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Quantenphysik: "Ich will die Natur verstehen"

Der Physiker Jörg Schmiedmayer von der Technischen Universität Wien forscht an speziellen Quantenzuständen zwischen Ordnung und Unordnung. Mit Spektrum.de sprach er über die Faszination neuer Welten, Nicht-Gleichgewichtssysteme und die Tücken neuer Messmethoden.
ultrakalter Atomwolken (rot)

Herr Professor Schmiedmayer, Sie sind Quantenphysiker. Wie erklären Sie Laien Ihre Arbeit?

Im Kern geht es um die Faszination, etwas komplett Neues zu machen. Die Suche nach einem fundamentalen Verständnis der Welt, und dazu gehört die Quantenphysik, ist eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Natur. Wer schon einmal intellektuell gearbeitet hat, begreift diese Faszination sehr schnell.

Wie sehen Ihre Experimente konkret aus?

Zurzeit experimentieren wir mit ultrakalten Rubidiumatomen auf einem etwa drei Zentimeter großen "Atomchip". In die Chips sind Schaltkreise integriert. Fließt ein Strom durch den Chip, entsteht eine magnetische Flasche, mit der sich eine Atomwolke einfangen und manipulieren lässt.

Die Atome in Ihrer Falle bilden also ein so genanntes Bose-Einstein-Kondensat (BEK), in dem die Atome alle in den gleichen quantenmechanischen Zustand kondensiert sind.

Jörg Schmiedmayer | forscht seit 2006 am Atominstitut der TU Wien. Er arbeitete als Postdoc unter anderem in Harvard, ging dann nach Innsbruck und später als Professor für Experimentalphysik an die Universität Heidelberg. Schmiedmayer wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet – darunter auch der Wittgenstein-Preis des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (2006).

Ja, die Wolke schwebt 50 Mikrometer über der Oberfläche des Chips. Mit Pulsen von Radiofrequenzstrahlung können wir die Atome gezielt manipulieren und so Experimente durchführen. Wir teilen das Bose-Einstein-Kondensat beispielsweise in zwei Hälften und schauen, wie diese miteinander wechselwirken.

Kürzlich haben Sie einen ERC Advanced Grant vom Europäischen Forschungsrat erhalten, der Ihre Arbeitsgruppe über fünf Jahre mit zwei Millionen Euro fördert. Was wollen Sie mit dem Geld erforschen?

Wir wollen untersuchen, wie ein abgeschlossenes Quantensystem ins Gleichgewicht findet.

Wann ist denn ein System im Gleichgewicht?

Ein System ist im Gleichgewicht, wenn sich sein Zustand nicht mehr ändert. In einem komplexen System mit vielen Freiheitsgraden ist das oft sehr schwer zu überprüfen. Oft gibt es Zwischenzustände, die für sehr lange Zeit wie ein Gleichgewicht aussehen und dann aber doch zerfallen.

Können Sie Beispiele für Nichtgleichgewichtssysteme nennen?

Jedes lebende System zum Beispiel ist ein Nichtgleichgewichtssystem. Dort ist das Gleichgewicht erst erreicht, wenn alle Moleküle zerfallen sind. Auch in der Quantenphysik sind viele der wirklich interessanten Systeme nicht im Gleichgewicht. Sie sind stets sehr fragil, das heißt sie verlieren sehr leicht ihre Quanteneigenschaften. Jeder Quantenrechner würde zum Beispiel in einem extremen Ungleichgewicht operieren.

Welche Erkenntnisse erhoffen Sie sich davon, das Nichtgleichgewicht zu erforschen?

Irgendwie muss unsere klassische Welt aus der Quantenwelt mit ihren bizarren Gesetzen hervorgehen. Man könnte diesen Übergang studieren, indem man die Quanteneigenschaften immer größerer Quantenobjekte untersucht. Das ist sehr schwierig. Man kann sich aber auch anschauen, wie isolierte Quantensysteme ins Gleichgewicht streben, das heißt, ob und wie sie ihre Quanteneigenschaften auch ohne Wechselwirkung mit der Umgebung verlieren. Die klassische Welt ist viel näher an einem Gleichgewichtszustand. Der Übergang von Quantenwelt zu klassischer Welt ähnelt daher dem Übergang von Nichtgleichgewicht ins thermische Gleichgewicht.

Wie untersuchen sie dieses Nichtgleichgewicht experimentell?

Wir teilen unser BEK auf dem Atomchip in zwei Teile. Zwischen den beiden Hälften bleibt eine quantenmechanische Verbindung bestehen: Die beiden Hälften "wissen", dass sie aus einem einzelnen BEK entstanden sind. Wir nennen das Quantenkohärenz. Das System ist in einem ganz speziellen Zustand und nicht im thermischen Gleichgewicht. Nach einiger Zeit sollte dieser Zustand zerfallen und die Quantenkohärenz verschwinden.

Wie kam Ihnen die Idee, damit den Übergang zwischen Mikro- und Makrokosmos zu studieren?

