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Nyae-Nyae-Gebiet in Namibia: »Somit ist alles um uns herum sehr, sehr frei«

Die namibischen Juǀʼhoansi sind eines der ältesten Völker der Welt. Sie lieben Traditionen, das Land und ihre Handys. Und wissen wie niemand sonst: Nichts ist für die Ewigkeit.
In N!omdi
Der Ranger Isack Ragece vor seiner Hütte im Dorf N!omdi. Auch wenn das Nyae-Nyae-Schutzgebiet als Vorbild gilt: Ein Auskommen zu finden, ist trotzdem nicht leicht.

Es ist ein beißend kalter Morgen in der Halbwüste. In eine enge Jacke gehüllt wärmt sich Freddy Nǂamce an den letzten Funken eines Lagerfeuers. »An keinem anderen Ort der Welt würde ich lieber leben und sterben als in Nhoma«, sagt er. Beinahe andächtig gleitet sein Blick über das Tal vor ihm: Dichte Akazien- und Laubwälder erstrecken sich kilometerweit über den kargen Sandboden der Kalahari. Hier und da ragt ein Affenbrotbaum in die Höhe. Wir befinden uns am nordöstlichen Rand von Namibia, im Ahnenland der indigenen Juǀʼhoansi. Von Nhoma zum nächsten richtigen Dorf Tsumkwe – eine Tankstelle, ein paar Geschäfte und Steinhäuschen – braucht man mit dem Auto eineinhalb Stunden. Wenn alles glattgeht. In die Hauptstadt Windhoek sind es sogar acht Stunden.

Nǂamce stört das nicht im Geringsten. Städte sind ihm ohnehin viel zu laut und gefährlich. Der zierliche Mann reißt seine Augen auf und lässt das Brummen von Motoren aus seiner Kehle dröhnen, gefolgt von den schrillen Tönen einer Sirene. »Alle sind immer beschäftigt und wollen mehr, mehr, mehr.« Dann verstummt er und hört eine Weile dem Knistern der Flammen zu. »Was ich hier am meisten mag, ist, dass es friedlich und freundlich zugeht«, sagt Nǂamce. »Die Menschen sind bescheiden und frei. Und somit ist alles um uns herum sehr, sehr frei.«

Als Untergruppe der San zählen die Juǀʼhoansi zu einem der ältesten Völker der Welt. Archäologische Funde deuten darauf hin, dass ihre Ahnen bereits vor mindestens 20 000 Jahren als Jäger und Sammler durch den Süden Afrikas zogen. Sie lebten von dem, was die scheinbar so lebensfeindliche Region zu Tisch brachte: Wildtiere und Beeren, Samen, Blätter und Wurzeln. Doch im Lauf der Geschichte wurden die San immer weiter in die karge Kalahari-Halbwüste vertrieben. Mehr als 80 Prozent von ihnen haben ihr Stammesland mitsamt seiner Ressourcen verloren. Und damit auch ihre Lebensgrundlage.

Heute zählen die San zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen der Region. Rund 100 000 der indigenen Einwohner leben noch im Süden Afrikas, der Großteil davon in Namibia und Botswana. Die meisten haben sich in abgelegenen Siedlungen niedergelassen, fernab von Schulen, Krankenhäusern und Jobs. Nach einem Besuch in Namibia schrieb eine Kommission für indigene Gemeinschaften in einem Report, die San hätten durch die fortwährende Vertreibung ihre Würde verloren; außerdem sei ihr soziales Gefüge zerstört worden. Das Fazit: »Das Armutsniveau der San wird von keiner anderen ethnischen Gruppe im Land übertroffen.« Das war 2008. Bis heute hat sich nichts daran geändert. Im Gegenteil: Armut, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus breiten sich immer weiter aus wie tödliche Geschwüre.

»Einzigartig in Afrika und selten auf der Welt«

Das Nyae-Nyae-Schutzgebiet im äußersten Osten Namibias ist eines der letzten Bollwerke der Juǀʼhoansi. 1998 hat die namibische Regierung die Fläche von der Größe Zyperns zur ersten »Conservancy« des Landes ernannt. Zwar haben die 2700 Einwohner, der Großteil davon Juǀʼhoansi, legal nach wie vor keinen Anspruch auf ihr Ahnenland. Das Recht an den natürlichen Ressourcen liegt jedoch allein in den Händen der indigenen Gemeinschaften. Hier dürfen sie auf traditionelle Weise Wildtiere wie Antilopen erlegen; Pflanzen und Wildhonig sammeln und mit Landwirtschaft, Safari-Jagden und Ökotourismus Geld verdienen.

