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Homo naledi: Krach um den Totengräber

So viele Knochen in einer fast unzugänglichen Höhle: Hat hier ein Urmensch seine Toten bestattet? Ein Expertenteam will genau das bewiesen haben. Kollegen glauben kein Wort.
Leti, das Kind aus der Dinaledi-Höhle
Dieser Schädel eines vier- bis sechsjährigen Kindes fand sich ebenfalls in der südafrikanischen Höhle. Wurde auch »Leti« dort bestattet? Und wenn nicht: Wie kam das Kind sonst in die unzugängliche Tiefe?

Schon bei ihrer Erstbeschreibung im Jahr 2015 gab diese Menschenart Rätsel auf: Homo naledi, ein in Südafrika lebender, nur anderthalb Meter großer Zwerg mit winzigem Gehirn und zum Klettern geeigneten Händen, aber gut ausgeprägtem aufrechtem Gang. Noch verblüffender war, als es im Jahr 2017 gelang, die Funde zu datieren. Denn es stellte sich heraus, dass die Fossilien nicht Jahrmillionen, sondern lediglich rund 250 000 Jahre alt waren; die primitiv wirkende Art existierte also noch, als es bereits den Homo sapiens gab.

Und jetzt will das Entdeckerteam um den Paläoanthropologen Lee Berger sogar Beweise für höhere geistige Leistungen bei diesem Wesen gefunden haben. Homo naledi soll seine Toten bestattet, abstrakte Muster in Felsen geritzt und Feuer entfacht haben. Bei der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse indes wählten die Forschenden einen höchst ungewöhnlichen Weg: Sie stellten sie am 5. Juni dieses Jahres in Form von drei Preprints [1, 2, 3] – also noch nicht von Fachgutachtern bewerteten Arbeiten – ins Netz. Kein Wunder, dass nun in der Fachwelt eine Kontroverse entbrannt ist, die aufgeregter kaum sein könnte.

Abenteuerlich begann schon die Entdeckung der Homo-naledi-Fossilien im Jahr 2013. Am 13. September jenes Jahres hatten zwei junge Hobby-Höhlenforscher beschlossen, das rund 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg gelegene Rising-Star-Höhlensystem zu erkunden. Unter der Erde erreichten sie eine Passage, die so schmal war, dass lediglich kleine Menschen hindurchpassen – und auch nur, indem sie sich auf dem Bauch voranschieben, den einen Arm nach vorne gestreckt, den anderen eng an den Körper gelegt. Nach dem Durchqueren einer großen Kammer zwängten sie sich durch eine weitere Spalte in einen zwölf Meter tiefen, engen Schacht, der fast senkrecht nach unten führt und an manchen Stellen kaum 20 Zentimeter breit ist. Schließlich erreichten sie eine Kammer, die übersät war mit Knochen, die dort auf dem Boden so dalagen, als habe sie jemand einfach hingeworfen.

Zurück aus der Unterwelt, wandten sich die Höhlenforscher mit ihren Fotos an Lee Berger von der University of the Witwatersrand in Johannesburg. Der Paläoanthropologe erkannte auf den Bildern sofort die Brisanz der Entdeckung: Das waren Knochen einer ausgestorbenen Menschenform, und die Zahl der Fossilien war riesig. Berger organisierte eine beispiellose Grabungskampagne, gewann rund 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Mitarbeit, die gemeinsam 1550 Skelettbruchstücke von mindestens 15 verschiedenen Individuen bargen und begutachteten. Eine extrem seltene Fossilienmenge. Im Herbst 2015 stellte das Team den neuen Urmenschen vor.

Schnitt durch das Höhlensystem | Das Schema zeigt nur einen Ausschnitt aus dem unterirdischen Labyrinth. Auch nach langer Suche fanden die Ausgräber keinen anderen Zugang als durch die beiden notorischen Engstellen »Superman's Crawl« und den »The Chute« genannten Schacht.

Wie kamen die Knochen an einen so unzugänglichen Ort?

Die ganze Fundsituation ist derart ungewöhnlich, dass sich die Forschenden schon früh den Kopf darüber zerbrachen, wie die Knochen wohl in die tiefe, finstere und unzugängliche Höhle gelangt sein mögen und weshalb sie keinerlei Bissspuren von Raubtierzähnen zeigen. Schon damals kam Berger zu dem Schluss, dass die Toten weder Opfer von Hyänen oder Löwen gewesen sein können noch von Wasser in die Höhle geschwemmt wurden. Seine von vielen belächelte Hypothese: Die Relikte wurden absichtlich in die Kammer gebracht. Sie wären damit Zeugnis einer Art Bestattung, eines rituellen Umgangs mit Verstorbenen. Und jetzt behaupten er und sein Team, die Beweise dafür erbracht zu haben.

