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Urbanisierung: Die Architekten der Megastädte

Alle 16 Monate entsteht eine neue Megacity – ein wuchernder Superurbanismus, den vor allem Armut antreibt. Städteplaner versuchen, ihm soziale Formen zu geben. Ihre Mittel: Seilbahnen, Lowtech und halbe Häuser.
Häuserschlucht in Hong Kong

Wachstum. Wo man auch hinsieht. Vertikal, horizontal, in jede Richtung. Das Phänomen hat hunderte Städte weltweit erfasst und spielt sich in einem noch nie da gewesenen Tempo ab. Die Rede ist von Megastädten: Orte, so gewaltig, dass das Häusermeer nicht am Horizont endet. Es sind Gebilde, die laut UN-Angaben jetzt schon einer halben Milliarde Menschen als Heimat dienen. Und es werden immer mehr. Die urbanen Megazentren werden von sich selbst überrumpelt. Stadtverwaltungen wissen gar nicht, wohin mit all den Leuten. Also suchen die sich einfach selbst einen Ort zum Leben. Die Folge ist ein superurbaner architektonischer Wildwuchs.

Per UN-Definition wird eine Stadt oder Agglomeration zur Megastadt, wenn die Einwohnerzahl die Marke von zehn Millionen übersteigt. Der Trend hat vor allem den globalen Süden erfasst. 24 der 31 heute bekannten Megazentren wachsen in so genannten Schwellenländern. Fast alle entstanden in den letzten 35 Jahren. Der Prozess dahinter heißt »mushrooming«: Megastädte, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein Grund dafür ist, dass die Sterblichkeit der urbanen Bevölkerung massiv sank, die Fertilität aber – die Zahl der Kinder pro Frau – sich gleichzeitig nur moderat verringerte. Man spricht vom »urban push«: Städte, die aus sich selbst heraus wachsen.

Hinzu kommt ein »rural push and urban pull«, also ein Überschuss der Landbevölkerung, der in die urbanen Zentren zieht, weil dort die Infrastruktur vergleichsweise gut und zumindest informelle Arbeit möglich ist. Geregelte Jobs bleiben allerdings Mangelware, und Wirtschaftswachstum wie Verwaltung der betroffenen Megastädte kommen dem Anstieg der eigenen Bevölkerung kaum hinterher. Städteforscher nennen das »urbanization without growth«, Urbanisierung ohne Wachstum.

In vielen Megastädten wächst so vor allem das untere Ende der Einkommensschicht. Viertel entstanden, deren Namen als Sinnbild für verfehlte Stadtpolitik dienen. Ob brasilianische Favelas, ägyptische Ashwaiyat oder südafrikanische Townships: Ihnen allen haftet das Image des Scheiterns an. Orte, an denen weder Architektur noch Infrastruktur funktionieren oder von Dauer sind. Doch Hubert Klumpner, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich, ist anderer Meinung: »Innovationen für ein neues Stadtbild kommen sehr oft direkt aus den Slums.«

»Innovationen für ein neues Stadtbild kommen sehr oft direkt aus den Slums«
Hubert Klumpner

Klumpner muss es wissen. Er und sein venezolanisch-amerikanischer Partner Alfredo Brillembourg, ebenfalls Professor an der ETH Zürich, leiten seit gut zwei Jahrzehnten den Urban Think Tank (U-TT). Die Stadtplanerschmiede arbeitet da, wo Architektenbüros oft resignieren: Sie designen Lebensraum nämlich vor allem für informelle Siedlungen wie Slums oder Favelas. So gestalteten sie den Wohnraum des herrenlosen und illegal besetzten Wolkenkratzers »Torre de David« neu. Anders als gewöhnlich bedeutete das nicht den Rauswurf für die bisherigen, mittellosen Bewohner. Das U-TT integrierte sie in das moderne Konzept. Die Architekturwelt belohnte das Engagement 2012 mit dem Oscar der Architekten, dem Goldenen Löwen der Biennale in Venedig. Wichtiger ist den beiden jedoch, dass ihre Konzepte in den Megastädten wirken. »Man kann die Probleme dort nicht vom Schreibtisch aus lösen. Man muss sich mit den Leuten vor Ort austauschen«, sagt Klumpner.

Ihr derzeitiges Vorzeigeprojekt hierfür ist das Empower Shack im Township Khayelitsha in Kapstadt. Die Metropole am Kap der Guten Hoffnung ist mit vier Millionen Menschen zwar (noch) keine Megacity, aber auf dem besten Weg dahin. In den letzten 15 Jahren ist sie um 50 Prozent gewachsen. Khayelitsha ist so zur zweitgrößten Township des Landes gereift. Einstöckige Wellblechbungalows ohne Wasser-, Gas- und Elektrizitätsanschluss prägen die Szenerie. Trotzdem ist Alfredo Brillembourg überzeugt: »Townships sind nicht das Problem, Townships sind die Lösung. Das Fehlen von Regeln erlaubt das Experimentieren mit neuen, innovativen Formen urbaner Architektur.« Davon inspiriert entwickelte das U-TT das Prinzip »reblocking for incremental compliance«.