Die erwirtschafteten Einnahmen – vor allem aus dem Tourismus inklusive Trophäenjagd – zahlt das namibische Umweltministerium jährlich an die Einwohner aus. 2018 etwa waren es sieben Millionen Namibia-Dollar, umgerechnet rund 350 000 Euro. Dazu kommen Fleisch und Lieferungen wie Solarradios und Decken. Für sein Programm zur »gemeindebasierten Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen« erhält Namibia seit Jahren internationales Lob und Anerkennung.

»Das Nyae-Nyae-Schutzgebiet ist einzigartig in Afrika und selten auf der Welt«, sagt Robert Hitchcock. Seit den 1970er Jahren schon erforscht der US-amerikanische Anthropologe das Leben der Juǀʼhoansi. Immer wieder reist er in die entlegensten Winkel Namibias und Botswanas; die Klicksprache der Juǀʼhoansi beherrscht Hitchcock inzwischen fließend. »Auf den ersten Blick könnte es so wirken, als hätten die Einwohner des Schutzgebiets ein besonders gutes Los gezogen«, sagt der Forscher der University of New Mexico.

Gemeindeleben | Ursprünglich lebten die Ju/'Hoansi wie alle San-Gruppen nicht sesshaft. Als Jäger und Sammler zogen sie durch weitläufige Schweifgebiete. Inzwischen steht ihnen nur noch wenig Land zur Verfügung – zu wenig, um sich allein durch die Wildbeuterei zu ernähren.

Seit Jahrzehnten stehen die Juǀʼhoansi von Nyae Nyae im Fokus von Hilfsorganisationen, Glaubenseinrichtungen und Wissenschaftlern weltweit. »Nur wenige Bevölkerungsgruppen wurden derart intensiv erforscht«, sagt Hitchcock. Von den 1950er Jahren an dokumentierte die amerikanische Anthropologenfamilie Marshall das Leben der »harmlosen Menschen«, wie Elizabeth Marshall-Thomas es später in ihrem Buch ausdrückte. Seither ist das Interesse immer weiter gewachsen. Spätestens seitdem sich Nyae Nyae als Gemeindeschutzgebiet rühmen darf, geben sich Wissenschaftler, Filmcrews und Abenteurer die Klinke in die Hand. Der Tourismus und Jagdkonzessionen bringen wichtige Einnahmen und Arbeitsplätze; Hilfsorganisationen aus aller Welt haben die Infrastruktur ausgebaut. Als Vorsitzender des »Kalahari Peoples Fund« war auch Hitchcock daran beteiligt. Inzwischen hat jedes der rund 40 Dörfer einen Wasseranschluss und einen Gemeinschaftsgarten. Mitten in der knochentrockenen Kalahari ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern eher eine Sensation.

Tradition oder modernes Leben?

Wenn San-Gemeinschaften von außerhalb zu Besuch kommen, erzählt Hitchcock, seien diese oft erstaunt über die scheinbaren Privilegien und den Wohlstand der Einwohner. Manchmal auch neidisch. Und doch warnt der Anthropologe davor, das Leben in Nyae Nyae zu idealisieren. »Es mag zwar stimmen, dass die Einwohner Rechte, Unterstützung und Möglichkeiten haben, die anderen San-Gemeinschaften fehlen«, sagt Hitchcock. »Aber in all diesen Bereichen bleiben sie weit hinter dem zurück, was allen Namibiern verfassungsgemäß zusteht.«

Schon lange diskutierten Organisationen darüber, wie die Juǀʼhoansi heute leben wollen: als Jäger und Sammler wie ihre Vorfahren? Als Viehhalter? In festen Arbeitsverhältnissen? »Dabei haben die Gemeinschaften schon mehrfach deutlich gemacht, dass sie mehrere Strategien miteinander kombinieren möchten«, sagt Hitchcock.

Freddy Nǂamce arbeitet seit einigen Jahren als Tourguide für ein Safari Camp, das direkt neben seinem Heimatdorf Nhoma Abenteurer aus aller Welt beherbergt. Beinahe täglich führt er sie in den dichten Busch und zeigt ihnen, wie die Juǀʼhoansi jahrtausendelang gelebt haben. Er erklärt, wie man Spuren liest und Wildtiere mit Giftpfeilen, Bogen oder Speeren erlegt. Wo man wilden Honig findet, welche Pflanzen Heilkräfte haben und welche giftig sind. »Wir möchten unseren Gästen unsere Kultur, unsere Würde und unsere Traditionen nahebringen«, sagt er. Die Arbeit ist für ihn mehr als bloßer Broterwerb. Nǂamce kämpft dafür, dass das uralte Wissen der Juǀʼhoansi erhalten bleibt. »Wenn wir den Gästen unsere Traditionen zeigen, lernen auch unsere Kinder, wie wir überlebt haben«, sagt er.

