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Dreidimensionale Struktur einer Domäne des zellulären Prion-Proteins aufgeklärt

Erstmals konnte jetzt die Raumstruktur eines Teils jenes Proteins ermittelt werden, das als Erreger tödlich verlaufender Hirnerkrankungen wie des Rinderwahnsinns (BSE) oder der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen verdächtigt wird.

Im 18. Jahrhundert beschrieb ein britischer Tierarzt bei Schafen eine neue, tödliche Erkrankung, die sich in Erregbarkeit, Juckreiz, Desorientierung und Lähmung äußerte. In England "Scrapie" (nach to scrape, sich kratzen) genannt, unterscheidet sie sich von herkömmlichen Infektionskrankheiten dadurch, daß bisher keine Bakterien oder Viren als Überträger entdeckt werden konnten. Vielmehr scheint ein neuartiger Erreger vorzuliegen, der als "Prion" bezeichnet wird und keinerlei Nucleinsäuren als Erbsubstanz enthält.

Nach der sogenannten Nur-Eiweiß-Hypothese, die der englische Molekularbiologe John S. Griffith erstmals 1967 umrissen und Stanley B. Prusiner von der Universität von Kalifornien in San Francisco 20 Jahre später detailliert formuliert hat (siehe seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 44), ist der physiologisch wirksame Bestandteil des Prions chemisch identisch mit einem bestimmten körpereigenen Zelloberflächenprotein bisher unbekannter Funktion, das alle Wirbeltiere vor allem in den Neuronen des Gehirns produzieren. Der einzige Unterschied zwischen der zellulären und der infektiösen Form soll in der räumlichen Struktur liegen. Der ungewöhnliche Erreger könnte sich vermehren, indem er das zelluläre Prion-Protein, auf das er trifft, an bestimmten Kontaktstellen festhält und dazu veranlaßt, ebenfalls die infektiöse Form anzunehmen. Dadurch würden in einer Kettenreaktion immer weitere zelluläre Prion-Proteine in infektiöse umgewandelt.

Ergebnisse von Experimenten in zahlreichen Laboratorien weltweit aus den letzten Jahren stützen diese Nur-Eiweiß-Hypothese. Den überzeugendsten Beleg lieferte die Gruppe von Charles Weissmann am Institut für Molekularbiologie der Universität Zürich. Sie konnte zeigen, daß Mäuse, die kein zelluläres Prion-Protein herstellen, weil das Gen dafür ausgeschaltet wurde, gegenüber dem Erreger resistent sind.

Auch beim Menschen kennt man tödlich verlaufende Erkrankungen, die allem Anschein nach ebenfalls durch Prionen hervorgerufen werden können. Darunter fallen das erbliche Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Syndrom, die erbliche Schlaflosigkeit, die durch Kannibalismus übertragene Kuru-Erkrankung und die spontan, infektiös oder auch erblich auftretende Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (CJD).

Vor etwa zehn Jahren breitete sich in Großbritannien bei Rindern die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE), populär als Rinderwahnsinn bezeichnet, epidemieartig aus. Als wahrscheinlichste Ursache stellten sich Futterzusätze heraus, die aus prion-infizierten Kadavern hergestellt worden waren.

Wie Experimente ergaben, bei denen Tieren infektiöses Prion-Protein direkt ins Gehirn injiziert wurde, ist die Krankheit nicht nur innerhalb einer Spezies von Tier zu Tier, sondern – mit geringerer Effizienz – auch von einer Tierart auf eine andere übertragbar. Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint um so geringer zu sein, je weniger die Arten miteinander verwandt sind, was als Artenbarriere bezeichnet wird.

Zu der Frage, ob eine Übertragung über die Nahrungskette möglich ist, liegen nur sehr spärliche Daten vor. Anfang dieses Jahres nährte jedoch die Entdeckung einer neuen Variante der CJD-Erkrankung (vCJD) den Verdacht, daß sich Menschen durch den Verzehr von Rindfleisch anstecken könnten.

Das Prion-Protein besteht wie die ungefähr 100000 anderen Eiweißstoffe, die in Säugetieren vorkommen, aus einer Kette von Aminosäuren, deren Anzahl und Reihenfolge die Identität des Moleküls festlegen. In der Eiweißforschung gibt es ein zentrales Dogma, wonach jedes Protein eine einzigartige, definierte Raumstruktur einnimmt, die für seine natürliche Funktion entscheidend ist. Im Widerspruch dazu unterstellt die Nur-Eiweiß-Hypothese, daß die Aminosäurekette des Prion-Proteins auf mindestens zwei funktionell verschiedene Arten gefaltet sein kann.

Falls dies zutrifft, kommt der Kenntnis der Raumstruktur beider Formen entscheidende Bedeutung für das Verständnis der molekularen Vorgänge bei der Krankheitsübertragung zu. Mit dieser Information ließen sich einerseits die Kontaktstellen zwischen dem zellulären und dem infektiösen Prion-Protein identifizieren und andererseits mögliche Schwachstellen in der zellulären Form erkennen, von denen die Umwandlung in die infektiöse Variante ausgeht. Daraus ergäben sich langfristig auch Ansatzpunkte für die gezielte Entwicklung von Medikamenten.

