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Dyskalkulie: "Rechenschwäche gibt es nicht"

Wenn Kinder mit Mathematik auf Kriegsfuß stehen, attestieren ihnen Experten häufig eine so genannte Rechenschwäche. Doch dieser Begriff lädt die Schuld zu Unrecht bei den Betroffenen selbst ab, meint der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer von der Universität Paderborn. Jedes Kind könne rechnen lernen – mit den richtigen Methoden.
Rechenschieber

Herr Professor Meyerhöfer, immer mehr Kinder und Jugendliche haben Probleme in der Schule. Warum leiden rund sieben Prozent von ihnen an einer Rechenschwäche?

Wolfram Meyerhöfer | Wolfram Meyerhöfer wurde 1970 in Woldegk (Vorpommern) geboren. Er studierte Mathematik und Physik an der Universität Potsdam, wo er auch 2004 promovierte. Inzwischen ist er Pro­fessor für Mathema­tik­didaktik an der Univer­sität Paderborn. Meyerhöfer ist Mitglied in den Beiräten des Deutschen Philologenverbandes, der Gesellschaft Bildung und Wissen sowie der Stiftung Bildung.

Wolfram Meyerhöfer: Wir wissen nicht, ob immer mehr Schüler Probleme haben. Kinder, die nicht lesen oder rechnen konnten, wurden früher oft ignoriert. Mich interessiert übrigens auch wenig, ob es früher besser war. Ich will nämlich, dass hier und jetzt jedes Kind rechnen lernt.

Sieben Prozent lernen es aktuell aber nicht.

Das wird behauptet. Ich würde erwidern: Diese Zahl kommt nur durch die Form der Testkonstruktion zu Stande. Man bastelt diese Tests so, dass die Resultate einer Standardnormalverteilung folgen. Dann legt man willkürlich fest, ab welcher Abweichung vom Mittelwert man dem Kind eine Rechenschwäche attestiert. Damit ist aber bereits vor der Untersuchung bestimmt, wie viel Prozent der Kinder hinterher als »rechenschwach« einsortiert werden.

Immerhin ein Problem mit Krankheitswert, meinen Sie nicht?

Menschen sind verschieden. Doch in unserer Kultur hat sich die seltsame Tendenz durchgesetzt, Abweichungen als Krankheit anzusehen. Ich verstehe das bei ADHS, da hat die Pharmaindustrie zu einem vorhandenen Wirkstoff eine passende Krankheit erfunden. Man kann Menschen dann einreden, solche Konstrukte wären wirklich existent.

Was verstehen Sie unter "Konstrukten"?

Nehmen wir das Rechnen: Es gibt ein Phänomen – nämlich Kinder, die nicht gut rechnen lernen. Nun kann man sich überlegen, warum das so ist. Eine denkbare Annahme wäre, dass etwas in ihrem Kopf nicht funktioniert. Man untersucht also, was das ist, das da nicht funktioniert. Und alles, was man an diesen Kindern entdeckt, wird in die Grundannahme eingeordnet – so entsteht ein theoretisches Konstrukt namens Rechenschwäche.

Kurz erklärt

Unter Rechenschwäche oder Dyskalkulie verstehen Experten gemeinhin ein mangelndes mathematisches Verständnis im Bereich der Grundrechenarten bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen. Im medizinischen Diagnoseklassifikationssys­tem ICD-10 findet sich unter den Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten der Begriff der Rechenstörung – eine "Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist". Allerdings untersuchen Mediziner in der Praxis die Qualität der Beschulung nicht. Eine Beeinträchtigung der Rechenfähigkeiten infolge von Hirnschäden oder -verletzungen wird in Abgrenzung dazu häufig als Akalkulie bezeichnet.

Es gibt also keine inhaltliche Definition für Rechenschwäche?

Ich war an der Entwicklung des Jenaer Rechentests beteiligt. Dabei haben wir uns völlig von der statistischen Religion verabschiedet und nur darauf geschaut, was das Kind verstanden hat und wie es Zahlen und Rechenoperationen denkt. Ich spreche dann nicht von Rechenschwäche, sondern von "besonderen Schwierigkeiten im Rechnen", kurz bSR. Die kann man inhaltlich gut bestimmen. Man landet so bei einem anderen Konstrukt mit einer völlig anderen Sicht auf Rechenprobleme, auf die Kinder und auch auf den Unterricht.

Worin bestehen diese "besonderen Schwierigkeiten"?

Die Kinder kommen zur Schule und können meist zählend rechnen. Die Aufgabe des Mathematikunterrichts der ersten Klasse besteht darin, sie von ihren zählenden zu nicht zählenden Strategien zu begleiten. Wenn die Schule hier versagt, kommt ein Kind im Zahlenraum jenseits der 20 nicht mehr mit. Der Berg des Nichtkönnens wird dann schnell größer, und der Schüler ist ab der dritten Klasse raus aus dem Spiel.

Haben Sie ein Beispiel dafür parat?

