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Die Amphibien Europas. Bestimmung - Gefährdung - Schutz


Zwei Amateurzoologen haben diesen Feldführer aus der einschlägigen Reihe der "Kosmos-Naturführer" geschrieben und sich damit einer Tiergruppe gewidmet, die heute nicht nur um ihrer selbst willen, sondern besonders aus ökologischen Gründen immer stärker interessiert. Gerade die Amphibien sind wegen ihrer Gewässerbindung besonders empfindliche Indikatoren für Umweltqualität, und das Schlagwort vom global amphibian decline wird in Symposien und kleineren Zirkeln heiß und kontrovers diskutiert.

Um so erstaunlicher ist, daß die Amphibienfauna Europas noch alles andere als vollständig erfaßt ist. Dies wird gleichermaßen bei den Schwanzlurchen wie bei den Froschlurchen deutlich. Das Autorenehepaar verfolgt hier einen progressiven Ansatz und übernimmt moderne systematische Auffassungen, auch wenn sie sich noch nicht überall durchgesetzt haben. So wird der korsische Feuersalamander sicherlich zu Recht als eigene Art behandelt; der erst 1988 entdeckte Lanza-Alpensalamander hat seinen eigenen Art-Paragraphen, und die Aufwertung der früheren Unterarten des Kammolches (Triturus cristatus) in die vier selbständigen Arten T. cristatus, dobrogicus, karelini und carnifex entspricht neuesten genetischen Untersuchungsergebnissen. Ein weiteres Beispiel ist die Radiation der lungenlosen Höhlensalamander (Gattung Speleomantes) in mehrere voneinander isolierte Arten auf Sardinien.

Bei den Froschlurchen Europas hatte dieses Buch ebenfalls eine Reihe neuer Arten aufzunehmen und als eigenständig abzuhandeln, darunter auch solche, die erst in neuerer Zeit durch moderne Untersuchungsmethoden als eigene Arten identifiziert werden konnten, während die ihnen angehörigen Tiere schon lange bekannt waren. Hierher gehören die Scheibenzüngler (Discoglossus) und vor allem die Grünfrösche mit ihren genetisch hochkomplizierten teilhybriden Paarungssystemen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, April 1992, Seite 26). Weil die Hybriden, allen voran der altbekannte Wasserfrosch (Rana esculenta), ihren Elternarten reproduktive Energie entziehen können, haben die beiden Froschkundler Rainer Günther und Alain Dubois ein solches System Synklepton genannt, die einzelnen Hybriden wie etwa R. esculenta Klepta (Singular Klepton nach dem griechischen Wort für Dieb). Durch das Kürzel kl. vor dem Artnamen sollte deutlich gemacht werden, daß es sich um keine echte, biologische Art handelt. Die Autoren übernehmen dieses nicht global durchgesetzte Verfahren, bezeichnen damit aber auch – im Widerspruch zu dieser Konvention – einen noch unbenannten Hybridfrosch aus Italien mit Rana kl.

Die Forschung schreitet gerade in diesem komplexen Bereich so rasch voran, daß das Buch hier am schnellsten veraltet: Was kürzlich noch unter Rana ridibunda lief, ist heute teilweise als R. epeirotica und R. shqiperica erkannt (letzterer allerdings in seinem Status umstritten). Doch auch in der kurzen Spanne seit Erscheinen des Buches wurde eine weitere eigene Art aus dem Bereich des Seefrosches herausgetrennt: R. balcanica, der vor allem wegen seiner abweichenden Paarungsrufe als eigenständig enttarnt wurde.

Mancher Nichtfachmann ist zu Recht erstaunt, wie viele Überraschungen auch heute das Identifizieren der europäischen Amphibien bietet und künftig bieten wird – eine Gruppe von meist auffälligen Wirbeltieren ist selbst vor unserer Haustür kaum in ihrem Artenbestand erfaßt! Hinzu kommen noch spektakulärere Fälle: Es werden nicht nur länger bekannte Tiere erst jetzt als Angehörige neu definierter Arten richtig eingeordnet, sondern auch andere entdeckt, die niemand vorher gesehen hat, wie etwa die erst als junges Fossil und dann zwei Jahre später als lebende Art entdeckte Balearenkröte – und das ausgerechnet auf Mallorca.