Gemeinschaftsgarten | Inzwischen hat jedes der rund 40 Dörfer einen Wasseranschluss. Für einen einigermaßen ertragreichen Anbau ist das in der knochentrockenen Kalahari eine Notwendigkeit.

Doch auch in Nyae Nyae hat sich der Alltag gewandelt. Traditionell lebten die San als Halbnomaden. Auf der Suche nach Wild, Wasser und Pflanzen zogen sie regelmäßig weiter. Das Ahnenland der Juǀʼhoansi war zu Beginn des 20. Jahrhunderts schätzungsweise beinahe zehnmal so groß wie das heutige Nyae Nyae. So konnten die Jäger und Sammler die natürlichen Ressourcen bestmöglich für sich nutzen, im Einklang mit der jeweiligen Saison. Zugleich schonten sie die Umwelt und Tierbestände. Heute jedoch sind fast alle Juǀʼhoansi in Nyae Nyae an eines der rund 40 Dörfer innerhalb des Schutzgebiets gebunden.

Jäger, Sammler, Gemüsegärtner

Eines davon ist N!omdi. Bis zur Grenze zum Nachbarland Botswana sind es von hier nur wenige Kilometer. Etwa 30 Menschen leben in dem Dörfchen, ihre kreisrunden Lehmhäuschen mit Strohdach verteilen sich großzügig auf dem sandigen Boden. Es ist ein stiller Donnerstagmorgen. Ein paar Familien haben sich um ein Feuer herum versammelt. In einem Kessel köchelt Wasser. »Manchmal gehe ich noch jagen oder sammle Früchte im Busch, zum Beispiel von Affenbrotbäumen«, sagt Kaqece Sao, 32 Jahre alt. Er trägt eine Baseballkappe auf dem Kopf und seine jüngste Tochter, zwei Jahre alt, auf dem Arm. Mit schnellen Bewegungen zeigt er, wie sie die Baobab-Samen erst in Wasser einweichen und dann auspressen. »Sie schmecken nach nichts, machen aber satt«, sagt Sao.

Der Ertrag aus der Wildnis und dem Garten reicht nur selten. Zumal die Elefanten die Beete immer wieder zerstören

Dann öffnet er das Tor zum umzäunten Gemeinschaftsgarten von N!omdi. Hier wachsen Papayas und Guaven, Spinat und Kräuter; ein Beet reiht sich an das nächste. Sao bleibt neben einem Moringa-Baum stehen. »Wir nehmen die Blätter und kochen sie für zwei, drei Minuten. Das ist gut gegen Erkältungen.« Dennoch reicht der Ertrag aus der Wildnis und dem sorgsam angelegten Garten nur selten, um sie alle zu ernähren. Zumal die Elefanten die Beete immer wieder zerstören. »Manchmal müssen wir in Tsumkwe einkaufen gehen«, sagt Sao.

Nur noch wenige Einwohner von Nyae Nyae leben vom Jagen und Sammeln allein. Der Großteil kombiniert die traditionelle Ernährungsweise mit neuen Einkommensquellen. Wie Nǂamce arbeiten einige als Tourguide oder als Wildhüter für bedrohte Arten, so wie Sao. Nebenbei hält der junge Mann Rinder und Pferde. Andere Einwohner von Nyae Nyae verkaufen traditionellen Schmuck an Touristen oder ernten Heilpflanzen wie die Teufelskralle. Die Nachfrage ist groß, auch in Deutschland: Zu Kapseln, Pillen oder Salben verarbeitet soll sie unter anderem Arthritis oder Gelenkschmerzen lindern. Wieder andere arbeiten für die ansässigen Hilfs- oder Glaubensorganisationen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind von Einnahmen aus dem Außen angewiesen. Auf Jobs, auf Perspektiven. »Die Beschäftigungslage in Nyae Nyae ist besser als in anderen San-Gemeinschaften«, sagt der Anthropologe Hitchcock. »Aber es gibt immer noch deutlich weniger Arbeitsplätze als Menschen, die sie brauchen.«

Nahrung aus der Wildnis | Frauen im Dorf sortieren Beeren vom Brandybusch. Ursprünglich lebten die San in fruchtbareren Gegenden, doch auch die karge Natur im Nordosten Namibias wirft Essbares ab.