6 + 7 sollte man nicht zählend rechnen müssen. Die Kinder wissen früh, dass 6 + 6 = 12 ist. Man kann schnell ableiten, dass dann 6 + 7 einer mehr ist. Dazu muss man aber über Zahlen und ihre Beziehungen zueinander nachgedacht haben. Oder: Man mag 8 + 5 zählend rechnen können, aber um 18 + 25 zu rechnen, sollte man sinnvoll mit den Zehnern agieren. Dazu muss ich wissen, dass 25 sich aus 20 und 5 zusammensetzt und 18 aus 10 und 8 und wie ich das dann rechnerisch geschickt nutze.

Passiert das in der Schule nicht?

Es passiert viel zu wenig. Stattdessen werden Rechentechniken eingeübt. Viele Lehrer behaupten, dass schlechte Schüler erst einmal Techniken üben müssten und dass nur die guten Schüler verstehen könnten, warum die Rechenverfahren funktionieren. Es ist aber genau umgekehrt: Die schwachen Schüler können nur rechnen lernen, wenn sie verstehen, warum ein Verfahren funktioniert. Für ihre Mitschüler ist dieses Wissen wiederum ein Bildungssahnehäubchen, das sie aus der beklemmenden Langeweile des Mathematikunterrichts befreien kann.

Auf Kriegsfuß mit dem Einmaleins | Wenn rechenschwache Kinder die Beziehungen der Zahlen unterein­ander nicht verstehen, führen selbst einfache Additionsaufgaben zu Frustration.

Wie meinen Sie das?

Im Mathematikunterricht, wie es ihn aktuell gibt, langweilen sich üblicherweise alle. Die guten Schüler langweilen sich, weil sie etwas üben müssen, was sie bereits können, und weil die interessanten Fragen konsequent umschifft werden. Und die schlechten Schüler langweilen sich, weil sie systematisch "rausgekantet" werden. Rechentechniken ohne Verständnis abarbeiten kann man nur bis zu einer bestimmten Komplexitätsstufe. Da die Verfahren im Verlauf der Schulzeit immer komplexer werden, bröckeln dann peu à peu immer mehr Schüler weg.

Was sollen denn interessante Fragen im Matheunterricht sein?

Wer hat verboten, durch 0 zu teilen – und warum? Wieso ist 1 + 1 =  2? Warum führt die schriftliche Subtraktion immer zum richtigen Resultat? Welche Frage beantwortet der Begriff des Sinus? Warum kann Mathematik nie die Wirklichkeit abbilden?

Und Sie meinen, dass alle Schüler so etwas verstehen können?

Natürlich. Und zwar mit jedem Jahr ein wenig besser. Auch ich als Erwachsener verstehe diese Dinge jedes Mal noch ein wenig besser, wenn ich wieder darüber nachdenke. Vom ersten Schultag an geht es daher auch um eine Geisteshaltung. Die Fragen müssen immer lauten: Warum macht man das so? Wie könnte man es anders machen? Warum nennt man das so? Wie könnte man es anders nennen? Und besonders wichtig: Hast du noch einen interessanten Fehler anzubieten?

So etwas wie eine "Mathebegabung" gibt es also für Sie nicht?

Der Schulstoff ist prinzipiell für jeden versteh- und erlernbar. Das mathematische Spiel selbst ist aber natürlich nur endlich zugänglich und interessant. Und dieses Spiel heißt: Abstrahiere immer weiter. Abstrahiere von Zahlen zu Variablen, von Variablen zu Funktionen, und so weiter. Ich selbst habe dieses Spiel ein paar Jahre länger mitgespielt als Sie, dafür kann man mich mathematisch "begabter" nennen. Diese Zuschreibung bringt uns aber nicht weiter. Ich nehme an, sie dient vorrangig der Selbstbefriedigung auf der einen und der Selbstherabwürdigung auf der anderen Seite.

Wenn aber jedes Kind rechnen lernen kann, warum lernen es dann manche nicht?

Kinder sind sehr unterschiedlich. Als Gesellschaft zwingen wir sie aber alle dazu, gleichermaßen die Schule zu besuchen. Damit unterliegt die Schule eigentlich der Verpflichtung, den Stoff so zu lehren, dass alle diese unterschiedlichen Kinder ihn sich auch aneignen können. Diese Verpflichtung erkennen viele Lehrer und die Bildungsadministrationen jedoch nicht. Man tut so, als ob die Schüler eine "Bringpflicht" hätten, so in die Schule zu kommen, wie die Pädagogen sie gern hätten. Wer am Ende nicht passt, wird als unbegabt abgeschrieben.

Den Kindern wird also das Versagen von Gesellschaft und Schule als eigenes Stigma attestiert?

Genau das ist der Mechanismus. Seit einigen Jahren mischt sich nun auch noch die Medizin ein und erfindet Krankheiten wie Rechenschwäche, Legasthenie oder ADHS, die sogar ganz offen unterstellen, dass das Problem im Kind liegt. Das hilft Lehrern, Schulbehörden und zum Teil auch den Eltern, sich ihrem eigenen Versagen in Bezug auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder nicht stellen zu müssen.

