahrungen im täglichen Arbeitsleben. Vielmehr erschließen sich die Menschen Themen, denen sich die Wissenschaft bisweilen zuerst beschreibend widmet, auch durch die populäre Kultur. So lernen sie etwa von TV-Serien, wie gute Zusammenarbeit funktioniert, und können von Game of Thrones mitnehmen, wie Führung und Folgen zwischenmenschlich ausgehandelt werden. Die Serie erzählt uns nicht nur von dem Thema, sondern kann uns helfen, bestimmte Aspekte von Führung und menschlichen Machtkämpfen anders und deutlicher zu sehen. Das gilt sowohl für die einzelnen Zuschauer als auch für die Wissenschaft, wenn wir neue Erkenntnisse für die Managementforschung ableiten und vor allem Ideen für interdisziplinäre Perspektiven in den Film- und Fernsehwissenschaften im Speziellen und den Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen gewinnen können.

Populäre Kultur kann Fiktion sein und Fantasy, Unterhaltung und Amüsement, aber ist dabei immer eine Quelle von Wissen über die Welt. Die Inhalte sind anders gestrickt als wissenschaftliche Texte, die Themen abgrenzen, parzellieren und tief graben und Wissen als kompakte und schwerverdauliche Päckchen produzieren. Serienkulturen zu untersuchen bringt uns in einen Raum zwischen der bewussten Analyse und den unbewussten populären Träumen unserer Gesellschaft. Game of Thrones, wie andere populärkulturelle Texte auch, ermöglicht uns, neue Perspektiven auf unsere Welt zu entwickeln und Einsichten zu erlangen, die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen überspringen und erweitern. Hier geht es nicht darum, Wissensansprüche abzugrenzen, Wissen weiter aufzuteilen und wortwörtlich zu »disziplinieren«. Populäre Serien sollten vielmehr als Spiegel unserer Zeit angenommen und genutzt werden, um neuen Sichtweisen nachzugehen. So analysiere ich Game of Thrones in diesem Buch interdisziplinär mithilfe der Leadership- Forschung als Teil der Management- und Organisationsforschung.

Populäre Kultur hat das Potenzial, die Wissensproduktion zu verbreitern und zu erweitern und so haben bereits verschiedene Richtungen wissenschaftlicher Forschung die Analyse populärer Kultur erweitert. Beispielsweise betrachten Wissenschaftler aus dem Bereich International Relations regelmäßig populäre Kultur und haben sich auch Game of Thrones als politischen Mikrokosmos angesehen, etwa um politische Autorität in ihren geschlechtsbezogenen Formen, Realpolitik und politische Trends zu diskutieren. Diese Betrachtung liegt ziemlich nahe, denn politisches Handeln in einem Kontext lässt sich recht leicht in einen anderen übertragen. Dabei hilft natürlich der literarische Bezug der Serie zu den Rosenkriegen im mittelalterlichen England, zu den Kreuzzügen und dem Hundertjährigen Krieg, wozu der Buchautor George R. R. Martin des Öfteren befragt wird und womit sich Fans ausführlich beschäftigen, etwa auf eigenen Webseiten.

Die Herrschaft von Königen und Herzogen ist eine etwas andere Managementform als wir sie heute im globalen finanzgetriebenen Kapitalismus erleben. Aber auch das herrschende Königshaus von Westeros hängt hochverschuldet am finanziellen Tropf der Iron Bank. Zudem stellten Königreiche die ersten volkswirtschaftlichen Einheiten und mit ihren Burgen als Zentren die betriebswirtschaftlich geführten Organisationen mit Arbeitsteilung dar. Die Romanhelden sind nicht direkt mit zeitgemäßen Führungspersonen zu vergleichen und ihren PowerPoint-Meetings und Server-Problemen. Unsere menschlichen Probleme sind aber vom Prinzip her nicht zu weit entfernt von dem heimlichen Ränkeschmieden, den moralischen Dilemmata und verbalen Konflikten fiktionaler Literatur. Erkenntnisse lassen sich, obwohl der äußere Anschein abweicht, direkt unter die Haut und in das Herz der modernen Zusammenarbeit übertragen.