Nun enthält das Buch der Nöllerts erheblich mehr als nur eine dürre Bestimmungshilfe für Arten. Jedes Artkapitel enthält außer dem wissenschaftlichen sowie den deutschen, englischen und französischen Vulgärnamen, einer Charakteristik und einer Beschreibung auch Angaben zu folgenden Stichpunkten: Geschlechtsunterschiede, jahreszeitliche Unterschiede, Verwechslungsarten, Verbreitung, Unterarten, Lebensraum, Nahrung, Feinde, Abwehrverhalten, Fortpflanzung, Larvenentwicklung und Geschlechtsreife, Langlebigkeit, Jahres- und Tagesaktivität sowie schließlich Gefährdung und Schutz. Die Länge der einzelnen Abschnitte ist variabel und hängt von den verfügbaren Kenntnissen ab. Die Autoren haben zweifellos ein sehr großes Literaturpensum durchgearbeitet, um alle Aspekte kompetent und dennoch straff und knapp darstellen zu können.

Hervorzuheben ist auch die ausgezeichnete, vielfach farbige Illustrierung. Im Gegensatz zu praktisch sämtlichen bisherigen Büchern zum Thema wird hier auch innerartliche Variabilität bildlich dokumentiert, von der vergleichenden Abbildung verschiedener Unterarten (beispielhaft instruktiv beim Feuersalamander) bis hin zur Variabilität innerhalb ein und derselben Population, zum Beispiel der Triturus-Arten. Obwohl fast alle Arten und Unterarten in sehr schönen Lebendaufnahmen gezeigt werden, wird die Variation der Unterseitenfärbung der einheimischen Molche auch an Farbphotos frischtoter Tiere demonstriert. Ich halte das trotz der zu erwartenden Kritik für legitim, da der Artenschutz durch dieses diagnostische Erfordernis nicht beeinträchtigt wird.

Während alle Artnamen standardgemäß mit Autor und Publikationsjahr aufgeführt sind, fehlt dies bei den Unterarten. Gerade weil – wie ausgeführt – viele von ihnen später als Arten erkannt und entsprechend im Rang angehoben worden sind, wären hier die Autoren- und Jahresangaben sinnvoll gewesen, zumal auch jüngere, noch nicht etablierte Entdeckungen einbezogen sind. So erfordert es zum Beispiel einige Recherchen, bis man findet, wer etwa den pyrenäischen Grasfrosch Rana temporaria canigonensis wann und wo beschrieben hat. Dies könnten die Autoren dem Leser in einer kommenden Auflage erleichtern.

Bislang war nur von dem speziellen Teil die Rede, der auf Seite 147 beginnt. Ihm vorgeschaltet sind mehrere dichotome Bestimmungsschlüssel, die durch ihre didaktisch exzellente photographische und zeichnerische Bebilderung bestechen. Eine europäische Länderliste gibt für jedes Land die dort bekannten Amphibienarten an. Allerdings: Die politische Entwicklung in Europa ist oft noch rasanter als die Evolution der Amphibien, und Staaten zerfallen schneller in Tochterprodukte als die Objekte des Buches!

Mit einleitenden Kapiteln über das Wesen der Amphibien, ihre stammesgeschichtliche Herkunft, ihre Systematik und Anatomie, über Lebensäußerungen wie Lokomotion, Wanderungen, Fortpflanzung, Lautäußerungen, Nahrung und Feinde, schließlich über die wichtigsten Lebensräume, ohne die auch Schutz wenig Sinn hätte, geben die Autoren eine ausgezeichnete Einführung in eine Tiergruppe, die uns heute als immer wichtiger erscheint, immer mehr Interessenten findet und auch auf unserem Kontinent großen Forschungsbedarf offenbart. Der kann nicht nur von Berufszoologen geleistet werden, die Hilfe der Amateure ist mehr gefragt denn je. Hierzu haben Andreas und Christel Nöllert einen großen Beitrag und Anreiz für die Zukunft geleistet, mit einem Buch, das mit Sicherheit sehr viel besser ist als alle seine Vorgänger.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1994, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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