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Römisches Reich: Als Passau in den Abgrund blickte

Als das Ende des Römischen Reichs nahte, brachen Chaos und Gewalt über die Bevölkerung herein. Was damals vor mehr als 1500 Jahren am Donaulimes geschah, beschrieb ein Mönch in einer Heiligengeschichte. Zwischen den Zeilen.
Schaubild einer Gotenschlacht, um 1890.
Das Bild aus der Zeit um 1890 zeigt ein Ereignis nach dem Ende Westroms: Die Oströmer führten im 6. Jahrhundert Schlachten gegen die Ostgoten und eroberten so Italien.

Irgendwann um das Jahr 476 wurde aus Ungeduld erst Sorge und aus Sorge schließlich Angst. Schon seit Monaten hatten die römischen Soldaten der Garnison von Batavis keinen Sold mehr erhalten. Doch ohne Geld blieb ihnen keine andere Wahl, als sich eine neue Arbeit zu suchen. Die Mauern der Stadt, die heute Passau heißt, wären dann unbewacht gewesen, die Bürger Batavis ungeschützt. Und nicht nur sie – auch die Frauen und Kinder der Soldaten.

Dabei war es gerade in diesem Moment geboten, die Siedlung zu sichern. Hier an der Donau endete das Römische Reich. Auf der anderen Seite des Flusses kommandierten Kleinfürsten ihre Truppen und warteten nur darauf, dass sich ihnen eine Chance zum Überfall bot. Um zu stehlen, zu vergewaltigen und zu morden. Die Bewohner von Batavis waren verzweifelt. Und so überlegten die Soldaten, was sie tun könnten. Sie entschieden sich für einen waghalsigen Plan: Eine Gruppe von ihnen sollte über die Alpen ziehen, um beim Kaiser in Ravenna den Sold einzutreiben. Angesichts der Entfernung war klar, dass es eine gefährliche Mission mit unsicherem Ausgang werden würde.

Von dem dramatischen Versuch der Garnisonssoldaten, ihre Stadt zu retten, berichtet der Mönch Eugippius. Um das Jahr 510 schrieb er die Lebensgeschichte eines Mannes auf: Severin von Noricum. Rund 15 Jahre lang, zwischen 467 und seinem Tod im Jahr 482, hielt sich der später heiliggesprochene Eremit Severin in der Gegend um Batavis auf, wie es der Historiker Friedrich Lotter (1924–2014) in vielen Beiträgen darlegte. Batavis war Teil des gewaltigen »Donaulimes«, dessen westliche Überreste seit 2021 zum UNESCO-Welterbe gehören. Zahlreiche Kastelle und Garnisonen zwischen Regensburg und dem Flussdelta im heutigen Rumänien sollten die Grenze des Römischen Reichs sichern.

Was eine Heiligenbiografie über den Alltag der Menschen verrät

Eugippius’ Lebensbeschreibung, die »Commemoratorium vitae sancti Severini« oder »Vita sancti Severini«, ist ein aufschlussreiches historisches Dokument. Darin beschreibt der Mönch zwar vor allem das gottgefällige Wirken Severins, aber dazwischen blitzen immer wieder alltägliche Ereignisse auf – wie das Ausbleiben des Solds. Eugippius schildert also zwischen den Zeilen das Leben der Bevölkerung. »Für diese Gruppe fehlen uns normalerweise die Quellen«, sagt Henning Börm, Althistoriker an der Universität Rostock. Noch dazu deckt die »Vita« einen entscheidenden Zeitraum ab: Im Jahr 476, während Severin an der Donau weilte und sich die Delegation auf den Weg nach Rom machte, wurde der letzte weströmische Kaiser Romulus Augustus abgesetzt.

Eugippius’ Werk verrät demnach, wie es der Bevölkerung erging, als das Weströmische Reich endete – eine der folgenreichsten Zeitenwenden Europas.

Zu Lebzeiten Severins waren Batavis und die Ländereien südlich der Donau bereits seit Jahrhunderten Teil des Römischen Reichs. Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) hatte um 15 v. Chr. das Gebiet der späteren Provinzen Raetia und Noricum ins Imperium eingegliedert. Beschauliche Landstädte prägten die Region. Bauern bewirtschafteten die fruchtbaren Flusstäler von Donau, Inn und Ilz. Aus den Regionen jenseits der Alpen importierten die Bewohner Lebensmittel wie Olivenöl, aber auch neue Ideen und Religionen wie das Christentum gelangten von dort in die nördlichen Provinzen. Im Lauf der Zeit setzte sich zudem das Lateinische als neue Muttersprache durch. Bis etwa zum Jahr 400 schützten rund 10 000 Soldaten die Gegend. Infanterie, Kavallerie und berittene Bogenschützen zählten ebenso dazu wie Einheiten der Flusswache.

Sankt Severin | Das Altarbild, das sich heute im Museo di Capodimonte in Neapel befindet, soll den heiligen Severin darstellen. Es entstand um 1470.

