Direkt zum Inhalt

Paläogenetik: Russlands Krieg legt Mumienforschung lahm

In Sibirien finden sich immer wieder eiszeitliche Tiermumien. Zudem liegt dort der wichtigste Denisovaner-Fundplatz. Doch der Überfall auf die Ukraine hat alle Forschung beendet.
Zwei russische Geologen transportieren ein zirka 28 000 Jahre altes Mammutbaby. Die Mumie fand sich im sibirischen Permafrost.
Zwei russische Geologen transportieren ein zirka 28 000 Jahre altes Mammutbaby. Die Mumie fand sich im sibirischen Permafrost.

Sibirien ist eine wahre Schatzkammer für Paläontologen. Aus diesem Grund kommt auch der Evolutionsgenetiker Love Dalén vom Naturhistorischen Reichsmuseum in Stockholm seit zehn Jahren immer wieder nach Russland. Zusammen mit seinem Team sucht er nach Überresten von Mammuts und anderen im Permafrostboden konservierten Tieren aus der Eiszeit. Die vergangenen zwei Jahre mussten die Forschenden allerdings auf Grund der Coronapandemie ihre Arbeiten einstellen. Dann Anfang 2022 war es endlich wieder soweit – Dalén und sein Team bereiteten sich auf ihre verschobene Forschungsexpedition nach Russland vor.

Doch im Februar endete auch dieses Vorhaben jäh. Russland war in die Ukraine einmarschiert. Seitdem hat sich »alles verändert«, sagt Dalén. Reisebeschränkungen und Sanktionen zwangen ihn, die Expedition abzusagen.

Daléns Situation ist kein Einzelfall. Der Krieg hat nicht nur das Leben von Millionen Menschen zerstört, sondern viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Kontakten nach Russland stecken in einer ungewissen Lage, was ihre Forschungen und ihre russischen Kollegen betrifft. Der Krieg hat auch die Paläontologie im Land zum Erliegen gebracht, die sonst regelmäßig mit Erfolgsmeldungen aufwartete. Sanktionen, aufgekündigte Kooperationen und unterbrochene Feldforschungen – so ziemlich alle Projekte zu Tiermumien und Menschfossilien aus Sibirien wurden gestoppt.

Wie sich der Krieg genau auf die paläontologischen Studien auswirken wird, ist noch unklar. Sicher ist aber, sagt Dalén: »Auf Grund dieses Kriegs werden wir weniger über die Vergangenheit herausfinden.«

Die berühmte Denisova-Höhle befindet sich in Russland

Einige der bedeutendsten archäologischen und paläontologischen Funde dieses Jahrhunderts wurden in Russland gemacht – etwa die Denisovaner: Winzige Fossilienfragmente der Frühmenschen fanden sich in einer sibirischen Höhle. Paläogenetiker haben die Menschenform 2010 über deren Erbgut identifiziert. In Sibirien wurden auch sonst zahlreiche Überreste aus der Altsteinzeit frei gelegt. Diese Phase dauerte ungefähr von vor etwa 2,5 Millionen Jahren bis vor 11 700 Jahren. Während jenes Abschnitts der Erdgeschichte wechselten Warm- und Kaltzeiten, Letztere heißen auch Eiszeiten.

Rund 90 Prozent aller weltweit bekannten Mammutfossilien stammen aus Jakutien, einer Region im Osten Sibiriens. Im dortigen Permafrost bleibt organisches Material besonders gut erhalten. Dalén und seine Kollegen sequenzierten DNA aus Zähnen von Mammuts, die mehr als eine Million Jahre alt sind. Es ist das älteste bekannte Genom, wie die Forschenden 2021 in »Nature« berichteten.

Viele Entdeckungen waren möglich, weil russische Forscher und Fachleute aus anderen Ländern seit Jahrzehnten im Austausch stehen. Doch der Krieg – und die Reaktion des Westens – haben diese Zusammenarbeit »nahezu unmöglich« gemacht, sagt Dalén. Viele westliche Länder und Universitäten haben nach dem Überfall ihre Beziehungen zu russischen Institutionen abgebrochen. Die Vereinigten Staaten kündigten im Juni an, dass sie ihre Forschungskontakte nach Russland verringern werden.

»Man kann nur hoffen, dass man selbst nie in die Situation kommt, sein Leben riskieren zu müssen, um seine Sammlung zu retten«Paläontologe, anonym

Dabei ist oft gar nicht untersagt, mit einzelnen Wissenschaftlern in Russland zusammenzuarbeiten. Dennoch hat die ungewisse Lage für ein Ende vieler Projekte gesorgt. Die Paläontologin Olga Potapowa vom Mammutfundplatz in Hot Springs in South Dakota wollte ihre Forschungen über Wollnashörner und Höhlenlöwen publizieren, an denen auch russische Wissenschaftler beteiligt waren. Nach dem Einmarsch in die Ukraine erhielt sie jedoch E-Mails von westlichen Kollegen, dass sie sich außer Stande sehen würden, mit Arbeitsgruppen in Russland weiter zusammenzuarbeiten. »Alles verzögert sich, und ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagt Potapowa.

Keine Zusammenarbeit aus moralischen Gründen

Der Krieg hat die Forschenden im Westen in eine Gewissenskrise gestürzt, die sich bereits mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 anbahnte. Auf der Halbinsel befinden sich wichtige Fundstätten der Neandertaler. Wer aus dem Ausland dort arbeiten will, muss Russland um Erlaubnis bitten.

