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Metzler Lexikon Philosophie: Tugend

(griech. Arete). In der späteren Bedeutung gibt es den Begriff zur Zeit der Abfassung der Homerischen Epen noch nicht. Die Helden dort sind als Menschen in ihrer Ganzheit Vorbilder, nicht Träger bestimmter, von ihnen ablösbarer Eigenschaften, die als anstrebenswert gelten könnten. Im 11. Gesang der Ilias, Vers 401 ff., scheint Odysseus vor die Wahl gestellt zu sein, im Kampf standzuhalten oder zu fliehen. Doch als Angehöriger seiner Schicht kann er gar nicht anders als standhalten. Er hat keine Wahl und auch keine spezifische T., wie beispielsweise die Tapferkeit, die ihn dazu bringen könnte, standzuhalten. Auch im oikos, dem naturwüchsigen antik-griechischen Gemeinwesen, weiß jeder Mensch aufgrund seiner sozialen Stellung, was er zu tun hat. Hier wie dort gibt es keinen Tugendkatalog und somit auch keine Tugendlehre. Von T.en kann erst gesprochen werden, wenn es sich um Eigenschaften handelt, die jeder Mensch haben kann. Erst Platon stellt in der Politeia einen Tugendkatalog auf. Die Erkenntnis einer T. geschieht am besten dadurch, dass man sie im Großen wahrnimmt. Der gerechte Staat sei besser zu analysieren als ein einzelner gerechter Mensch. Dieser Zugang ist für Platon insofern kein Problem, als öffentliches Recht und die Moral des einzelnen Bürgers in der Antike in Einklang stehen. Platon entdeckt auf diese Weise die T.en: Weisheit, Tapferkeit, Maßhaltung. Diese haben ihre Entsprechung in den drei Ständen des Staates: Lehrstand (Führer), Wehrstand (Wächter), Nährstand (Handwerker und Bauern) und in den Körper- und Seelenteilen des Menschen: Kopf, Brust, Leib oder: Geist (logistikon), Gemüt (thymos), Leidenschaft (epithymia). Sind alle drei Stände im Staate in Übereinstimmung, so dass jeder »das Seinige tut und sich nicht in vielerlei mischt« (Politeia 433 d), kann man von einem gerechten Staat sprechen. Und ebenso wird die Gerechtigkeit als höchste T. des einzelnen Menschen ausgezeichnet. Die sokratische Frage nach dem Wesen der T., die Thema in den platonischen Frühdialogen ist, zeigt, dass es zwar anerkannte T.en gibt, deren inhaltliche Bestimmung aber unklar ist. Die Harmonisierung aller T.en, also die Herstellung von Gerechtigkeit, ist für den Staat wie für den einzelnen Menschen das Ziel. Weder für den Staat noch für den einzelnen Menschen könne es eine T. allein für sich geben. Die T.en entfalten nur dann ihre Kraft, wenn sie miteinander in Harmonie gegenwärtig seien. Über die Benennung hinaus ist es schwer zu sagen, was für Platon der Inhalt einer jeden T. ist. Und das ist nicht nur ein Übersetzungsproblem. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung können wir andere Bedeutungen der einzelnen T.en ausmachen. Auch innerhalb einer Gesellschaft lassen sich mehrere Lesarten ein und derselben T. ermitteln. So sagt Aristoteles zur Glückseligkeit, die das telos aller T.en sei: »Die einen erklären sie für etwas Greifbares und Sichtbares wie Lust, Reichtum und Ehre, andere für etwas anderes, mit unter auch dieselben Leute bald für dies, bald für das« (Eth. Nic. 1095 a). – Aristoteles, der dem Gedanken vom harmonischen Einklang der T.en ebenfalls verpflichtet ist, sieht das geglückte Leben in der vernunftgemäßen Tätigkeit der Seele, die von der T. angeleitet wird, verankert. Unter einer menschlichen T. versteht Aristoteles die Tüchtigkeit der Seele. Die Seele hat bei ihm einen mit und einen ohne Vernunft ausgestatteten Seelenteil. Dementsprechend sind auch die T.en eingeteilt. Es gibt dianoëtische oder Verstandestugenden und ethische oder sittliche T.en. Verstandestugenden sind Weisheit, Verstand und Klugheit, sittliche sind z.B. Freigebigkeit und Mäßigkeit (vgl. Eth. Nic. 1102). Die Verstandestugenden