Sao lässt die grünen Beete nun hinter sich und läuft zu seiner Hütte. Seine Tochter ist inzwischen in seinen Armen eingeschlafen. »Das Leben in Nyae Nyae ist gut«, sagt er. Und doch macht er sich Sorgen um die Zukunft. Saos älteste Tochter hat vor einigen Monaten ein Kind bekommen, sie ist aktuell zu Hause. Ohne Arbeit, ohne Abschluss. Seine anderen Kinder – fünf sind es insgesamt – schickt er in Tsumkwe zur Schule. In der Hoffnung, dass sie eines Tages gute Perspektiven haben werden. Jeden Montag laufen sie kilometerweit bis zur nächsten Kreuzung und hoffen, dass ein Auto vorbeifährt und sie mitnehmen kann. Sonst müssen sie den gesamten Weg laufen. Unter der Woche schlafen sie im Schülerheim, am Wochenende kehren sie zurück in ihr Heimatdorf.

Der junge Mann bleibt vor seiner Hütte stehen, aus Ästen und Steinen hat er sie gebaut. Im Inneren haben sie Decken ausgebreitet. Zu siebt schläft die Familie auf dem Boden. Vor der Hütte liegt ein Hund, daneben spielen ein paar Kinder mit Spielzeugautos aus Draht. »Hier sind meine Familie und unsere Gemeinschaft«, sagt Sao. »Das ist der Ort, an dem ich sein will.«

Rinderzüchter dringen ins Schutzgebiet vor

Die Einwohner von Nyae Nyae leben zwar in einem Schutzgebiet. Dennoch müssen sie ihre Rechte immer wieder verteidigen. »Die größte Bedrohung für uns sind die Neuankömmlinge«, sagt ǀUi Kunta, der ebenfalls als Tourguide in Nyae Nyae arbeitet. »Mit ihren Nutztieren dringen sie bis nach Tsumkwe vor und fordern ihre eigene Farmen.« Meist verfügen die Viehhalter aus anderen Bevölkerungsgruppen über mehr finanzielle Mittel und politischen Einfluss als die Juǀʼhoansi, erklärt der Anthropologe Hitchcock. 2009 etwa kam es zur »Nyae-Nyae-Invasion«, bei der sich Farmer mit 1200 Rindern im Schutzgebiet niederließen. Zwar beschlagnahmte die namibische Regierung das Vieh kurz darauf. Die Zahl der Nutztiere, die illegal in Nyae Nyae gehalten werden, hat in den vergangenen Jahren dennoch stetig zugenommen.

Wenn Hitchcock die Dorfgemeinschaften fragt, was sie sich für die Zukunft wünschen, sagen viele: Sie hoffen, dass sie ihr kulturelles Erbe schützen und an ihre Kinder weitergeben können. Auf ihrer Wunschliste stehen aber auch: Computer, Handys, Autos, moderne Kleidung, Wasserhähne, Zugang zu Medikamenten gegen Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Aids. In einem seiner Artikel schreibt der Anthropologe, dass die Juǀʼhoansi sich bewusst seien, welche Grenzen das Konzept der »Indigenität« mit sich bringt: Es zwingt sie in das enge Korsett der Jäger und Sammler und lässt keinen Raum für das Recht, sich neu zu erfinden. »Die San-Gruppen betonen, dass sie nicht nur Teil der Natur sind, sondern auch zur Gesellschaft gehören«, sagt Hitchcock. »Auch sie wollen von den Vorzügen des Fortschritts profitieren, etwa dem medizinischen oder technologischen.«

Auch der Tourguide Nǂamce sucht nach einem Mittelweg zwischen den Traditionen der Ahnen und einer Zukunft mit Bildung, Arbeit, Geld und Gesundheitsversorgung für sich und seine Kinder. Kann das gelingen? Nǂamce hält kurz inne. »Ich glaube, dass es heutzutage ein bisschen so ist, als hätte die Technologie unser Wissen verdrängt«, sagt er dann. »Wenn die Älteren sterben, stirbt ein Teil unserer Kultur mit ihnen. Deshalb müssen wir den Jungen immer wieder sagen, wie wichtig es ist, dass sie unsere Traditionen stärken.«

Das Lagerfeuer ist inzwischen ganz ausgegangen. Nǂamce muss ohnehin weiter. Heute wird eine neue Reisegruppe kommen, eine Buschführung steht auf dem Programm. Er mag den Austausch mit den Touristen. Dass sie das Wissen seiner Vorfahren vielleicht in die Ecken der Welt mitnehmen werden wie ein kostbares Souvenir. »Ich lerne von dir, du lernst von mir, gemeinsam bringen wir etwas zum Wachsen«, sagt Nǂamce und lächelt. »Das gefällt mir.«

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