Die Fantasy-Welt präsentiert zahlreiche Protagonisten, die sich als Führungstypen mithilfe der zeitgenössischen Leadership-Literatur diskutieren lassen, was vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz so nahliegend erscheint wie die Betrachtung mittelalterlicher Geschichte und internationaler Politik. Die visuelle Distanz von Game of Thrones zur Welt der Wirtschaft lässt aber mehr Raum, Stereotype auszuspielen und zu brechen – was die Betrachtung einer Büro-Serie wie Mad Men, Ally McBeal oder Suits durch das theoretische Dispositiv von »Leadership« nicht im gleichen Ausmaß zulassen würde. Die Thematik der Macht ist, wie geschildert, zentral für die Serie, die sich auch von populären Fantasywelten mit Märchenanleihen und primär weiblichen Zielgruppen distanziert und nicht zuletzt durch die knallharte Ablehnung des romantischen Endes (»happily ever after«) an das ernsthafte TV-Drama anschließt. Auch ist Westeros nur pseudomittelalterlich mit Drachen und Zombies und ahistorisch, indem populäre Mythen aus verschiedenen Orten, Epochen und Zeiten zusammengerührt werden. So zeigt die Serie eigentlich wenig aus der Vergangenheit, aber umso mehr von unserer Vorstellung – nicht von der Vergangenheit, sondern von unserer Sicht auf das Heute.

Game of Thrones enthüllt uns eine harte Sicht auf unsere Welt. In unserer demokratischen Gesellschaft ist die Stellung von Gewalt eine andere als dort, also stellt dies für uns einen Bruch da. Eine Parallelisierung der Geschehnisse ist natürlich trotzdem möglich, denn obwohl wir unbestritten die kulturellen Errungenschaften hochhalten und nicht im »dunklen Mittelalter« leben wollen, erfahren wir doch, dass Moral und soziale Verträge oft nicht wirklich auf der Höhe unserer Zeit sind, geschweige denn eingehalten werden. An vielen Beispielen von Grausamkeit, Ausbeutung und Ethikskandalen ist gerade die Wirtschaftswelt maßgeblich beteiligt. Uns ist schon bewusst, dass »das Mittelalter« unter uns ist oder in Form von politischen Bedrohungen vor unserer Haustür. Brutalität gehört zum Leben vieler Menschen in politisch und wirtschaftlich instabilen Orten immer noch dazu, ist also nicht im Mittelalter verblieben. Dinge wie Intrigen, Verrat und Machtspiele mögen für die meisten von uns nicht häufig körperlich brutal sein, können aber psychisch und emotional eine zerstörerische Wirkung entfalten.

Die politische Lage ist generell schnelllebig und das zeigt vor allem Game of Thrones, wo sich das Herrscher- und Machtkarussell flott dreht. Der Vorspann verweist schon darauf, wenn die Kamera über die dreidimensionale Landkarte von Westeros und Essos und die Schlösser und Bauten aus maschinenartigen Teilen gleitet und verharrt, bis diese sich, von einer unsichtbaren Dynamik getrieben, emporgeschraubt haben. Die gezeigten Bauten verändern sich, abhängig von den Orten der Handlung der jeweiligen Staffel und beinhalten wechselnd Königsmund, Winterfell, Meereen, Braavos, Drachenstein, Vaes Dothrak, Harrenhal, Schnellwasser und andere. Die uhrwerksgleiche, stetige Erscheinung verweist auf die Zwangsläufigkeit und Unabwendbarkeit, mit der sich Machtzentren immer wieder neu bilden und in architektonischer Form manifestieren. Ironisch zeigt das die Simpsons-Folge »Exit through the Kwik-E-Mart« als intertextuelles Zitat dieser Ästhetik, wenn die städtischen Gebäude einschließlich des Weißen Hauses abgefahren werden und im letzten Bild die Mauer zum Norden als eine riesige Couch erscheint.