Die neuen Funde würden gezielte Bestattungen, den Gebrauch von Symbolen und bedeutungsvolle Handlungen nahelegen, wird Lee Berger in einem Beitrag des Natural History Museum in London zitiert. Und weiter: »In Kombination betrachtet, scheint man mir um die Schlussfolgerung nicht herumzukommen, dass dieser frühe menschliche Verwandte mit seinem kleinen Gehirn komplexe Praktiken im Zusammenhang mit dem Tod ausführte.«

Doch was genau haben die Forschenden nun entdeckt? In der Höhle gibt es an zwei Stellen Senken, deren Füllmaterial gegenüber der Schichtfolge im umliegenden Boden verändert ist. Das ergaben geologische Untersuchungen, die das Team in dem umfangreichsten ihrer drei Preprints präsentiert. Dort könnten die Urmenschen Erdreich ausgehoben haben. Und in diesen Senken finden sich Skelettreste von Homo naledi: Die eine enthält vor allem die Relikte eines Individuums, eines Jugendlichen, deren Anordnung auf eine Hocklage hinweisen. Der Tote hatte also die Beine angezogen. In der zweiten fanden sich Knochenbruchstücke von mehreren Personen. Für Berger und sein Team ist die Sachlage klar: Homo-naledi-Angehörige gruben die Mulden in den Boden, legten ihre Verstorbenen hinein und häuften anschließend Material darüber.

Diese Schlussfolgerung allerdings können nicht alle Fachleute nachvollziehen. Der Paläoanthropologe Ottmar Kullmer vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt etwa sagt: »Ich finde die Interpretation etwas zu weit getrieben. Es fehlt an ganz klaren Nachweisen etwa der Berandungen der Gruben, die da ausgehoben wurden. Zumindest haben die Anschnitte von Begräbnisstätten, die ich kenne, ein ganz anderes Profil.«

Rätselhafte Markierungen am Stein

Kullmer fügt hinzu: »Höhlensedimentologie ist meist extrem kompliziert. Sowohl die Ablagerungen als auch die Erosionen können zum Beispiel durch Höhlenwässer und Deckeneinbrüche massiv verändert werden, und das kann die normale Lager-Stratigrafie durcheinanderbringen.« Gruben könnten auch durch fließendes Wasser ausgehoben und nachträglich wieder mit Sedimenten gefüllt worden sein, gibt Kullmer zu bedenken. Deshalb sei es in Höhlen schwierig, eine zeitliche Reihenfolge in der Ablagerung der Gesteine festzustellen. »Für ein Begräbnisszenario fehlen einfach die handfesten Beweise.«

Muster an der Wand | Manche dieser Rillen könnten von Homo naledi bewusst angelegt worden sein, vermutet das Team um Lee Berger. Allerdings könnten die Muster auch natürlichen Ursprungs sein oder einen anderen Urheber haben.

Das Team um Lee Berger präsentierte ein weiteres Argument für die vermeintlich weit entwickelten geistigen Fähigkeiten von Homo naledi. An den Höhlenwänden aus Dolomitkalkstein, ganz in der Nähe der Kammer mit den fossilen Knochen, hatten die Forschenden kreuzförmige Muster und andere eingeritzte geometrische Formen entdeckt, die sie im zweiten ihrer Preprints beschreiben. Diese Gravuren seien von Homo naledi geschaffen worden und bezeugten einen wichtigen Schritt in der Evolution der Urmenschen – nämlich das Verwenden, Aufzeichnen und Weitergeben von Informationen. Fähigkeiten also, die einst nur dem Homo sapiens zugeschrieben worden waren. Einen Haken hat der Befund allerdings: Bislang ließen sich die Felsritzungen nicht datieren.