Weil es Berichte über ukrainische Kollegen gibt, die sich in Luftschutzkellern verstecken, aus ihren Häusern fliehen und in einigen Fällen auch an der Front kämpfen, wollen viele westliche Paläontologen keine Anfragen an die russische Regierung stellen. »Es fühlt sich schmutzig an«, sagt ein Forscher, der anonym bleiben möchte, um seine Kollegen zu schützen. Einer davon sei in Kiew geblieben, um die archäologischen Sammlungen der Stadt zu bewahren. »Es ist furchtbar«, sagt er. »Man kann nur hoffen, dass man selbst nie in die Situation kommt, sein Leben riskieren zu müssen, um seine Sammlung zu retten.«

Auch vermeiden westliche Forscherinnen und Forscher den Kontakt zu ihren russischen Kollegen, weil sie den Einfluss des Kreml befürchten. Mehr als 8000 russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten haben dennoch einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie den Krieg verurteilen. Ihre Kollegen im Westen sind überzeugt davon, dass Forschende in Russland überwacht werden, ob einer etwaigen kriegsfeindlichen Haltung.

»Allein die Tatsache, dass eine E-Mail-Adresse aus den USA und eine andere aus Russland stammt, könnte Aufmerksamkeit erregen«, sagt ein Forscher, der zum Schutz seiner Kollegen in Russland anonym bleiben möchte. »Wir stehen an einem Abgrund – etwas könnte furchtbar schiefgehen, wenn wir nicht aufpassen.«

»Ich möchte ehrlich gesagt nicht in einem russischen Gefängnis landen«Paläontologe, anonym

Auch für russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist die Lage katastrophal. Einer der am stärksten betroffenen Bereiche ist die Erforschung alter DNA (aDNA), sagt Albert Protopopow, Paläontologe an der Akademie der Wissenschaften der Republik Sacha, auch bekannt als Jakutien. Denn die Expertise haben Labors in Nordamerika und Westeuropa. In den vergangenen Jahren überließen russische Forschende die Genanalysen oftmals den Kollegen im Ausland. Immerhin führte dies zur Entdeckung der Denisovaner. Beteiligt waren daran Paläogenetiker in Deutschland. Sie gewannen aDNA aus einem winzigen Stück Fingerknochen, das ihnen russische Archäologen überlassen hatten.

Ein gutes Jahrzehnt später ist klar: Fast alle bekannten Denisovaner-Fossilien kommen aus derselben Höhle in Sibirien. Aber während der Pandemie und nun während des Kriegs ist es schwierig, neue Proben zu erhalten. Die Forschung ist deshalb »ins Stocken geraten«, sagt Katerina Douka von der Universität Wien. »Die Entdeckungen aus der Denisova-Höhle haben die Welt in ihren Bann gezogen«, erklärt die Archäologin. »Zuzuschauen, wie das alles innerhalb weniger Monate in sich zusammenfällt, bricht mir das Herz.«

Zwar haben russische Wissenschaftler bereits vor Jahren begonnen, eigene Labore für Genanalysen auszubauen, aber auf Grund der Sanktionen können sie momentan nicht alle dafür benötigten Stoffe aus dem Ausland beziehen.

Wie die Wirtschaftslage die Forschung beeinträchtigt

Potapowa hat die wirtschaftliche Krise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt. Aus dieser Erfahrung heraus ist sie sich sicher, dass die derzeitige Lage die Finanzierung der russischen Paläontologie und anderer Forschungsarbeiten auf Jahre hinaus beeinträchtigen wird. »Für die Wissenschaft wird es verheerend sein«, sagt sie und fügt hinzu, dass ihre russischen Kollegen »Glück haben, wenn sie weiterhin ihr Gehalt bekommen«.

Laut Protopopow haben viele seiner russischen Kollegen ihre diesjährigen Kampagnen in Jakutien abgeblasen. Er hofft, dass die internationale Kooperation bald wieder fortgesetzt wird. Selbst während des Kalten Kriegs hätten Russland und der Westen enge wissenschaftliche Beziehungen gepflegt. »Die Zusammenarbeit ist für alle von Vorteil«, davon ist Protopopow überzeugt.

Aber selbst wenn die Reisebeschränkungen aufgehoben würden, hätten westliche Wissenschaftler Bedenken, nach Russland zu kommen. »Die Situation ist einfach zu unbeständig«, sagt ein Forscher, der nur bereit war, sich anonym zu äußern. »Ich möchte ehrlich gesagt nicht in einem russischen Gefängnis landen.«

Keine Erteilung von Lizenzen?

Die Sicherheitslage ist nicht die einzige Sorge. Um Zugang zu Fundplätzen zu erhalten, sind Genehmigungen erforderlich, und westliche Forscher fürchten, dass ihnen die Behörden keine Lizenzen ausstellen – schlicht der Propaganda wegen. Ebenso könnten Kollegen weltweit Forschungsunternehmungen in Russland als stillschweigende Billigung von Wladimir Putins Regime auffassen.

Love Dalén will die Sanktionen aussitzen. Seines Erachtens sind die Auswirkungen auf seine Forschung »mit dem Mist, den die Ukrainer gerade durchmachen, nicht zu vergleichen«. Es gäbe momentan auch wichtigere Dinge, als die Vergangenheit zu erforschen. »Diese Fossilien liegen dort schon seit hunderttausenden Jahren. Sie können noch ein bisschen warten«, bis es eine Lösung für die jetzige Situation gibt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.