Wir haben deshalb vor etwa einem Jahr am Institut für Molekularbiologie und Biophysik der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich damit begonnen, die Raumstruktur des zellulären Prion-Proteins aufzuklären. Aus technischen Gründen wählten wir dasjenige der Maus, das sich in seiner Aminosäuresequenz nur sehr geringfügig von dem des Menschen und des Rindes unterscheidet.

Damit sich die dreidimensionale Gestalt eines Proteins ermitteln läßt, muß man es zunächst einmal in reiner, wasserlöslicher Form gewinnen. Daß alle Versuche dazu gescheitert waren, bildete die Hauptschwierigkeit zu Beginn unseres Projekts. Durch systematische Untersuchungen fanden wir jedoch heraus, daß der funktionell wahrscheinlich wichtigste Teil des Moleküls, der die letzten 111 der insgesamt 208 Aminosäuren umfaßt, eine in sich abgeschlossene Struktureinheit bildet, die als Domäne bezeichnet wird.

Es gelang uns, diese Domäne in gentechnisch veränderten Bakterien in großen Mengen und in löslicher Form zu produzieren. Nach Reinigung mit konventionellen Verfahren hielten wir so schließlich für die Strukturbestimmung ausreichende Mengen des reinen Prion-Proteinfragments in Händen.

Mit der vor etwas mehr als zehn Jahren von einem von uns (Wüthrich) und seinen Mitarbeitern entwickelten Methode zur Ermittlung dreidimensionaler Proteinstrukturen in Lösung mittels magnetischer Kernresonanzspektroskopie (NMR-Spektroskopie) konnten wir dann tatsächlich die genaue dreidimensionale Gestalt dieses Fragments bestimmen. Das Ergebnis war überraschend: Es zeigte ein bisher unbekanntes Faltungsmuster (Bild). Danach besteht das Prion-Protein aus drei spiralförmig angeordneten a-Helices und einem zweisträngigen, antiparallelen b-Faltblatt; die zweite und die dritte a-Helix sind über eine Schwefelbrücke miteinander verbunden. Weitere Versuche ergaben, daß dieses Fragment eine sich selbständig faltende Domäne darstellt, welche die gleiche Struktur haben dürfte wie der entsprechende Abschnitt des kompletten zellulären Prion-Proteins.

Das ermittelte Faltungsmuster widerspricht in entscheidenden Punkten einem von vielen Wissenschaftlern favorisierten Modell von Prusiner und seinem Kollegen Fred E. Cohen, wonach der hintere Teil des Prion-Proteins vier a-Helices und keine b-Faltblatt-Struktur enthalten sollte. Gerade das Faltblatt könnte jedoch von großer Bedeutung für die Umwandlung der zellulären in die infektiöse Form sein, in der dieses Strukturelement nach spektroskopischen Untersuchungen anscheinend vermehrt vorkommt. Eine weitere Schwachstelle ist möglicherweise die erste a-Helix, die eine ungewöhnliche Aminosäuresequenz aufweist und vom Rest des Proteins relativ isoliert ist.

Als höchst aufschlußreich erweist sich schon jetzt der Vergleich der Raumstruktur mit genetischen Daten. Bei vererbbaren Prionen-Erkrankungen des Menschen sind mehrere Substitutionen von Aminosäuren identifiziert worden, die offenbar mit einer erhöhten Anfälligkeit für die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung einhergehen. Wie die genaue Analyse ihrer Positionen zeigt, destabilisieren die meisten davon wahrscheinlich die Raumstruktur des zellulären Prion-Proteins und erleichtern damit möglicherweise seine Umwandlung in die infektiöse Form.

Ferner stellten wir fest, daß diejenigen Aminosäuren, die nach genetischen Experimenten wesentlich für die Artenbarriere zwischen Mensch und Maus zu sein scheinen, sich im Bereich der relativ isolierten ersten a-Helix konzentrieren (rechts im Bild auf Seite 17). Da die Artenbarriere offenbar darauf beruht, daß der Kontakt zwischen infektiöser und zellulärer Form des Prion-Proteins erschwert ist, könnte dies bedeuten, daß die infektiöse Variante das zelluläre Prion-Protein im Bereich dieser a-Helix angreift.

Auf der Grundlage der aufgeklärten Raumstruktur sind nun neue, gezielte Experimente zur Erforschung von Prionen-Erkrankungen möglich. Insbesondere steht, wie Weissmann betont, das entscheidende Experiment für die Nur-Eiweiß-Hypothese noch aus: Man müßte im Reagenzglas das natürliche Prion-Protein mit geringen (katalytischen) Mengen des infektiösen Gegenstücks versetzen und nachweisen, daß die Infektiosität mit der Zeit zunimmt. Daß sich eine funktionell wichtige Domäne mit bekannter dreidimensionaler Struktur nunmehr in großen Mengen rein erzeugen läßt sollte die Planung und Durchführung derartiger Versuche wesentlich erleichtern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1996, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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