»Wer kann sagen, dass nicht vor 5000 Jahren jemand in der Höhle gewesen ist und die Felsritzungen dort hinterlassen hat?«, gibt Gerhard Weber von der Abteilung für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien zu bedenken. »Die Autoren behaupten, da sei nie mehr jemand drinnen gewesen. Doch das ist schwer nachzuweisen. Und daher ist auch nicht klar, wer diese Ritzungen, wenn es denn welche sind, geschaffen hat: ob es die naledi-Leute waren oder Menschen, die vielleicht 200 000 Jahre später kamen.«

Tatsächlich ist nicht einmal sicher, ob die Strukturen im Fels überhaupt von Menschenhand stammen. Ottmar Kullmer hält es für möglich, dass natürliche Prozesse sie hervorbracht haben. »In Höhlenablagerungen, wo es sehr feucht ist, können auf dem Stein – es handelt sich hier ja um Dolomit als Grundgestein, um metamorph überprägtes Karbonat –, dort können durch so genanntes Edging, also Erosion durch säurehaltige Wässer, durchaus solche tiefen Formen über die Zeit an der Felsoberfläche entstehen.« Dolomit sei zudem sehr hart, und es würde einen großen Aufwand bedeuten, solche Ritzungen händisch zu erzeugen. »Vor allem mit welcher Art Werkzeug? Dies müsste härter sein als das Gestein selbst.«

Beerdigt mit Werkzeugen in der Hand?

Es gibt zwei weitere Indizien, die das Homo-naledi-Team vorträgt, um das Begräbnisszenario zu stützen: Zum einen liege bei jenem Skelett, das in Hockstellung gefunden wurde, ein Steinwerkzeug in der Nähe der rechten Hand. Zum anderen gebe es Verfärbungen am Boden, die Hinweise auf Feuerstätten seien. Doch Kritiker sind weder davon überzeugt, dass es sich bei dem Stein um ein Werkzeug handelt, noch, dass die Verfärbungen den Feuergebrauch belegen.

Lee Berger und seine Crew wählten einen weiteren ungewöhnlichen Schritt der Veröffentlichung. Sie luden Kolleginnen und Kollegen ein, ihr Preprint-Paper »Burials and engravings in a small-brained hominin, Homo naledi, from the late Pleistocene: contexts and evolutionary implications« wissenschaftlich zu begutachten, und publizierten den Preprint mitsamt den Kommentaren am 12. Juli auf der Plattform »eLife«.

»Es ist die merkwürdigste Site, die wir in unserem Business kennen«Gerhard Weber, Paläoanthropologe

Offenbar war es ihnen nicht gelungen, eine der renommierten Wissenschaftszeitschriften wie »Nature« oder »Science« zu überzeugen. Und auch die Kommentare der Gutachter bei »eLife« fielen nicht gerade schmeichelhaft aus. »Die vier Reviewer sind offenbar einhellig der Meinung, dass dieses Paper überhaupt keine Substanz enthält, die die überwältigend neuen und erstaunlichen Hypothesen untermauern würde«, fasst Gerhard Weber zusammen.

Es sind nicht nur die unzureichenden Beweise für die angeblichen Gräber, mit denen viele Fachleute Probleme haben. »Begräbnisse sind sehr aktive Handlungen, und das Höhlensystem ist komplex«, sagt Ottmar Kullmer. »Die Individuen müssten es durch Kanäle und Tunnel bis tief in die Höhle schaffen. Aber ohne Licht, ohne Feuer? Und es fehlt an eindeutigen Nachweisen der Feuernutzung.« Doch selbst mit Feuer wäre es wegen des Sauerstoffverbrauchs in den engen Höhlenkammern problematisch gewesen, so Kullmer. Und es gebe ein weiteres Rätsel: Es seien keinerlei Grabbeigaben gefunden worden. Für den Frankfurter Paläoanthropologen ist es daher eher wahrscheinlich, dass die Urmenschen aus anderen Gründen in die Höhle gelangt und dort verendet seien. Das könne auch über einen längeren Zeitraum, also nacheinander geschehen sein.

»Es ist die merkwürdigste Site, die wir in unserem Business kennen«, kommentiert Gerhard Weber die Fundstätte. »Man muss sich das einmal vorstellen: Dort wurden 1500 menschliche Knochen gefunden, aber nahezu kein Tierknochen und kein Werkzeug. Normalerweise ist es so, dass wir auf 1000 Tierknochen einen Homininenknochen finden und 1000 Werkzeuge dabei sind.«

Lee Berger im Jahr 2021 | Der Paläoanthropologe gehört zu Südafrikas prominentesten Wissenschaftlern, nicht zuletzt auf Grund seiner Arbeit am Homo naledi. Auch die Entdeckung der Art Australopithecus sediba ist sein Verdienst.