Individueller Farbklecks im Township | Das Projekt »Empower Shack« im Township Khayelitsha in Kapstadt verfolgt ein Ziel, das auch in den Megastädten der Zukunft tragen soll: Mit Hilfe zur Selbsthilfe wächst hier bei begrenzten Möglichkeiten etwas Tragfähiges aus der Uniformität der Wellblechbungalows.

»In Südafrika gibt es sozialen Wohnungsbau, aber der kommt dem Andrang der Menschen nicht hinterher. Zurzeit fehlen rund zwei Millionen Wohneinheiten«, erklärt Brillembourg. »Für solche Wohnungen brauchen die Leute Kreditwürdigkeit und lauter solche Dinge. Viele Menschen haben so was nicht. Das Einzige, was ihnen übrig bleibt, sind Township-Slums. Die Stadtregierung toleriert die aber nicht, da sie wohnrechtlichen Bestimmungen widersprechen. Es gibt also eine Lücke zwischen einem ›echten‹ Haus und einer Slumhütte. Wir schließen die, indem wir mit den Menschen vor Ort ein ›halbes‹ Haus bauen. Häuser, die darauf ausgelegt sind, den Bestimmungen in Zukunft zu entsprechen. Sie werden stufenweise ›compliant‹ gemacht.«

Hierzu verwenden sie permanentere Materialien wie Betonsteine und -platten. Sie ersetzen die alten einstöckigen mit zweistöckigen Bauten, um das lokale Platzproblem zu verringern. Einfache Solarpanel-Batteriesysteme sorgen beispielsweise für elektrische Unabhängigkeit. Nichts jedoch ist neu, nichts ist bahnbrechend. Alles ist Lowtech.

Kniffe, wie man das eigene Heim ohne großen Aufwand effizient, angenehm und autark gestaltet, gibt es viele. Überhöhte Luftkamine sorgen für Luftzirkulation und können den Bedarf Strom fressender Klimaanlagen reduzieren. Gerade Betonrahmenbauten in Brasilien profitieren davon. Durch stabile Temperaturen im Untergrund lässt sich eine einfache, aber effektive Vorwärmung oder -kühlung über Bodenrohre installieren. Interessant für Länder mit großen Tag-Nacht-Temperaturgefällen wie Mexiko.

Nur geht es nicht allein um Anleitungen und Instruktionen. Es geht um den tatsächlichen Bedarf der Bewohner, um Partizipation. Viele gut gemeinte Projekte sind gescheitert, nachdem die Ingenieure und Techniker die Viertel wieder verlassen hatten. Häufig entspricht die effektive Nutzung der Anwohner nicht dem Plan des Architekten.

Das wissen auch die Städteplaner des U-TT. Die Bewohner Khayelitshas haben deswegen entscheidenden Anteil am Design des »Empower Shack«. Sie werden dazu angeleitet, die Halbhäuser selbst zu Ende zu bauen. Das Kredo von Klumpner: »Mit möglichst kleinen Projekten möglichst großen Einfluss erzeugen.« Das geht weit über die Architektur hinaus. Nachbarschaften lernen, sich mit Mikrokrediten selbst zu finanzieren und mit Low-Tech einen ökologisch-nachhaltigen, höheren Lebensstandard zu erreichen.

Luftaufnahme von Khayelitsha | Im Township Khayelitshas fallen die einfachen Bauten des »Empower Shack«-Projekts dennoch im provisorischen Einerlei auf.

Unterdessen wachsen etliche Orte auf der Welt weiter. Siedlungen entstehen besonders an Stellen, die keinen ökonomischen Wert haben, da sie gefährlich oder unwirtlich sind. Was das bedeutet, kann man im hügeligen Hinterland südamerikanischer Megastädte erfahren. In Bogotá, Caracas oder dem kolumbianischen Medellín werden die steilen Hänge umliegender Berge von einem rötlichen-braunen Meer aus Betonrahmenbauten bedeckt. Wo einstmals Bäume und Unterholz das Erdreich zusammenhielten, winden sich nun enge, ungeteerte Straßen: Es drohen Erdrutsche wie in San Cristóbal in Bogotá.

Von der Hauptstadt der Mörder zum Innovationsspitzenreiter

Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens, stellt sich dem Problem. Das Projekt El Cinturón Verde Metropolitano (Ein grüner Gürtel für die Metropole) hat das ehrgeizige Ziel, die Erde mit mehr als 70 000 neuen Bäumen und einem System aus lokalen Gemüsegärten im Zaum zu halten. Die Empresa de Desarollo Urbano (Unternehmen für städtische Entwicklung) will damit nicht nur tödlichen Lawinen vorbeugen, sondern auch den Bewohnern die Möglichkeit zur Selbstversorgung geben. Noch dazu soll das Vorhaben den öffentlichen Raum von derzeit 4 auf 15 Quadratmeter pro Einwohner erweitern.