erlange der Mensch durch Belehrung und die sittlichen T.en durch Gewohnheit. Die T.en sind uns nach Aristoteles also nicht von Natur gegeben. Um ein geglücktes Leben führen zu können, müssten in einem Menschen die beiden Seelenteile zusammenwirken. Die Willenswahl des Menschen muss harmonisch mit Verstand und sittlichem Habitus in Übereinstimmung sein. Die T. wählt dabei das richtige Ziel, der Verstand das richtige Mittel, um das Ziel zu erlangen. Entscheidend für die Mittelwahl ist das Treffen der rechten Mitte zwischen zwei Extremen. – Im christlichen MA. sind die T.en Eigenschaften, die den Menschen in die Lage versetzen, das Erden-Tal unbeschadet durchschreiten zu können und jenseitige Glückseligkeit zu erlangen. Die T.en sind mit dem Glauben verbunden und erwachsen aus ihm. Lebt man tugendhaft, dann wird »gewährt, in das ewige Reich unseres Herrn und Retters Jesus Christus einzutreten« (vgl. 2. Petrusbrief I, 3–11). – Kant stellt keinen Tugendkatalog auf, so wie wir ihn in der Antike und im Neuen Testament finden; er postuliert, dass sich die Handlungsmaximen der Menschen am Kategorischen Imperativ orientieren sollen: Jeder soll prüfen, ob seine Handlungsmaximen mit denen der anderen Handelnden verträglich sind. Nur Maximen, die eine solche Prüfung bestehen, sind gerecht, weil das »Reich der reinen praktischen Vernunft« selbst gerecht sei (vgl. Akad.-Ausg. VIII, S. 378). Und ein Mensch, der stets unter Anleitung von so gefundenen Maximen handelt, ist tugendhaft. T. ist bei Kant also die moralische Verfassung des Menschen. Ein Verstoß gegen das praktische Gesetz, das der Mensch sich als vernünftiges Wesen gegeben hat, widerspricht seiner Würde und seiner Selbstachtung. Darum habe der Mensch die Pflicht, nach diesem Grundsatz zu handeln. Kant spricht in diesem Zusammenhang in seiner »Tugendlehre« auch von einer Tugendpflicht (vgl. Akad.-Ausg. VI, S. 394 ff.). – Hegel nimmt in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts Bezug auf die antike Vorstellung: »Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist« (§ 150 A). – Neuerdings erleben wir eine Renaissance der Tugendethik, die darauf zurückzuführen ist, dass die Motivation zum moralischen Handeln in den ethischen Erörterungen nicht hinreichend berücksichtigt wurde (vgl. Pauer-Studer 2003, S. 55 ff. und Rippe/Schaber 1998, S. 9). Gegen die Tugendethik wird eingewandt, dass sie auf den Charakter eines Menschen abstellt und nicht auf eine Handlung, so dass jemand mutig handeln, sich aber für eine falsche Sache einsetzen kann, z.B. mutig für das Foltern von Menschen in Strafverfahren. Außerdem vermag die Tugendethik in praktischen Fragen, ob Abtreibung, aktive Sterbehilfe, der Gebrauch menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken und Präimplantationsdiagnostik zulässig seien, »keine Orientierung zu liefern« (Rippe/Schaber 1998, S. 14). Dass wir diese heute in der komplexen Welt brauchen, ist unbestritten. Wir müssen informiert sein und uns klar machen, wie wir bei diesen neuen und schwierigen Problemen richtig entscheiden. Tugendhaftigkeit allein reicht also nicht aus.

Literatur:

  • J. Ebbinghaus: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Darmstadt 1968 (S. 1–193 zu Kant)
  • H.-G. Gadamer: Platons dialektische Ethik. Hamburg 1931 (bes. §§ 5 und 6)
  • A. McIntyre: Der Verlust der Tugend. Frankfurt 1987
  • H. Pauer-Studer: Einführung in die Ethik. Wien 2003 (S. 55–82)
  • C. Prantl: Über die dianoethischen Tugenden in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. München 1952
  • K.P. Rippe/P. Schaber (Hg.): Tugendethik. Stuttgart 1998
  • J. Ritter: Metaphysik und Politik. Frankfurt 1969 (S. 57–179 zu Aristoteles und S. 256–309 zu Hegel).

DH

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