In den folgenden Jahren geriet das Reich jedoch in einen Strudel aus Konflikten und Bürgerkriegen, in deren Verlauf selbst die Stadt Rom dreimal geplündert wurde. Kaiser und Feldherren zogen daraufhin einen Teil ihrer Legionen von den Grenzen ab. »Die Truppen mussten im Inneren des Reichs Kriege führen«, erklärt Henning Börm. An der Donau verschlechterte sich zusehends die Sicherheitslage. Als Erste nutzten Scharen junger Männer von jenseits der Grenze die Situation, um abgelegene Landhäuser zu überfallen. Bald erschienen immer größere Verbände, die ganze Landstriche plünderten, weil ihnen Warlords reiche Beute versprochen hatten. »Die offenen Siedlungen an der Grenze wurden verkleinert oder aufgegeben, die Menschen zogen in befestigte Kastelle«, beschreibt Thomas Maurer, Archäologe und Leiter des Römermuseums Kastell Boiotro in Passau, die Entwicklung im 5. Jahrhundert.

Der starke Wille der Provinzrömer

Mit einer Auseinandersetzung zwischen römischen Bürgern und einer Kriegergruppe setzt auch Eugippius’ »Vita« unvermittelt ein. Die Episode zeigt, dass die römischen Provinzbewohner keineswegs bereit waren, sich tatenlos ihrem Schicksal zu ergeben. »Der Willen der Noriker, als Römer weiterzumachen, ist eines der Leitmotive der ›Vita‹«, resümiert der englische Althistoriker Peter Heather, der am King’s College in London lehrt, in seinem Buch »Der Untergang des römischen Weltreichs«. Viele Jahre gelang ihnen das. Von den Kastellen aus bestellten die Bauern weiterhin die Felder. Und unsicheren Straßen zum Trotz hielten die Menschen den Handel mit der Apenninenhalbinsel aufrecht. Kaufleute konnten sogar Olivenöl beschaffen. Eugippius schildert, wie knapp das einst übliche Lebensmittel geworden war: »Diese Ware konnten Kaufleute in diesem Gebiet nur unter größten Schwierigkeiten anliefern«, schreibt der Severin-Biograf. Bei der Vergabe herrschte großer Andrang. »So strömte (...) eine ziemlich große Schar Bedürftiger zusammen, und da dieses flüssige Nahrungsmittel ebendort ziemlich kostbar war, nahmen das Gedränge und die Anzahl der Bittsteller immer mehr zu.«

Zugleich brach die öffentliche Ordnung Stück für Stück zusammen. Eugippius schildert, wie Krieger römische Bürger und ihr Vieh vor den Mauern der Stadt Favianis entführten, des heutigen Mautern in Österreich. Der Stadtkommandant Mamertinus ist jedoch unsicher, schreibt der Mönch, ob er die Verfolgung der Räuberbande anordnen soll. Im Gespräch mit Severin gibt er zu bedenken, dass er nur über »einige wenige Soldaten« verfüge. Zudem fehle es an Waffen. Severin entgegnet dem Kommandanten, er solle auf Gottes Hilfe vertrauen. Dann würden die Soldaten den Feinden die Waffen abnehmen können – was der »Vita« zufolge den Männern sogar gelingt. Eine Zeit lang konnten die Bewohner offenbar auch Bündnisse mit lokalen Anführern schließen und so etwas Ruhe ins Chaos bringen.

Doch letztlich kämpften die Provinzbewohner auf verlorenem Posten. Gewalt, Hungersnöte und die Angst, versklavt zu werden, peinigten die Menschen, wie Eugippius schreibt. Auch die Delegation aus Batavis, die beim Kaiser den fehlenden Sold einfordern sollte, ist nicht erfolgreich. Weil die Männer selbst nach langer Zeit nicht zurückgekehrt waren, brach ein Suchtrupp auf. Der machte eine grausige Entdeckung: An einem Flussufer lagen die angespülten Leichen der Soldaten. Offenbar waren sie bei einem Überfall getötet worden.

Die Mission war gescheitert. Bürgermilizen mussten nun die Rolle der Garnisonssoldaten übernehmen und die Stadtmauern bewachen. Spähtrupps warnten vor drohenden Angriffen und riefen so die Bauern zurück in den Schutz der Kastelle.

Nicht kämpfen, sondern beten und fasten, predigte Severin

Doch bald ließen sich die Orte nicht mehr verteidigen – zur Verzweiflung ihrer Einwohner. Die Überlebenden flüchteten in die noch wenigen freien Städte, deren Bürger ihnen Kleidung und Nahrung spendeten. Dort predigte auch Severin zu den Flüchtlingen. »Diese Menschen«, schreibt Eugippius, »belehrte er ununterbrochen durch Ermahnungen, sie sollten nicht auf ihre eigene Kraft vertrauen, sondern beharrlich beten, fasten und Almosen geben und sich so lieber mit geistlichen Waffen schützen«.