Zwischen Publikation und Publicity

Es sei sehr erstaunlich, dass ein solcher kleiner Hominine, der noch viel von einem Australopithecus hatte, so lange überlebt habe, obwohl es schon Menschen mit größerem Gehirn wie Homo erectus, Homo heidelbergensis und schließlich Homo sapiens gab. »Und jetzt taucht auch noch eine neue Geschichte auf, die zu gar nichts passt, was wir in unserer Wissenschaft kennen. Dass Homo naledi nämlich mit seinem affengroßen Gehirn extrem weit entwickelt gewesen wäre, seine Toten bestattet und symbolische Muster in die Wand geritzt hätte.«

Für den Wiener Paläoanthropologen steckt Kalkül hinter der voreiligen Veröffentlichung der Forschungsergebnisse. Lee Berger ist auf Sponsoren angewiesen, die seine Ausgrabungen finanzieren – etwa die National Geographic Society. Dafür setzt er stark auf öffentliche Aufmerksamkeit. Gerade ist eine Dokumentation über die neuesten Entdeckungen bei Netflix ausgestrahlt worden. Und demnächst soll Bergers Buch »Cave of Bones« erscheinen. Herausgeber: National Geographic.

Die Begräbnisszenarien seien da »eine Geschichte, die sich in den Medien gut verkauft«, sagt Gerhard Weber. »Eine Evidenz sehe ich nicht.«

Wie sehr Berger auf medienwirksame Aktionen setzt, wurde noch einmal Anfang September deutlich. Zur Entrüstung vieler Fachkollegen ließ der Südafrikaner ein Fingerknöchelchen von Homo naledi und ein Schlüsselbein von Australopithecus sediba in einer bemannten Rakete von Virgin Galactic befördern. Das Unternehmen bringt zahlende Gäste an die Grenze zum Weltraum. Warum nun auch Fossilien? Laut Berger drücke sich so die »Wertschätzung der Beiträge aller menschlichen Vorfahren und ihrer Verwandten« zum technischen Fortschritt aus. Anthropologen wie Alessio Veneziano finden dagegen, die Aktion lasse gerade den nötigen Respekt vor solchen raren Zeugnissen unserer Vergangenheit vermissen.

Schädel aus der Rising-Star-Höhle | Homo naledi ist in vielerlei Hinsicht noch sehr archaisch, insbesondere wegen seines kleinen Gehirns gehen viele Fachleute davon aus, dass auch sein Verhalten wenig komplex war. Lee Berger und sein Team sehen dies anders.

Ein Klettertalent, das zum Verhängnis wird

Wer aber war Homo naledi wirklich? Zum einen könnte es sich um eine Linie aus der Zeit der Frühmenschen handeln, vielleicht gar aus der Australopithecinen-Verwandtschaft, die sich in einer besonderen ökologischen oder geografischen Nische behaupten konnte, während sich in anderen Regionen bereits größere Menschen mit voluminöserem Gehirn entwickelt haben. Denkbar wäre auch, dass der südafrikanische Zwerg sich erst später von einer Homo-Art abspaltete – ähnlich, wie es von dem kleinen Homo floresiensis vermutet wird, der ein auf der Insel Flores geschrumpfter Homo erectus sein könnte.

Eine mögliche Erklärung für den seltsamen Körperbau von Homo naledi hat der französische Paläoanthropologe Jean-Luc Voisin vorgeschlagen. Dank seiner Kletterfähigkeiten war der Urmensch in der Lage, in Schluchten und Klüften südafrikanischer Gebirge Felswände zu erklimmen. Das habe ihm Überlebensfähigkeiten in einem sonst nur schwer zugänglichen Lebensraum erschlossen, schreibt Voisin in einem Beitrag in »Spektrum der Wissenschaft«. So konnte er vor Raubtieren auf Felsen flüchten oder in Senken nach Wasser suchen und in einer speziellen Umwelt überdauern, die ihn vor der Konkurrenz anderer Menschenarten schützte.

Bislang allerdings fehlen die Fakten, um solche Spekulationen zu belegen und die rätselhafte Art Homo naledi wissenschaftlich seriös zu deuten. Da ist noch sehr viel Forschungsarbeit notwendig. Und wenigstens in dieser Hinsicht sind sich die Fachleute ausnahmsweise einig.

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