Die Serie präsentiert uns menschliche Interaktion in unsicheren Zeiten. Die Protagonisten kämpfen mit sich selbst, mit Entscheidungen und mit anderen. Obwohl es sich um ein Fantasy-Spektakel im mittelalterlichen Setting handelt, ist Game of Thrones nun auch ein Führungsdrama und ein Spiegel unserer Zeit: Die Serie zeigt eine Bandbreite an Führungspersonen verschieden Geschlechts, mit unterschiedlichsten körperlichen Voraussetzungen und Hintergründen und durchaus auch zeitgenössische Leader, die es vor einigen Jahrzehnten schlichtweg nicht gegeben hätte. Game of Thrones situiert sich in den geopolitischen Veränderungen zwischen der westlichen Welt und umgebenden Ländern. Die Geschichte beginnt mit feststehenden kulturellen und rassischen Stereotypen, die den europäischen weißen König zeigen, den exotischen Kriegsherrn aus dem Morgenland und die schöne, aber durchtriebene Königin. Die Stoßrichtung der Serie ist die Zerstörung traditioneller Territorien und Machtverhältnisse, die Zerschlagung von adligen Familienlinien und die Massenbewegung von Völkern wie in Daenerys’ transnationalem Vorhaben.

In der fünften Staffel sind die Hälfte der Figuren Migranten, politische Flüchtlinge und in die Diaspora vertriebene Bürger. Die Situation erscheint weniger segregiert und kosmopolitisch, eine zierliche Blondine mit Drachen tritt an gegen einen unehelichen Bastard aus dem Norden, beraten von einem Eunuchen und einem Kleinwüchsigen. Die mächtigen Frauen in der Serie sind unbestreitbar modern. Daenerys mit ihren Machtattributen – keine Pistolen, sondern Drachen – und ihren Superkräften, die knallharte und selbstbewusste Cersei Lennister und Arya Stark, die von der kleinen Tochter zur tödlichen Killerin wurde, sind Figuren des feministischen Empowerment und nehmen Rollen ein, die sonst für Männer reserviert waren. Auch die Männer sind wie aus Hipster- und Lifestyle-Serien von heute: Der spätere König im Norden, Jon Snow, will nicht führen und sagt das auch, und zwar dauernd, der Kurzzeit-König Tommen Lennister will von Mama liebgehabt werden, und der Berater mehrerer Könige, Tyrion, gibt offen und ungefragt seine vielfältigen Fehler und Schwächen zu.

Derlei Fantasy-Geschichten sowie auch andere Stories nach dem Spätmittelalter und vor unserer technologischen Zeit lassen sich als Inspiration in vielen Bereichen benutzen. Die Managementforschung hat sich bereits der klassischen Literatur, dem Theater und der Kunst sowie verschiedensten Film- und TV-Produkten zugewandt. Die Stärke diese Medienprodukte liegt darin, dass sie Einblicke in die (zwischen-) menschliche Komplexität von Führung bietet, die Lehrbücher der Betriebswirtschaftslehre mit blutleeren Modellen und Matrizen und oberflächlichen Fallstudien nicht bieten können. Manager und Unternehmen sind in den letzten Jahrzehnten spektakulär negativ aufgefallen mit Ethik- und Sex-Skandalen (Morgan Stanley), schlecht verheimlichten Umweltsünden (Volkswagen), volkswirtschaftlichen Betrügereien (Deutsche Bank) und globalen Pleiten (Lehman Brothers). So hat sich die Managementforschung und -ausbildung der Welt der Kunst und populären Kultur zugewandt, um Ethikdiskussionen, Reflektion und menschliche Inspiration über populäre Kultur in diese Disziplin zu bringen.

Beispielsweise haben sich Managementforscher in die Lektüre von Shakespeare zur Führungskräfteentwicklung vertieft. Kritische Leser erkennen, dass etwa Heinrich V beileibe kein moralisches Ideal ist, sondern ein düsterer Charakter und Meister der Täuschung mit verschiedenen Gesichtern, die gesamte Henriade eine Abhandlung über Machtergreifung und Machterhaltung als »Frage des vollendeten Schauspiels«. Die Literatur führt dabei das Eingenommensein von der eigenen Rolle vor: Ist der Akteur dem Bilde des unbesiegbaren Selbst schon erlegen? Anders als die Managementliteratur mit ihren weit verbreiteten personenorientierten, charismatischen und heroischen Führungsmodellen erscheinen diese Protagonisten nicht als Helden, sondern mit ihren unheroischen Seiten. So werden viele Hauptpersonen in der populären Kultur, in der Kunst, in Literatur und Theater als inkohärente, unschlüssige Charaktere gezeigt. Solche Helden sind nicht der ästhetische Beweis für Führungstheorien, sondern halten uns Masken der Verunsicherung entgegen, um Skepsis und Zweifel gegenüber allgemein akzeptierten, aber nicht wirklich nachhaltigen Konzepten von Führung und Folgen zu entzünden.