Wäre ein Projekt solchen Ausmaßes in einer anderen südamerikanischen Stadt angekündigt worden, wären Zweifel berechtigt. Aber Medellín hat sich einen Namen gemacht. Städteplaner weltweit rühmen die kolumbianische Metropole als Vorreiter des sozialen Urbanismus. Sie nennen sie die »innovativste Stadt der Welt«. Noch Anfang des Jahrtausends war Medellín jedoch die »Hauptstadt der Mörder«. Drogenkartelle beherrschten jahrzehntelang die Bergviertel. Mittlerweile ist die Zahl gewaltsamer Tötungen von 4000 auf weniger als 1000 pro Jahr gefallen. Was ist geschehen?

Steile Hänge, enge Gassen, keine koordinierte Straßenführung. Viele Hangsiedlungen in Lateinamerika gleichen Inseln, entkoppelt vom Rest der Stadt. Das schafft soziale Isolation, verhindert den Zugang zum Arbeitsmarkt und befeuert Bandenkriminalität. Das Geflecht mit U-Bahnen oder Metrolinien zu durchbrechen, ist teuer und zudem sozial unverträglich. Die Lösung: Seilbahnen. Sie boten eine relativ kostengünstige Alternative, die obendrein die Wohnungen unberührt ließen. Hunderttausende Menschen konnten so laut der Non-Profit-Beratungsorganisation Centre for Public Impact erstmals ohne großen Aufwand ins Stadtzentrum gelangen.

Mittlerweile kreuzen nicht nur Gondeln die berüchtigte Comuna 13, auch öffentliche Fahrstühle, Rolltreppen und Fahrradbrücken erhöhen die Mobilität der Bewohner. Die Viertel öffneten sich nach außen. Medellín ist ein Paradebeispiel des so genannten Slum-Upgradings. Natürlich zwang Architektur allein die Kriminalität nicht in die Knie – auch soziale Programme wurden initiiert –, doch sie hat einen gehörigen Anteil daran. Das Prinzip »Sozialer Aufstieg durch Mobilität« macht nun in vielen Städten Schule. In den Hügeln Rio de Janeiros oder Caracas' gehören öffentliche Fahrstühle und Gondeln ebenfalls zum Stadtbild.

»Sie investieren lieber in Flat-Screens: Die können sie mitnehmen«
Johannes Hamhaber

Mit dem Upgrade steigt die Attraktivität der Siedlungen. Das hat auch seine Schattenseiten. Denn Attraktivität lockt Investoren – und denen sind die Siedler der eigentlich illegalen Wohnungen oft schutzlos ausgeliefert. »Die Armen in den Megastädten bauen keine hochwertigen Häuser. Wozu auch? Solange sie keine Landrechte haben, die von der Stadt anerkannt werden, droht ihnen jeden Tag der Abriss. Deswegen investieren sie lieber in Flatscreens: Die können sie wenigstens mitnehmen«, erklärt Johannes Hamhaber, Professor für ressourceneffiziente Städte am Institut für Technologie und Ressourcenmanagement in den Tropen und Subtropen (ITT) der TH Köln.

Bevor sich die Situation verbessern kann, müssen illegale Siedlungen erst mal durch Grundrechte legalisiert werden, sagt Hamhaber. Trotzdem plädiert er dafür, die Siedlungsstrukturen anzutasten: »Slums haben eine relativ niedrige Bauweise. Dennoch ist die Einwohnerdichte höher als bei Blockbebauung von Industriestaaten. Einerseits sind kaum Grün- oder Straßenflächen da. Andererseits leben viele Menschen pro Raum.« Beim Slum-Upgrading können also per Definition nicht alle Menschen in ihren Häusern gelassen werden. Die Lösung liege vor allem in offen gestalteten Stockwerkbauten.

Die Frage des Grundrechts bewegt auch die Designer des U-TT. »In Deutschland sichert man sich die Bodenrechte, man plant, baut, zieht ein und zahlt den Kredit ab. Für viele Menschen in den Slums ist das umgekehrt: Man zieht während des Baus ein und bekommt im Nachhinein die Bodenrechte«, sagt Klumpner. »Die provokante These ist: Vielleicht ist das wirtschaftlich die bessere Lösung, schließlich friert der Baukredit so nicht das wenige Kapital der Menschen ein. In jedem Fall ist es die Realität. Es ist eine Art 'shared economy' des Grundrechts. Stadtplaner und Bürgermeister sollten das unterstützen, indem sie Schulen, Infrastrukturen und öffentliche Plätze noch während des Prozesses einbauen. Wir sollten es nicht einfach durch unsere westlichen Modelle ersetzen.«

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