Wir sind vor ein paar Jahren auf eine Sache gestoßen, die wir partout nicht verstanden haben. Wir haben versucht, die Theorie zweier Physiker aus Harvard experimentell zu überprüfen. Auch damals ging es schon darum, die Wechselwirkung zwischen zwei getrennten Hälften eines BEK zu studieren. Man kann über ein Interferenzmuster beobachten, wie die beiden Hälften ein Gleichgewicht finden. Im Jahr 2010 hatten wir alle Messungen durchgeführt, die Veröffentlichung war fast fertig. Bis dahin sah es so aus, als würden unsere Daten die Theorie auf wunderschöne Weise bestätigen.

Was ist dann passiert?

Wir haben die Temperatur des Systems gemessen, mit einer Methode, die kurz zuvor von uns gemeinsam mit den Kollegen in Harvard entwickelt worden war. Eigentlich müsste die Temperatur von End- und Anfangszustand übereinstimmen – das System ist schließlich abgeschlossen und kann keine Energie abgeben. Aber dann haben wir gemerkt, dass die Temperatur des Endzustands scheinbar viel kleiner ist als die Temperatur des Anfangszustands.

Und das war eine Überraschung?

Ja, denn wenn überhaupt müsste die Temperatur des Systems mit der Zeit wachsen. Wir haben das Gegenteil beobachtet. Da stimmte also irgendwas nicht. Also haben wir beschlossen, den Artikel nicht zu veröffentlichen, sondern komplett neu anzufangen. Wir haben nochmal zwei Jahre gemessen und vor zwei Monaten schließlich ein neues Ergebnis veröffentlicht.

Quantenexperimente an der TU Wien | Auf einem Atomchip (oben) werden ultrakalte Atomwolken (rot) erzeugt. Die Wolken überlagern sich, wodurch ein geordnetes Materiewellen-Interferenzbild entsteht (unten). Die Form dieses Interferenzmusters zeigt, dass die beiden zuvor geteilten Atomwolken nicht "vergessen" haben, dass sie ursprünglich aus ein und derselben Wolke hervorgegangen sind.

Mit der Zeit streben geteilte Atomwolken allerdings in ein thermisches Gleichgewicht, und die Ordnung der Interferenzmuster nimmt ab, je länger man wartet, die beiden Wolken wieder zu vereinen. Diese Ordnung geht nicht unmittelbar auf ein Minimum zurück, sondern sie fällt zunächst schnell ab, verweilt dann aber in einem relativ stabilen Zwischenstadium – dem präthermalisierten Zustand.

Was haben Sie herausgefunden?

Wir haben entdeckt, dass in unseren Experimenten mit dem ultrakalten Quantengas das Phänomen der so genannten "Prethermalisation" auftritt. Das bedeutet, dass das System aussieht wie im thermischen Gleichgewicht, es aber noch lange nicht ist. Die gemessene niedrige Temperatur charakterisiert nur diesen Zwischenzustand, der sehr schnell erreicht wird. Prethermalisation wurde interessanterweise von Jürgen Berges und Christoph Wetterich in Heidelberg zuerst in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert: Um zu verstehen, warum Zustände, die wie Gleichgewicht aussehen, in Schwerionenkollisionen wie am LHC des CERN oder in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall beobachtet werden.

Man würde nicht vermuten, dass ein ultrakaltes Quantengas aus kalten Atomen und die unvorstellbar heiße "Ursuppe" aus Quarks und Gluonen Gemeinsamkeiten aufweisen …

Das war in der Tat eine gewagte Aussage: Dass man im Labor etwas sieht, das relevant ist für die Beschreibung so unterschiedlicher Aspekte der Natur. Das sind die spannenden Momente für einen Forscher.

Das Ergebnis ist mittlerweile in Science erschienen. Wie geht es jetzt weiter?

Unser Ziel ist herauszufinden, ob es eine universelle Beschreibung für Nichtgleichgewichtssysteme gibt und wie sich Strukturen daraus entwickeln. Dazu wollen wir uns genau ansehen, wie Nichtgleichgewichtsprozesse ablaufen und wann solche "emergenten" Effekte wie die Prethermalisation auftreten. Damit kann man hoffentlich besser verstehen, wie die Quantenwelt funktioniert.

Wie könnte so eine universelle Beschreibung des Nichtgleichgewichts am Ende aussehen?

Vielleicht so ähnlich wie die Formeln, die Phasenübergänge beschreiben. Das war eine der großen Leistungen der Physik des 20. Jahrhunderts: theoretisch zu beschreiben, wie ein Magnet magnetisch oder wie aus einem Gas eine Flüssigkeit wird. Der Durchbruch dazu gelang in den 1960er und 1970er Jahren. Damals haben Forscher wie der spätere Nobelpreisträger Kenneth Wilson oder auch Franz Wegener aus Heidelberg herausgefunden, dass sich diese Phasenübergänge durch ganz universelle Gesetze beschreiben lassen.

Die Theorie der Phasenübergänge hilft heute unter anderem dabei, das Aufspalten der elektroschwachen Grundkraft kurz nach dem Urknall in Elektromagnetismus und schwache Kernkraft zu erklären. Träumen Sie von solchen Erfolgen auch im Hinblick auf das Nichtgleichgewicht?

Was heißt von Erfolg träumen – ich will die Natur verstehen! Das ist für mich als Forscher Teil der intellektuellen Auseinandersetzung. Ich lasse mich gerne überraschen und sage immer: Vielleicht gelingt etwas, vielleicht auch nicht. Das Suchen, Finden und Überprüfen, darin liegt die Faszination der Wissenschaft.

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