Das entspricht unserer heutigen komplexen Welt, in der gescheiterte Führungspersonen zwar nicht wort- wörtlich hingerichtet werden, aber Entscheidungen unter großer Unsicherheit, mit Bauchschmerzen und ungewissem Ausgang treffen müssen. Die prominenten Leader in Game of Thrones tun dies fortlaufend. Manchmal geht dies gut, und manchmal greifen sie spektakulär daneben! Wer sich auf die Erzählung einlässt, kann großartige Stärken und spektakuläre Schwächen einmal ganz offen ausgespielt erleben. Wer mitfühlt beim Zuschauen, kann Mechanismen von Führung und Folgen nicht nur rational nachvollziehen, sondern auch mit dem Empfinden gewahr werden und die sinnliche Wahrnehmung der menschlichen Interaktion als eine Art ästhetische Kompetenz ausbauen. Nicht zuletzt entfaltet sich Führung nicht nur im Kopf sondern auch in der sinnlichen Wahrnehmung der Menschen.

Gerade Game of Thrones zeigt über archetypische Führungsmodelle die Abgründe und auch hässlichen Seiten von Herrschaft, die man sonst nur als Resultat in den Nachrichten sieht, mit personalisierenden Nahaufnahmen, gut ausgeleuchteter Selbstzerstörung und ausführlichen Auseinandersetzungen mit den früher oder später doch immer zweifelnden Anhängern. Die politische Nachricht an das Publikum lautet: Es ist nötig, von der durchweg ideologischen Perspektive der zentralen, meist männlichen Führungsperson wegzukommen. Wenn man eine differenziertere Sicht annimmt, sieht man, dass nicht einer führt und andere folgen, sondern dass Menschen ihre Interaktion und ihre soziale Ordnung beständig verhandeln. Dies wertzuschätzen öffnet den Blick für eigene Verantwortung und für mögliche Veränderung.

Game of Thrones spiegelt, so meine These, eine Sicht auf Führung wider, die man auch im Stand der wissenschaftlichen Forschung im Bereich Leadership erkennt: Führungspersonen selbst wurden lange und ausführlich untersucht, aber die Anhänger haben viel weniger Aufmerksamkeit erhalten. Tatsächlich hat es auch in der Forschung viele Jahrzehnte gedauert, bis der Gedanke ernst genommen wurde, dass es keine Führung ohne Anhänger oder Gefolgsleute (Follower) gibt. Wie diese beiden Parteien interagieren, ist eine komplexe und nicht einfach zu erklärende Sache.

In der Forschung ist man soweit, dass Leadership nicht als Objekt betrachtet wird, das einer Person mit Macht quasi gehört. Das sehen wir in Game of Thrones an vielen Stellen symbolisch ausgedrückt: Zwar dreht sich der Kampf um das Objekt des Eisernen Throns, aber die Menschen, die auf ihm sitzen, wechseln relativ schnell. Ebenso wie Kronen und goldene Anstecknadeln der Berater und Hände des Königs (im Original: »Hand of the King«). An einer denkwürdigen Stelle wirft die Mutter der Drachen, Daenerys, den Herrscherstab mit der Peitsche als Zeichen der Befehlsgewalt in den Sand und verlässt gemeinsam mit den aus der Sklaverei befreiten Soldaten die Stadt Astapor. Die Kämpfer der Armee der Unbefleckten folgen ihr freiwillig. Hier wird klar: Führung entsteht nicht über ein Objekt, sondern zwischen den Menschen, durch Akzeptanz, geteilte Werte und Wertschätzung.

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