Plünderung Roms | Der russische Maler Karl Pawlowitsch Brjullow (1799–1852) stellte um 1835 die Plünderung Roms durch die Vandalen dar. Der Überfall ereignete sich im Jahr 455. In Rom geschah zuvor und danach Ähnliches, als 410 die Westgoten und 476 die Ostgoten einfielen.

Wie diese Passage belegt, wollte Eugippius die Umbruchszeit nicht als Faktengeschichte dokumentieren, sondern das Leben und die Taten eines Heiligen beschreiben. Eugippius’ Werk besteht deshalb aus einer Reihe loser Wundergeschichten. Severin, so schreibt der Mönch, habe Kranke geheilt und das knappe Olivenöl wundersam vermehrt. Vor allem aber habe Severin über die Gabe der Vorhersage verfügt und so die Bewohner vieler Orte vor drohenden Überfällen gewarnt. Ereignisse wie der Auszug der Soldaten von Batavis bildeten nur das Hintergrundgeschehen für Severins Wirken als Heiliger.

Die Wundererzählungen sind heute wenig glaubhaft. Doch warum soll es dann der erzählerische Rahmen sein – nur weil die Geschehnisse plausibel klingen? Eugippius hatte durchaus Motive, die Zeit als möglichst düster zu schildern, sagt Britta Kägler, Historikerin für bayerische Landesgeschichte an der Universität Passau. Denn im Dunkel der Katastrophe konnte seine Hauptfigur Severin umso heller strahlen.

Quellen wie die »Vita« des Eugippius müsse man daher in detektivischer Kleinstarbeit durchkämmen – um die Fakten von antiken Fake News zu trennen, erklärt Kägler. Dazu wenden Historiker verschiedene Kriterien an. So prüfen sie, wie viel Zeit zwischen den beschriebenen Ereignissen und dem Zeitpunkt der Niederschrift verstrichen war. Severin lebte von ungefähr 410 bis 482, Eugippius schrieb seine Biografie um 510. Theoretisch konnte er also noch Zeitzeugen befragt haben. Und sie hätten seinen Bericht wohl für unglaubwürdig gehalten, wären seine Beschreibungen zu sehr von der erlebten Realität abgewichen.

»Es gab keine Stunde null«Thomas Maurer, Archäologe, Römermuseum Kastell Boiotro in Passau

Anschließend, so Britta Kägler, müsse man sorgfältig zwischen den Zeilen lesen. Geschichtswissenschaftler interessiere weniger, ob Severin auf wundersame Weise Öl vermehren konnte, sondern dass Olivenöl zu jener Zeit ein begehrtes und weiterhin gehandeltes Gut war. Ebenso verrät die »Vita«, dass die Garnisonen von Batavis und Favianis nicht im Kampf geschlagen wurden, sondern sich auflösten, weil die Reichsregierung nicht mehr in der Lage war, sie zu besolden und mit Waffen zu versorgen.

Severin, der Moses von Noricum

Zuletzt untersuchen Historiker, ob andere Quellen die Informationen aus Eugippius’ Schrift bestätigen. Teilweise ist dem so: Andere antike Schriftsteller erwähnen beispielsweise die Kriegergruppen, mit denen sich die römischen Bewohner des Donaugebiets laut Eugippius herumschlagen mussten. Archäologen konnten zudem frühchristliche Kirchen, Wachtürme und Kastelle nachweisen, die Eugippius erwähnt.

Nicht alle Geschichten, die der Mönch erzählt, gelten indes als glaubwürdig. Etwa dass die gesamte römische Bevölkerung die verheerten Provinzen verlassen habe, könne kaum stimmen, erklären Archäologe Maurer und Althistoriker Börm. Vielmehr folge Eugippius’ Schilderung einem biblischen Vorbild – dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Eugippius stilisierte seinen Helden Severin zu einem neuen Moses. Dass die meisten Provinzbewohner wohl nicht fortgezogen waren, legen auch die vielen Ortsnamen entlang der Donau nahe, die lateinische Wurzeln haben, wie der Historiker Peter Heather erklärt. Das alte Batavis wurde zu Passau, Lentia zu Linz und die Garnisonsstadt Lauriacum zu Lorch, heute Stadtteil des österreichischen Enns. Solche Kontinuitäten seien aber unwahrscheinlich, wenn alle Bewohner ihre Heimat verlassen hätten.

Trotzdem hilft Eugippius’ Werk, das Ende des Weströmischen Reichs besser zu verstehen. Nicht ein plötzlicher Zusammenbruch, ausgelöst durch die Absetzung von Romulus, ließ das Reich untergehen. Vielmehr spricht die »Vita« dafür, dass sich das Ende über Jahrzehnte hinzog. »Es gab keine Stunde null«, sagt der Passauer Archäologe Thomas Maurer. Wandel statt plötzlicher Untergang also. Dennoch war das 5. Jahrhundert vielerorts eine Phase der Unsicherheit und des wirtschaftlichen Niedergangs, ergänzt Althistoriker Börm: »In so einer Zeit hätte man nicht leben wollen.« Die Bewohner Batavis hätten dem vermutlich nicht widersprochen.

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