Sind auch Angst und Druck in den Bildungseinrichtungen ein Problem?

Ich bin aus verschiedenen Gründen ein Freund der Schulnoten, aber im Bereich der basalen Kulturtechniken haben sie nichts zu suchen. Wenn man Schulnoten dem Schüler und nicht dem Lehrer gibt, dann muss dieser auch eine faire Chance haben, die geforderte Leistung zu erbringen. Dazu bedarf es aber erst einmal einer von allen Schülern geteilten Basis, und das sind Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten. Die Schulnote hat jedoch den Zweck, eine Rangordnung herzustellen. Im Lehrer wird dadurch die Idee angelegt, dass es völlig in Ordnung ist, wenn manche Schüler eben schlechte Noten erhalten. Für die basalen Kulturtechniken darf das aber nicht gelten!

"Die Medizin erfindet Krankheiten wie Rechenschwäche, Legasthenie oder ADHS, die ganz offen unterstellen, dass das Pro­blem im Kind liegt. Das hilft Lehrern, Schulbehörden und Eltern, sich ihrem eigenen Versagen nicht stellen zu müssen"

Muss sich auch die Lehrerausbildung entsprechend verändern?

Ja, natürlich! Wir Professoren denken jedoch sehr unterschiedlich darüber, in welche Richtung sie sich verändern muss. Einerseits müssen wir eine Kultur der kollegialen Kritik entwickeln, damit der Einzelne sich in seiner Professionalität als Bildender und Ausbildender von Lehrern weiterentwickelt. Andererseits ist die Lehrerausbildung falsch strukturiert. Bestimmte Ideen kann ich bei den Studierenden gar nicht verankern, weil sie selbst noch nicht genug unterrichtet haben. Meiner Meinung nach sollten wir das Studium verkürzen und dafür die Lehrer nach fünf Berufsjahren noch einmal ein Jahr über ihr Tun reflektieren lassen.

Sie wirken zurzeit an einem Forschungsprojekt zum Analphabetismus mit und untersuchen den mathematischen Analphabetismus.

Ja, das Bundesministerium für Bildung und Forschung betreibt eine "Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener". Die Volkshochschulen sind die zentralen Träger der Alphabetisierung von Erwachsenen. Sie haben nun bemerkt, dass viele Analphabeten auch nicht richtig rechnen können. Deshalb hat der Deutsche Volkshochschulverband mich gebeten, ein Curriculum für mathematische Grundbildung zu schreiben. Die Projektleiter dort sprechen nicht so gern von "mathematischen Analphabeten", weil das so reißerisch klingt. Aber mir ist bislang kein besserer Name eingefallen. Der Begriff mathematische Grundbildung ist in der Didaktik jedenfalls bereits anderweitig belegt.

Sind diese mathematischen Analphabeten sozusagen die erwachsen gewordenen Rechenschwachen?

Ja, aus Schülern, die nicht rechnen können, werden Erwachsene, die nicht rechnen können. Das sieht dann – wie beim Analphabetismus auch – je nach Einzelfall sehr verschieden aus. Die Betreffenden werden öfter betrogen, weil sie nicht merken, dass das Wechselgeld nicht stimmen kann. Oder sie können nicht einschätzen, welche Produkte sie sich leisten können. Wer sogar die Uhr oder einen Busfahrplan nicht gut lesen kann, der ist von der heutigen Lebens- und Arbeitspraxis weit gehend ausgeschlossen.

Kann man diesen Analphabeten helfen?

Wir konzipieren gerade einen nachholenden Mathematikunterricht, der kein Mathematikunterricht ist. Die Betroffenen sind nach Jahren der Mathepein nämlich traumatisiert genug. Gleichwohl müssen wir ein Zahl- und Operationsverständnis aufbauen. Das ist dann viel schwerer als bei Kindern, weil neben dem Trauma auch noch die Sedimente des Halb- und Unverstandenen, der Fehlstrategien und schrägen Vorstellungen zu bearbeiten sind. Wir haben im Grunde kaum Ahnung, ob und wie so etwas mit Erwachsenen funktioniert. Es gibt lediglich ein paar Erfahrungen von Rechenschwächetherapeuten, die mit Erwachsenen gearbeitet haben – und einige wenige Volkshochschulen, die solche Kurse bereits etabliert haben. Aber wir kommen voran. Grundsätzlich gilt: Wer erwachsene Matheanalphabeten verhindern will, muss Schule und Unterricht verändern. Und eben dies sollte Teil der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema sein.

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  • Quellen

Literaturtipp:

Gaidoschik, M.: Rechenschwäche vorbeugen. 1. Schuljahr: Vom Zählen zum Rechnen: Das Handbuch für LehrerInnen und Eltern. G&G Verlag, Wien 2007

Dieser praktische Leitfaden erklärt anhand verschiedener Bei­spiele, wie Eltern und Lehrer ihre Kinder bei der Ent­­wicklung des Zahlenbegriffs unterstützen können.

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